Ali Baba und die 26 Nationalitäten
Grün und sandfarben wölbt sich die kleine Halbinsel vor. Das Meer - stahlblau mit silbernen Spiegeln — umschließt sie sichelförmig, schärft seine Schneide an den tausend und tausend kleinen runden Steinen, deren Klingeln und Klappern wie die Musik der Sensensteine vor der Mahd klingt. Wenn der Wind plötzlich aufspringt, verschwinden die Silberspiegel und der blaue Stahl wird nachtfarbener Onyx. Dafür versilbert er die Gräser, wie er sie vor sich zur Erde beugt.
Dann verschwindet der Wind irgendwo drinnen im Land. Das Gras wird wieder grün, das Wasser stahlblau und silbern. Sonne. Sonne.
Seegeruch in der Luft: Tang, Teer. Salzgeschmack auf den Lippen.
Eine Horde kleiner, nackter Jungen - eine Schule mit ihrem Lehrer; sie haben uns vorhin auf der Straße überholt - tollt im seichten Wasser. Spritzt. Kreischt. Ihre Sprache klingt fremd und doch wieder bekannt, als wollten die Worte im Vorbeifliegen den Vorhang eines Sich-nicht-erinnern-könnens lüpfen und etwas Altbekanntes, Längstvertrautes zeigen. „Wie sprechen sie nur?"
Da kommt einer von ihnen - braungebrannt wie eine Kaffeebohne - ganz nahe heran gerannt, hält dann plötzlich an und ruft, die Hand gegen die schimmernde Sichel ausgestreckt etwas aus. Das letzte Wort: „Thalassi..." „Griechisch!" sagt Paul und setzt sich auf. „Neugriechisch! Thalassi, das klassische Thalatta (Anm.: (griech.) = Das Meer.)..." Und: „Griechisch, ganz richtig!" sagt eine Stimme, und wie wir aufsehen, steht der junge Student da, der gestern mit uns von Batum gekommen ist und etwas Deutsch spricht. (Eliawa heißt er, oder so ähnlich - Elly aber nennt ihn Ali Baba, weil er „so räubermäßig" aussieht in seinem kaukasischen Rock mit den Patronentäschchen und der hohen Pelzmütze.) Er setzt sich zu uns. „Wussten Sie nicht, dass es hier einige zehntausend Griechen gibt?" „?"
„Ja, von den 50000, die in Georgien leben, haben wir hier in Abchasien mehr als die Hälfte. Tabakbauern zumeist. Vor dem Krieg wurden nämlich hier die besten „ägyptischen" Tabaksorten gezogen und nach Alexandria verschifft..."
„So, also Griechen habt ihr hier eine ganze Menge..." „Nicht nur Griechen." „Sondern auch...?"
„Nun, Abchasier natürlich, dann Georgier, Armenier, Juden, aserbaidshanische Türken, Laren, Ossetier, Perser, Lesghier, Russen, Ukrainer..., sogar Letten, ja ein paar lettische Dörfer... 26 Nationalitäten im Ganzen." „Sechsundzwanzig — und — und —?" Vielleicht errät er, was wir fragen wollen, vielleicht weiß er, dass wir aus der Tschechoslowakei, dem Lande der Straßentafel- und Stationsschilderkämpfe kommen: „Und sechzehn von ihnen haben ihre eigenen nationalen Schulen, die übrigen sind zu sehr zersplittert oder zu wenig zahlreich..."
Und nach einer Weile:
„Das war das erste, was wir machten, sowie wir nur ein wenig Luft hatten. Wir wussten nur zu gut, was es heißt, keine Schulen haben zu dürfen, als Nation nicht frei zu sein..."
Und dann erzählt er von den Zeiten der nationalen Unterdrückung der Abchasier durch den russischen Zarismus und von den Hoffnungen, die die Demokratie der georgischen Menschewiki erweckte.
„Bis wir dann merkten, dass die georgischen Menschewiki um nichts besser waren als die zaristischen Russen: jetzt wurde mit gleicher Brutalität georgisiert, wie vorher russifiziert worden war... Nein, frei, wirklich frei sind wir erst geworden, seit die Bolschewiki oben sind." Er gerät in Feuer. Erzählt - selbst einer der ihren - von der Arbeit und den Zielen jener ersten Generation einer abchasischen Intelligenz, einer Intelligenz, deren Hände hart und deren Haare oftmals schon angegraut sind; die aber jung ist, jung wie der Staat, den sie mit allen Fasern ihres Herzens liebt, und an dessen Entfaltung sie mit einem Elan arbeitet, der stärker ist als die Malaria in den Küstenstrichen und die weglose Unzugänglichkeit der Gebirgstäler...
Dann steht er auf. Eine Stimme hinten, jenseits der Düne, hat schon zum zweiten Mal nach ihm gerufen. Wir schütteln ihm die Hand. Die Hufeisen seiner schweren Stiefel läuten noch eine Weile zu uns herüber.
Der kleine, kaffeebraune Hellene hat sich dort, wo der nasse Landstreifen sich an den helleren, trockenen anschmiegt, niedergekauert. Langsam knabbert er an einem großen Maiskolben. (Sie werden in flachen Körben von den Verkäufern den Strand entlang getragen: das Stückin Salzwasser gekocht - kostet vier Kopeken, und du darfst alle abgreifen, um dir den weichsten auszusuchen.) Die schmale Silhouette des Knaben zeichnet eine ganz kleine Scharte in den Sichelbogen des Meers.
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