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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Der eiserne Strom

Seit drei Tagen wartet Magnitogorsk auf das erste Roheisen der „Komsomolka", des von Komsomolzen erbauten und von Komsomolzen bedienten Hochofens Nummer II. Die Zeitungen, die Wandzeitungen, die Anschlagbretter, die Transparente, die Versammlungsreden haben alle nur ein Thema: „die Komsomolka".
Vorgestern hat man zum letzten Mal den ganzen Mechanismus geprüft; gestern wurde die erste Beschickung vorgenommen; heute wird der erste Anstich sein. Zehntausende, die Freischicht haben, sind gekommen, um dem Anstich beizuwohnen. Sie füllen das ganze Gelände des Hochofenwerks, warten auf den Augenblick, da der erste flammende Strahl in den Muldenwagen schießen wird, der unterhalb der Ofenplattform schon bereitsteht. Oben auf der Plattform wartet man auch. Dichtgedrängt stehen hier die Delegationen der Bau- und Betriebsbelegschaften, die Stoßbrigadler, die den Ofen gebaut haben, die Mitglieder des Komsomolkomitees, der Betriebsleitung, des Gewerkschaftsrats, Abgesandte aus Swerdlowsk und Moskau, Berichterstatter, Parteifunktionäre, Vertreter der Kolchosbauern aus der Steppe, Ingenieure, Techniker, ausländische Spezialisten.
Alex macht mich auf einen Mann aufmerksam, der von seiner Umgebung seltsam absticht. Er trägt einen schwarzen Anzug und - was man hier wohl kaum ein zweites Mal finden dürfte - einen steifen Kragen; auf seiner Nase sitzt ein goldgefaßter Kneifer, unterm Arm hat er eine große Aktenmappe. Ein Ausländer? Aber nein, eben spricht er mit seinem Nachbar russisch, weich und rein, wie nur ein Russe.
Unsere Aufmerksamkeit wird von ihm abgelenkt. Der diensthabende Ingenieur ist an den Hochofen herangetreten und blickt durch ein dunkles Glas in das Guckloch. Dann sieht er auf die Uhr. Der Ofenmeister macht eine fragende Geste zu ihm hinüber, aber der Ingenieur winkt ab: noch nicht!
Über den stählernen Ofenmantel fließt das Kühlwasser. Dort, wo es von einem „Stockwerk" auf das nächst tiefere hinunterspringt, bildet es winzige Wasserfälle; auf den untersten Platten gerät es ins Sieden, ein leichter, bläulich-weißer Dampf steigt hoch.
In den mächtigen Gebläserohren, die sich wie Riesenschlangen um den Ofenrumpf winden, pfeift die heiße Luft, die aus den Cowpers, den „Vorwärmern", in den Ofen gepresst wird: anderthalb Millionen Kubikmeter in der Stunde, verzwanzigfachter Samum, achthundert Grad heiß.
Über die schräge Förderbahn klettern die Kübel mit Erz, Kalk und Koks von den Bunkern zur „Ofengicht" hinauf, machen vor dem Fülltrichter halt, kippen ihren Inhalt in den Verteiler, der die „Beschickungsmasse" mischt und in den Ofenschlund hinunterbefördert. Das Wasser rauscht. Die Heißluft zischt und pfeift. Die Förderkübel rollen und poltern. Durch all diese Geräusche aber schwingt das tiefe, klingende Brummen des Ofens, in dessen Bauch das erste schmelzende Erz rumort. Die Arbeiter der Anstich-Schicht stehen um das verklebte Gussloch herum. Alles ist vorbereitet: die Sanddämme, zwischen denen der Eisenstrom zum Rand der Plattform fließen wird, sind geprüft; die langen Eisenstangen, mit denen man den ersten Anstich ausführen wird (später wird das die „Müllen-Bohr-Maschine" besorgen, die eben erst auf dem Bahnhof angekommen ist), liegen griffbereit da; in hohem Stapel sind die Asbestplatten aufgeschichtet, mit denen man den glühenden Bach überbrücken wird, um die Kübel mit feuerfestem Lehm zur „Brosiuskanone" tragen zu können, die nach dem Guss das Gussloch wieder schließt.
Neben uns erzählt jemand vom ersten Anstich des Hochofens Nummer I:
„Es war so kalt, dass man überall rundherum Holzstöße anzünden musste. Den Leuten, die die Berieselungsanlage kontrollierten, froren beinahe die Hände ab. Und auf einmal lief das Wasser nicht mehr. Rohrbruch beim Brunnenschacht einundvierzig. Wir alle hin, mit Hauen und Spaten; wir wussten, wenn das Wasser eine halbe Stunde lang nicht läuft, geht der Hochofen in die Luft. Der Boden war wie Stahl, die Spaten glitten einfach ab. Als wir endlich bis zum Rohr durch waren und das Eis aufgetaut hatten, mussten die Schlosser ins Wasser hinunter, bei vierzig Grad Kälte. Aber geflickt wurde das Rohr doch!" Und ein anderer darauf:
„Ja, und in der Werkskanzlei saß die ganzen drei Tage lang ein Mensch bei den Telefonen, der war zufällig dorthin gekommen, er hatte etwas ganz anderes in Magnitogorsk zu tun, aber die Telefone ließen ihn einfach nicht mehr los; er war unrasiert und ungewaschen, und sah aus wie das leibhaftige Jahr neunzehnhundertneunzehn..." Ein Komsomolze mit dem Stoßbrigadlerabzeichen zeigt seinem Mädchen den Ofenring, an dem er die Nieten geklopft hat; sein Nebenmann, ein Betonarbeiter, kann auf seine Arbeit nicht mit dem Finger weisen, aber dafür beschreibt er den Platz ganz genau: „Dort links unten, wo der zweite Cowper steht; hundertundelf Prozent des Tagespensums haben wir in der schlechtesten Zeit geschafft, nie weniger!"
Der diensthabende Ingenieur hebt den Arm. Durch die Menge der Wartenden geht eine Bewegung. Der erste Stoß donnert gegen den Tonpfropfen des Gussloches. Schon?
Nein, noch nicht. Größere Stangen werden herangeschleppt; lauter donnern die Stöße gegen den hartnäckigen Pfropfen.
„Eins-zwei: los! Eins-zwei: los!"
Die Männer an den Stangen schwitzen, man sieht deutlich, wie ihnen das Wasser über Stirn und Nacken rinnt. Der Menge bemächtigt sich eine leichte Unruhe. Sie rückt näher an den Ofen heran. „Geht es nicht?" „Was ist geschehen?" „Los, packt mit an!"
Zwei, vier, zehn, zwanzig Männer werfen ihre Jacken ab, laufen zu den Arbeitern an den Stangen, fassen mit an: „Eins-zwei: los!"
Fast die ganze Betriebsleitung ist unter den Helfern, auch Fadejew, der Sekretär des Komsomol. Alle haben sie schon rußige Hände, rote Gesichter; allen rinnt der Schweiß über Nacken und Stirn. „Achtung! Zurück!"
Rasselnd fliegen die Stangen zur Seite. Eilig ziehen sich die Menschen zurück. Ein kurzes, fauchendes Zischen wie von hundert Dampf ablassenden Lokomotiven, dann sprüht ein Stück flammender Sonne aus dem Gussloch; faustgroße Funken wirbeln durch die Luft; in feuriger Kaskade springt der erste Roheisenbach aus dem Ofen in die Gussrinne. „Urrah!"
Draußen, auf dem Werksgelände, wiederholt sich das „Urrah!" noch zweimal, auf der Plattform jedoch bricht schon das erste jäh ab. Der Feuerbach hat den rechten Sanddamm an zwei Stellen durchbrochen: zwei Hydren, jede mit zehn züngelnden Köpfen, kommen aus den Breschen hervorgekrochen.
Für einen Augenblick erstarren alle Menschen hier oben auf der Plattform. Dann gehen sie- von einer einheitlichen,
großen Bewegung wie von einer Woge getragen - auf den entfesselten Eisenstrom los. Hier hat einer eine Schaufel erwischt, dort einer eine Asbestplatte, dort ein dritter ein Stück Blech; alle werfen Sand auf die flüssige Glut: mit Werkzeugen, mit Latten, mit den bloßen Händen. Drei Minuten später sind die Breschen geschlossen. Sprudelnd und flammenüberzüngelt, aber gebändigt, fließt der eiserne Bach in den Muldenwagen. Um ihn, um das erste Metall aus „ihrem" Hochofen, tanzen die Komsomolzen und Komsomolzinnen der ersten Nieterstoßbrigade einen wilden Tanz. Der Diskant der Mädchenstimmen übertönt von Zeit zu Zeit das Getöse des Gusses:
„Nas pobit, pobit choteli,
No my ne sdawalis im..."
„Sie wollten uns schlagen, schlagen, Wir aber ergaben uns nicht..."
Die Menschen rund um uns drängen sich an das Geländer oberhalb des Muldenwagens. Nur der Mann im dunklen Anzug und steifen Kragen bleibt stehen und wischt mit langsamen Bewegungen einen Rest Sand von seiner Aktenmappe. Er hat vorhin - mir wird erst jetzt bewusst, dass ich ihn dabei gesehen habe - wie all die andern Sand geschaufelt: mit der großen, mattglänzenden Aktenmappe, deren Nickelschloss er eben anhaucht und poliert. Aus dem Ofen versuchen jetzt, hinter den letzten Güssen flüssigen Eisens her, die erhitzten Gase auszubrechen. Tausend weiße, gelbe und rote Flammenzungen schießen aus dem Gussloch, aber schon ist die Brosiuskanone da und speit eine erste Ladung feuerfesten Tons gegen die Öffnung. Wie ein Riesenpfauenrad breiten sich die Flammen aus, wollen wachsen, werden aber gedrosselt und sterben. Der Mann mit dem steifen Kragen ist mit dem Polieren fertig; er klemmt die Mappe unter den Arm und geht.

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