Traum an der Grenze
Fern ist der Altai. Seit Tagen leben wir im Zug. Bald werden wir in Stolpcy sein, an der polnischen Grenze, wo auf dem prächtigen Bahnhof - dem einzigen Steingebäude inmitten zerfallender Hütten - für die nach dem Westen Zurückkehrenden ein „Traum" (gegen Kasse) aufgebaut ist: französische Weine, polnisches Weißbrot, Parfüms, Pralinees, „La Vie Parislenne", die „Deutsche Allgemeine Zeitung" und auch einige Damen, die bereit sind (gleichfalls gegen Kasse) den Traum bis Warschau auszudehnen. Wir werden bald zu Hause sein. Mit einer Stundengeschwindigkeit von sechzig Kilometern eilt unser Zug der untergehenden Sonne entgegen. Aber unsere Gedanken fahren nicht mit, sie fahren zurück in den Morgen. Adijok sitzt neben uns, und der Kuckuck ruft. Beg Kushejew, der Kosakenjunge von der Koksbatterie Nummer 8, will nicht mehr zurück in sein Kolchos, er liebt zu sehr die Kohle. Direktor Semjon Grigorjewitsch, der baschkirische Hirt, schenkt uns Fotos des von seiner Versuchsstation gezüchteten mehrjährigen Weizens. Vater Pogrebnlkow, der ehemalige Dorfschmied, streitet mit seinem Sohn Pjotr, der noch nicht Ingenieur ist, aber Angara und Karaganda schon fertig sieht und nur noch nicht weiß, auf welchem Industriegiganten er im dritten Fünfjahrplan arbeiten wird.
Wir denken zurück an die telengitischen (Anm.: ein im Ajmak Kosch-Agatsch an der mongolischen Grenze lebender oirotischer Stamm, der sich von den Bewohnern der anderen Ajmaks durch seinen an das Mongolische anklingenden Dialekt und durch eine besondere Tracht unterscheidet.) Hirten in der ersten oirotischen Kraftfahrerschule, in Onguday an der Mongolischen Heerstraße. Sie hatten ihre Fahrerprüfung schon abgelegt und wollten Mechaniker werden; sie kamen aus einer Siedlung, in der man noch vor zwei Jahren dem ersten dort auftauchenden Auto die Reflektoren mit Lehm beschmiert hatte, damit das „Untier" die Ajile nicht sehe und über sie herfalle.
Wir denken an die ukrainischen Bauernjungen in der Kaserne eines Nachrichtenregiments. Man hafte alle Stiegen mit Sand bestreut, weil die Burschen nicht gewohnt waren, über Steinstufen zu gehen, und immer ausglitten; man hatte im Hof eine lange Reihe hölzerner Sitze gezimmert, eine ganze Kompagnie übte „Setzen!" und „Aufstehen!", und der Rote Kommandeur bestätigte uns: ja, die seltsamen Sitze seien wirklich „Klosettbrillen". Das war unten, bei den Rekruten. Im ersten Stock, bei den Mannschaften, die schon ein Jahr dienten, zeigte man uns in der Roten Ecke ein dickes Buch mit den Urteilen der Leser über die von ihnen entliehenen Bücher; die Schriftzüge der Kritiker verrieten, dass das Schreiben für sie eine noch sehr neue Kunst war. Im zweiten Stock, in der Telegraphenwerkstatt, saßen die „Alten" und bauten Hughes-Apparate und Feldtelefone. Sie hatten noch vor zwei Jahren im Hof unten „Setzen!" und „Aufstehen!" geübt. Wir denken an die tausend und tausend neuen Schulen, Likbeskurse, Fortbildungsanstalten, Arbeiterfakultäten, Kolchostechnika, an die neuen Betriebe, Maschinen-Traktoren-Stationen und Sowchose, an diese „Fabriken zur Erzeugung neuer Menschen" und an den jungen Arbeiteringenieur, den wir im Zuge zwischen Bijsk und Nowosibirsk trafen; er betrachtete lange und eingehend meine Schuhe und sagte dann:
„Ja, bis wir solche Schuhe erzeugen, wird wohl noch eine Weile vergehen, und überhaupt ist bei uns vieles noch unfertig und roh, was bei euch - ich habe mir das von meinem Bruder sagen lassen, der war drüben in Deutschland Maschinen einkaufen - schon längst vollendet ist. Aber dafür ist bei uns schon eine bessere Zukunft im Rohbau fertig, und bei euch wird, hat mir mein Bruder erzählt, nur noch eine bessere Vergangenheit abgebaut..."
gesammelt unter dem Titel „Verteidigung der Deutschen Sprache" erschienen sind, um die Reinheit und Unteilbarkeit der deutschen Sprache. Sprache und Stil wurden durch seine Hilfe wieder Gegenstand des Nachdenkens und der Auseinandersetzung.
Mit dem Formgefühl des Meisters pflegte er auch die Anekdote, die wie kein anderes literarisches Genre die künstlerische Behandlung von Tagesereignissen ermöglicht. In Berlin entwarf F. C. Weiskopf schließlich die Skizze für den dritten Band seiner geplanten Romantrilogie; zehn Kapitel waren bei seinem plötzlichen Tod in den Nachtstunden des 14. September 1955 vollendet. F. C. Weiskopfs große Liebe gehörte den arbeitenden Menschen in aller Welt. Für sie kämpfte, für sie schrieb er bis zur letzten Stunde seines Lebens. Neben seinem Schreibtisch, in der Handbibliothek des Fünfundfünfzigjährigen, befand sich, als sein allzufrüh verbrauchtes Herz zu schlagen aufhörte, das reiche Lebenswerk: dreißig Bücher, von ihm geschrieben und uns hinterlassen.
Grete Weiskopf (Alex Wedding) |
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