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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Aus den Kindertagen des Kusbass

Die Brücke über den Ob
Vier Tage dauert die Fahrt von Magnitogorsk im Ural nach Stalinsk im Kusnezker Becken. Drei Tage lang fahren wir schon. Der Waggon schlingert leise wie ein sacht schaukelndes Schiff. Das Rauschen der Birkenwälder begleitet das Rollen der Räder. Weit und flach dehnt sich das Land.
Von Zeit zu Zeit ein Dorf oder eine Sowchossiedlung. Ganz selten eine Stadt: Tscheljabinsk, Swerdlowsk, Omsk, Nowosibirsk...
Man liegt, liest, blickt aus dem Fenster, isst, döst, schläft. Bisweilen schreckt man auf. Ein Gegenzug rattert vorbei, immer die gleiche lange Reihe roter Waggons mit schwarzer Ladung: Kusnezkkohle für Magnitogorsk. Bisweilen hält der Zug, um Wasser zu nehmen. Auf dem Nebengleise steht ein Güterzug, der in derselben Richtung fährt, und wartet, bis die Strecke frei wird - jedesmal die gleiche lange Reihe roter Lastwaggons mit bleifarbener Ladung: Magnitogorsker Erz für Stalinsk. „Fünfzehn Kohlenzüge fahren jetzt täglich von Ost nach West, ebenso viele Erzzüge von West nach Ost", sagt der junge Mensch in schwarzem Lederzeug, der auf einer kleinen Haltestelle hinter Nowosibirsk zugestiegen ist, „eine schöne Leistung, was?"
Morgen werden wir wieder, wie in Magnitogorsk, nur wenig Zeit zum Ausruhen finden, wir wollen uns im Zug ausruhen, auf Vorrat sozusagen. Der junge Mann muss sich mit einer kurzen Antwort begnügen: „Ja, eine schöne Leistung!"
Er begnügt sich nicht, er lässt sich nicht davon abhalten, uns zu unterrichten:
„Und in zwei, drei Wochen werden es nicht mehr dreißig, sondern fünfzig Züge im Tag sein! Das ist natürlich nur möglich, weil die neue Brücke schon fertig ist; und die neue Brücke wäre nicht fertig, wenn das neue Betonverfahren nicht wäre. Wir bähen nämlich den Beton auf eine neue Weise und mischen ihn auch anders, wissen Sie?"
„Nein!" brumme ich, doch da dämmert mir auch schon, dass ich einen Fehler gemacht habe. Jetzt wird der Mann mir noch das Verfahren zu erklären beginnen. Und wirklich: der neue Reisegefährte hat sich schon, wie ein alter Bekannter, auf den Rand meines Schlafplatzes gesetzt und spricht und spricht. Allmählich verfliegt meine Schläfrigkeit, ich fange an, auf das zu horchen, was er erzählt. Schließlich unterbreche ich ihn sogar und stelle Fragen. Er hat mit seinen Kameraden von der Stoßbrigade „GPU" ein neues Betonbähungsverfahren erfunden und fährt jetzt als frischgebackener Betonmeister nach Stalinsk, um sein Verfahren auch dort einzuführen. Er weiht mich beharrlich in alle Finessen der neuen Kiesbehandlung und die Geheimnisse seines besonderen Mischungsrezepts ein. Aber richtig zuzuhören und ihn auszufragen, beginne ich erst, wie er auf den Bau der Eisenbahnbrücke über den Ob zu sprechen kommt.
Zweihundert Komsomolzen aus Nowosibirsk und von den Kolchosen der Umgebung meldeten sich freiwillig, um der Bauleitung zu helfen, die mit Arbeitermangel, Bummelei, Frost und Morast zu kämpfen hatte; sie bildeten ein „Sturmbataillon", das überall dort eingesetzt wurde, wo die Arbeit ins Stocken kam.
In einer stürmischen Nacht, als die Fuhrleute sich nicht getrauten auszufahren, um Zementsäcke aus den Waggons in die frostsicheren Schuppen zu schaffen, schleppten sie die Säcke auf dem Rücken zwei Kilometer weit über das Eis des gefrorenen Flusses.
In zwölfstündigen Arbeitsschichten, ohne Ablösung, unter Verzicht auf die Ausgangstage stellten sie das Mauerwerk des zweiten Pfeilers in vier Wochen fertig, statt, wie im Plan vorgesehn, in sechs Wochen. Sie zwangen die Betonmischmaschinen, hundertundachtzig Mischungen zu liefern, statt der höchsten Norm von hundertundsechzig. Dann barst die Verschalung des dritten Pfeilers. Mehr als das, er war überhaupt „krank"; der Senkkasten, auf dem er ruhen sollte, bohrte sich zu langsam in den Flussgrund und stieß noch Immer nicht auf den Felsboden - in der Belegschaft hatte es Bummler und Trinker gegeben. Da sprangen die Komsomolzen ein. Sie schrieben an die Wand der Baukanzlei: „Wir Komsomolzen versprechen der Partei, der Bauleitung und dem Land, dass wir dem dritten Pfeiler auf die Beine helfen und ihn ganz allein zu Ende bauen werden!"
„Es war nur noch ganz wenig Zeit. Wenn der Eisgang kam, bevor der dritte Pfeiler den Wasserspiegel überragte, musste der ganze Bau für Wochen unterbrochen werden. Vom Oberlauf meldeten sie schon, dass das Eis in Bewegung geraten sei. Keiner von den Ingenieuren und Technikern, überhaupt kein Mann von der ganzen übrigen Belegschaft glaubte, dass wir es rechtzeitig schaffen würden, und wir schafften es. Die Zimmerleute brachten die neue Verschalung in einem Tag und einer Nacht fertig; die Betonmischer steigerten ihre Arbeitsleistung um siebenundsechzig Prozent; im Freien wurde vierzehn, im Senkkasten, wo ein Luftdruck von drei Atmosphären herrschte, zwölf Stunden gearbeitet. Wir arbeiteten dort nackt, wir hatten die Leitern entfernt und konnten dadurch zwei Mann mehr unterbringen, es war fürchterlich eng und heiß, aber der Caisson senkte sich täglich um zwei Meter, statt nur um einen wie bisher, und nach drei Tagen waren wir auf dem Felsgrund. Genau zwölf Stunden, bevor der Eisgang begann, war der dritte Pfeiler über Wasserspiegelhöhe; als das Hochwasser kam, arbeiteten wir schon am Oberbau. Aber das schönste ist doch, dass wir dabei ein neues Bähungsverfahren gefunden haben. Es ist um fast zehn Prozent billiger als das alte und erspart, und das ist noch wichtiger, sehr viel Zeit!" Ich frage ihn, ob er schon lange „in Beton" arbeitet. Nein, erst seit dem Brückenbau. Jetzt soll er in Stalinsk sein neues Verfahren weiter ausprobieren, und im Winter wird er auf die Bauschule geschickt. Vorher ist er zwei Jahre lang auf einem Kolchos gewesen, und davor hat er auf dem Dorf gelebt:
„In Michailowka, einem verlorenen Nest, fünfhundert Kilometer von hier. Nicht einmal ein Fahrweg ging hin. Wenn einer in die Stadt fuhr, das kam vielleicht einmal im Jahr vor, war es ein Ereignis. Die Bauern waren fast alle Baptisten, die wenigsten konnten lesen und schreiben. Mein Vater zum Beispiel hat mir nur einen einzigen Buchstaben beigebracht, er kannte nur den einen; es war das ­, und er kannte es nur, weil es ,dem Galgen so ähnlich sieht', wie er immer sagte!"

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