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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Die Sache mit Gary

Fast sechs Stunden lang haben wir das mit Gerüsten und Schuppen, provisorisch gelegten Schienensträngen und halbfertigen Eisenkonstruktionen bedeckte Gebiet des Walzwerks durchstreift. Ilja Alexejewitsch Panjenkow, Agitmass und Kultprop (Anm.: Agitmass = Leiter der Massenagitation; Kultprop = Leiter der Kulturpropaganda.) der zweiten Schlosserstoßbrigade ist uns ein sehr strenger Führer gewesen: alles mussten wir uns ansehen, nichts wurde uns „geschenkt", in jede Baugrube mussten wir hinuntersteigen, auf jedes Baugerüst mussten wir hinaufklettern, kein Kran, kein Montageplatz wurde ausgelassen.
Jetzt endlich dürfen wir ausruhen. Das heißt: nur die Füße dürfen ausruhen, Augen und Ohren bekommen auch weiter zu tun, denn Ilja Alexejewitsch fasst jetzt nochmals zusammen, was er uns auf dem Gang durch das werdende Werk erzählt hat: noch einmal prasseln die Zahlenkaskaden auf uns nieder, noch einmal müssen die Augen den ganzen Weg machen, noch einmal bekommen die Ohren alle Fachausdrücke und die dazu gehörigen Erläuterungen zu hören. Noch einmal muss sich unsere Einbildungskraft das Werk so vorstellen, wie es in einem halben Jahr dastehen und in drei viertel Jahren arbeiten wird:
.....und dort drüben, wo jetzt der Bretterstapel ist, wird ein kleines Glashaus auf Stelzen stehen, so etwas wie ein Bahnblockwerk. In dem Haus werden zwei Menschen sitzen, der Obermechaniker und der Mechaniker. Der Obermechaniker wird nach dem „Tiefenofen" hinüberschauen und ein Kommando geben, und der Mechaniker wird einen Hebel umlegen; im selben Augenblick wird sich einer der Schächte des „Tiefenofens" öffnen, in dem der aus dem Martinswerk gekommene Stahl auf die für seine Bearbeitung notwendige Walztemperatur gebracht wurde; ein Blockkran wird seinen riesigen Angelhaken in den Schacht hinunterlassen und einen glühenden Fünftonnen-Stahlblock emporziehen; wieder ein Kommando des Obermechanikers, wieder ein Hebeldruck des Mechanikers: ein Elektro-Kippkarren rollt unter den Kran und
nimmt den glühenden Block auf, dann führt er zum ,Blooming' hinüber und kippt seine Last auf den ,Rollweg'. Neben dem Blooming wird ein zweites Glashäuschen auf Stelzen stehen; auch in diesem Häuschen werden zwei Männer vor einem Schaltwerk sitzen; auch hier wird der eine ein Kommando geben und der andere an den Hebeln zu hantieren beginnen. Die Rollen werden sich in Bewegung setzen und den Stahlblock zum Maul des Bloomings, der gigantischen Blockwalzmaschine, tragen; der Block wird zwischen den ersten Walzen verschwinden, wird gleich wieder zum Vorschein kommen, kein Block mehr, sondern nur noch ein dicker, platter Riegel; wird wieder im Blooming verschwinden und wieder zum Vorschein kommen und wieder verschwinden und von neuem zurückkommen, fünfzehnmal in hundertundzehn Sekunden, und zum Schluss wird er nur noch eine dünne Schlange sein, zwanzig Meter lang statt der anderthalb, die er vor dem ersten Verschwinden gemessen hat, zwanzig Zentimeter hoch statt eines Meters. Neunhunderttausend Tonnen Walzgut werden im Jahr durch jeden unserer drei Bloomings laufen und sich in Schienen und Traversen und Winkeleisen und Draht und Quadrateisen und Grubenschienen und T-Träger und U-Eisen verwandeln. Im ersten Bauabschnitt! Im zweiten Bauabschnitt werden es um drei Fünftel mehr sein. Dann kann Gary einpacken!" Er macht eine Pause. Offenbar überlegt er, ob er nicht noch etwas ergänzen soll. Aber es scheint alles gesagt zu sein. Er fragt: „Habt ihr alles verstanden? Wollt ihr noch etwas wissen? Ist euch noch etwas unklar?" „Nein, es ist uns nichts mehr unklar. Oder doch: wer oder was ist Gary?"
Ilja Alexejewitsch reißt den Mund auf, macht ganz große Augen: „Ihr wisst nicht...?"
Nein, wir wissen nicht. Dieses Geständnis ist, wir fühlen es sehr gut, tief beschämend, denn obwohl Ilja Alexejewitsch uns sonst jeden Fachausdruck, jede Vorrichtung, jeden Arbeitsvorgang erklärt hat, ohne erst auf eine Frage zu warten, weil er von Anfang an davon überzeugt war, dass die ihm anvertrauten Fremden blutige Laien seien, die nicht einmal von der Form eines „T" oder „U", geschweige denn von Kokillen und Walzstraßen, Tiefenöfen und Cross-Sountry-Walzen eine Ahnung haben; obwohl uns also Ilja Alexejewitsch jede Kleinigkeit erklärt hat, ist ihm das Wissen darum, wer oder was Gary ist (ein Erfinder oder eine Aktiengesellschaft; ein lebendiger Mensch wie Ford oder ein bloßer Name wie Skoda; ein Professor aus Frankreich oder eine Fabrik in Sheffield), ist ihm die Bekanntschaft mit diesem geheimnisvollen Gary, der oder das in jedem dritten Satz vorkam (das hier werden wir machen, wie es Gary macht, dort das werden wir anders machen, als es Gary macht), offensichtlich als ein Teil jener primitiven Kenntnisse erschienen, deren Besitz man bei jedem halbwegs normal geratenen Erwachsenen einfach voraussetzen muss.
„Ihr wisst das also nicht...?"
Ilja Alexejewitsch schöpft tief Atem. Wir sind auf eine Flut von Ausrufen, einen Strom von Erklärungen gefasst, aber da besinnt er sich anders. Er winkt einen der Jungen heran, die unweit von uns mit Steinen nach einem Ziel werfen, einen zwölf- oder dreizehnjährigen Bengel, der seine viel zu weite Hose immer wieder hochziehen muss, damit er sich nicht in ihr verheddert. Er fragt ihn: „Hör mal, weißt du nicht, was Gary ist?" Der Junge zieht die Hose hoch, spuckt aus, fragt zurück: „Willst du mich vielleicht aufziehen? Natürlich weiß ich es. Das weiß doch jedes Kind!"
Ilja Alexejewitsch wirft uns einen Blick zu, halb Vernichtung, halb Mitleid. Dann sagt er:
„Na, die hier zum Beispiel wissen es nicht. Vielleicht sagst du es ihnen!"
Der Junge sieht uns mit unendlicher Geringschätzung an, lässt die Hosen auf Halbmast sinken und belehrt uns: „Gary, Gary ist ein Eisenwerk in Amerika, in einem Staat, der Indiana heißt; es ist das größte Eisenwerk der Welt, aber wenn bei uns hier erst einmal die zweite Hochofenreihe steht, dann erzeugen wir vier Millionen Tonnen im Jahr, und das ist um eine halbe Million mehr, als Gary produzieren kann!"
„Richtig!" lobt ihn Ilja Alexejewitsch. Er will noch etwas hinzufügen, aber da fällt sein Blick auf meine Armbanduhr, und er springt auf.
„Ich muss weg. Ich habe ganz vergessen, dass ich als Zeuge gebraucht werde. Bei einem Kollektivgericht. Über schmutzige Stiefel... kommt mit! Los, los, es ist höchste Zeit!"

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