Die Bugsierbrigade von „Horizont 50"
Südlich von Stalinsk fangen die Berge an. Nördlich von Stalinsk dehnt sich die Steppe. In den Bergen, bei Temir-Tau und Telbes, liegt - von französischen Konzessionären und russischen Spekulanten schon vor dem Krieg entdeckt, aber nur auf der Börse ausgebeutet - die erste Erzbasis des Stalinsker Werks. Sechs Jahre lang wird sie den Stalinsker Hochöfen 30 Prozent, in den folgenden sechs Jahren 60 Prozent ihres Erzbedarfs liefern; das Fehlende wird aus dem Ural kommen, später auch aus der im Vorjahr gefundenen zweiten Erzbasis am Bergfluss Mrass.
In der Steppe ruhen die Kohlenvorräte, von denen die Werke des „Ural-Kusbass-Kombinats" Jahrzehnte und Jahrzehnte zehren werden: schätzungsweise tausend Milliarden Tonnen, fünfmal soviel wie in allen deutschen Revieren, siebenmal soviel wie in ganz England. Die Fördertürme eines Über-Ruhrgebietes wachsen aus dem Steppenboden: in Leninsk, Bjelowo, Ansherka, Sudshenka und Prokopjewsk.
„Unser Schacht wird der größte in der Union und der zweitgrößte in der ganzen Welt sein!" erklärt uns im Prokopjewsk Boris Stepanow. Er ist Sekretär des Parteikollektivs auf Grube I, „Perwaja Koksowaja". Man hat uns, oben in der Werkskanzlei, an ihn gewiesen, hat uns Lederzeug, Röhrenstiefel, Lederhüte und Lampen geliehen, uns einen Steiger mitgegeben und unter Tag geschickt: Boris Stepanow wird uns alles zeigen und erklären können, was wir sehen und wissen wollen, niemand kennt den Schacht und die Kumpels so gut wie er; wir werden ihn sicher auf Horizont 100 finden, dort ist gestern von der Belegschaft Alarm geschlagen worden wegen eines „Proryw", wegen einer Bresche in der Planerfüllung, und Boris organisiert zweifellos schon die „gesellschaftliche Hilfe" für die zurückgebliebene Belegschaftsgruppe. Wir haben ihn auch wirklich auf Horizont 100, in dem tiefsten der drei Hauptstollen, aufgestöbert, und jetzt führt er uns durch den Schacht. „Zweieinhalb Millionen Tonnen im Jahr, eine volle Waggonladung in jeder Minute werden wir fördern, sobald der Betrieb voll aufgenommen ist; nur die ,New-Orient-Mine' in den Vereinigten Staaten hat eine größere Jahresförderung, aber auch sie hat nicht so große Möglichkeiten wie wir: Flöze von vierundzwanzig Meter Mächtigkeit sind hier nicht selten! Unser Betrieb wird vollständig mechanisiert sein, ,Perwaja Koksowaja' soll nicht nur ein Grubengigant, sondern auch eine Hochschule der Bergbautechnik werden; hier wollen wir den gesamten Steiger- und Ingenieurnachwuchs für das Kusnezkbecken ausbilden. Einstweilen sind wir allerdings noch bei der Ausbildung unserer eigenen Belegschaft. Keine leichte Aufgabe, kann ich euch flüstern!" (Er spricht deutsch mit uns und ist offenbar in Berlin gewesen.) „Wir haben nur ganz wenige Häuer mit hoher Qualifikation: ein paar Dutzend Deutsche aus dem Ruhrgebiet und aus Oberschlesien, ein paar Dutzend Tschechen aus dem Ostrauer Revier und ein paar Dutzend Ukrainer aus dem Donezbecken; alles andere ist aus den sibirischen Dörfern gekommen und hat hier zum ersten mal im Leben eine Industrieanlage gesehen! Dass man unter diesen Umständen trotz Schrämmaschinen, elektrischen Grubenbahnen und pneumatischen Bohrern ab und zu hinter den Planforderungen zurückbleibt, ist kein Wunder. Im Ganzen aber werden wir nicht zurückbleiben, denn der Mangel an Erfahrung und Schulung wird wettgemacht durch die sozialistischen Arbeitsmethoden, durch die Leistungen der Stoßbrigaden, durch die Sozialistischen Wettbewerbe und die Bugsierarbeit. Gerade gestern haben die Kumpels hier unten auf Horizont 100 Alarm geschlagen und von der Gesamtbelegschaft ,gesellschaftliche Hilfe' verlangt, weil in Schlag II nur fünfzig Prozent der Planziffern geleistet wurden." „Ja, davon hat man uns schon oben erzählt. Und man hat uns gesagt, dass Sie gerade dabei seien, diese Hilfe zu organisieren."
„Das stimmt nicht ganz. Ich wollte sie organisieren, aber ich bin zu spät gekommen. Die Kumpels von Horizont 50, in dem Hauptstollen über uns, haben gleich gestern Abend beschlossen, ihren Kameraden von Horizont 100 zu helfen; heute früh war schon eine Bugsierbrigade da, drei Mann; sie haben die ganze Frühschicht durchgearbeitet und arbeiten jetzt noch. Als sie der Obersteiger hinaufschicken wollte, haben sie sich geweigert, auszufahren; sie müssten doch auch noch die Abendschicht ins Schlepptau nehmen, haben sie gesagt und sind geblieben." „Wir können sie also jetzt sehen?"
„Ja, aber ich glaube, sie werden nicht sehr entzückt sein, wenn wir sie stören. Da kommt übrigens gerade der Steiger von Schlag II, ein Deutscher... Hallo, Will, was machst du hier? ist etwas geschehen?"
„Nein, nichts; wir machen nur Pause, es wird gerade geschossen!" antwortet der Angerufene. Er kommt heran. Wir sehen ein schwarzes Gesicht, helle Augen, einen struppigen blonden Schnurrbart.
„Deutsche?.. Schön Willkommen bei uns!... Auf Schlag II wollt ihr? Das ist zwar mein Schlag, aber ich würde euch doch raten, einen andern anzusehen, wir haben nämlich einen ,Proryw' gehabt... Was? Gerade deswegen wollt ihr zu uns?... Wegen der Bugsierbrigade? Aber an der ist doch nicht viel zu sehen! Drei ganz gewöhnliche Kumpels, wir wissen nicht einmal, wie sie heißen; wir wissen nur, dass sie was leisten; jetzt arbeiten wir noch keine neun Stunden mit ihnen zusammen und haben schon den ganzen Tagesplan erfüllt, bis Abend sind wir sicher auf hundertfünfzig Prozent! Dabei haben wir, weil ja um drei Mann mehr da sind, die Sollziffern entsprechend erhöht!" Wie wir in Schlag II ankommen, ist die Pause schon vorüber. Die Sprengkolonne hat „abgeschossen" und ist weitergezogen; die Kumpels arbeiten bereits wieder. Die drei von der Bugsierbrigade lachen: Es ist doch nichts Besonderes an ihnen zu sehen! Sie haben sich gestern Abend in der Belegschaftsversammlung von Horizont 50 gemeldet, als man die Bitte der Belegschaft von Horizont 100 bekannt gab; da ist gar nichts dabei, und das wird immer so gemacht. Wenn nicht sie sich gemeldet hätten, wären es eben drei andere gewesen. Hier wollen sie solange mithelfen, bis der „Proryw" liquidiert und die Arbeit richtig in Schwung gekommen ist.
„Po udarnomu, ponjimajesch?- Auf Stoßbrigadlerart, verstehst du?"
Die andern auf Horizont 50 haben sich verpflichtet, während der Abwesenheit der drei ihre Arbeit „mitzunehmen". Auch daran sei nichts Besonderes, das sei selbstverständlich und notwendig. „Sonst würde ja wieder Horizont 50 nachhinken!" Aber Horizont 50 hinke niemals nach. Im Gegenteil. Und deshalb habe sich auch die Belegschaft gestern verpflichtet, nicht nur die Arbeit der drei zu übernehmen, sondern die Gesamtleistung um zehn Prozent zu erhöhen. Po udarnomu, ponjimajesch?
„Wie lange wird es wohl dauern, bis der ,Proryw' hier liquidiert ist?"
„Eine Woche höchstens. Dann wird auch die Stoßbrigade, die man auf Schlag II organisiert, auf den Beinen stehen und sich in die Arbeit einbeißen. Po udarnomu, ponjimajesch?"
So, und jetzt habe man genug Zeit mit Reden verloren. Die Genossen Ausländer mögen entschuldigen, aber man müsse heute noch bis auf hundertundsechzig Prozent der Planziffern kommen; das habe man sich vorgenommen, und was man sich vornehme, das führe man auch aus. Po udarnomu, ponjimajesch?!
Auf dem Rückweg zum Hauptstollen sagt Will, der deutsche Steiger:
„Ja, wenn man das hier sieht und dann daran denkt, wie es bei De Wendel im Ruhrgebiet gewesen ist! Dort hätten uns so drei Mann kommen und zwölfstündige Schichten mit hundertsechzigprozentigen Arbeitsleistungen vorexerzieren sollen, die hätten wir gejagt, Freundchen! Und hier bitten wir selbst darum, dass sie zu uns kommen!... Aber hier hat eben alles einen anderen Sinn: die Arbeit und dein Verhältnis zu ihr; hier ist es wirklich deine Arbeit, die du tust; hier schaffst du für dich und nicht für De Wendel oder wie die Herrschaften sonst heißen. Hier ist kameradschaftliche Hilfe, was drüben Antreiberei wäre, denn hier konkurriert der Stärkere den Schwächeren nicht nieder, hier hilft er ihm."
Oben, am Pfeiler des Zechtors, hängen die rote und die schwarze Tafel. Auf der roten stehen die Namen der drei von der Bugsierbrigade auf Schlag II. Hinter dem Namen des einen, er heißt Tscherkassow, steht: „Mitglied des ZEK". „Ist das möglich?" fragen wir Stepanow. „Heißt das wirklich ZEK? Oder gibt es neben dem Moskauer ZEK noch ein anderes?"
Stepanow lacht. Dann sagt er:
„Warum soll das unmöglich sein? Warum sollen wir unter unserer Belegschaft nicht ein Mitglied des ZEK haben können? Und warum soll ein ZEK-Mitglied nicht in seinem Betrieb arbeiten, wenn keine Session ist? Hier ist es doch nicht so wie bei euch, wo die Arbeit angeblich nicht schändet, bei uns ehrt die Arbeit."
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