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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Attila und Radio

Und dann fuhren wir in die Ukraine und nach dem Kaukasus, und ich vergaß die Cheopspyramide und die Zeitmaschine und erinnerte mich ihrer erst wieder an einem der letzten Abende vor der Heimreise. „Kommt heute Abend zu mir, Kinder!" hatte Fanny Markowna zu uns gesagt. „Es wird ein Freund da sein, ein feiner Kerl, der eben erst aus einem Land an der Nordgrenze der Mongolischen Volksrepublik nach Moskau zurückgekommen ist und sehr gut zu erzählen versteht." „Wir sind aber im Meyerhold-Theater heute Abend..." „Macht nichts, kommt eben nach dem Theater, ihr wisst doch, in Moskau ist ein Besuch um elf Uhr nachts noch sozusagen eine Nachmittagsvisite."
Wir wussten es, waren ja schon lange genug hier, um zu wissen, dass man auch spät nachts noch die Haustore offen, die Stiegen beleuchtet und die Freunde in angeregter Debatte versammelt findet, wussten es und kamen. In dem kleinen Zimmerchen (ein Tisch, ein Stuhl, ein breiter Diwan und ein großer Koffer, an der Wand ein paar bunte kaukasische Tücher und eine Skizze des Leninmausoleums mit der Überschrift „Immerdar - überall -untrennbar von uns!") hockt eine ganze Menge rauchender, teetrinkender Menschen; auf dem Ehrenplatz, dem Diwanpolster: Fedja, der Freund aus dem Lande Tuwa. „Habt ihr Hunger?"
Auf dem Tisch steht die „Küche", der unvermeidliche „Primuskocher", der in keiner Moskauer Wohnung fehlt. (Wohnung: sechs Parteien in vier Zimmern, einer Küche, einem Kabinett! Aber Hunderte alter Häuser wurden im Bürgerkrieg zerstört, Hunderte sind während der schrecklichen Hunger- und Kältejahre verfallen, Hunderte mussten für die Zentralbehörden der plötzlich zum Regierungszentrum gewordenen Stadt beschlagnahmt werden und noch sind brennendere, wichtigere Aufbauarbeiten zu leisten, bevor man dem Moskauer Wohnungselend energisch an den Leib gehen kann - dem Moskauer, denn anderswo, in Baku zum Beispiel, hat man schon in größerem Maßstabe mit dem Bau von Wohnhäusern -reinen, schönen Arbeiterhäusern - begonnen.) „Habt ihr Hunger?"
Und schon ist Fanny Markowna bei der „Speisekammer" (das ist der Raum zwischen den Doppelfenstern: im Winter, wenn alle Ritzen zwischen den Fensterrahmen mit Papier verklebt worden sind und die Fenster nicht geöffnet werden können, lässt man die aufzubewahrenden Speisepakete und Büchsen an Bindfäden in die, nunmehr Eisschrank gewordene, Speisekammer durch die „Fortotschka", die kleine Ventilationsklappe, hinunter und hisst sie im Bedarfsfalle vorsichtig hoch), holt Gurken, Hering und Brot hervor. „Esst! Wollt ihr Tee?"
Und dann sitzen wir und erfahren von Fedja, dass das Land Tana Tuwa eine souveräne Volksrepublik ist, eine Verbündete der Sowjetunion, wie die Mongolei, an die Tana Tuwa auch grenzt. Ein Land, viermal so groß wie Frankreich, aber mit nur 200000 Einwohnern, dafür aber vielen Millionen wilder Tiere, deren wertvolle Pelze den Hauptausfuhrgegenstand bilden im Austausch gegen Textilwaren, Waffen, Zucker und - Papier. „Ach geh, Fedja, Papier - wozu brauchen denn die Tana Tuwassen (oder wie heißen sie eigentlich?) Papier?! Du hast ja selbst gesagt, dass sie noch nicht einmal ihr eigenes Alphabet haben... Oder aber geht es dem Papier dort so wie deinen Zeitungen in der Kirgisensteppe?!" Jemand sagt das, und alle beginnen zu lachen. Was es denn eigentlich für eine Bewandtnis mit jenen Zeitungen habe, frage ich.
„Ach, nichts besonderes, nur... die Kirgisen waren damals noch nicht reif genug..."
Und er erzählt mit lustigem Augenzwinkern von einer Reise - vor drei Jahren - durch die Kirgisensteppe. „Es war eine Expedition zur Erforschung der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Kirgisengebietes (Fedja arbeitet in der Ostabteilung des Außenhandelskommissariats), und wir hatten eine ganze Menge bedruckten Papiers mit uns: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, — nun und da fiel es uns auf, dass die Kirgisen ein solches Interesse für unsere Zeitungen zeigten, dass sie immer wieder zu uns kamen und um Zeitungen baten, besonders um ein illustriertes Blatt, ich weiß nicht mehr welches. Na, wir gaben sie ihnen mit Freuden, dachten uns: sieh mal an, wie unsere Sowjetpropaganda selbst hier unter den Nomaden vorwärts marschiert. Die Stämme dort stehen nämlich noch auf einer sehr niedrigen Kulturstufe, sind Jäger und Fischer, richtige Hunnen aus der Zeit Attilas— na also, wie gesagt, wir gaben ihnen die Zeitungen und waren sehr stolz auf unsere Erfolge, bis wir eines Tages dahinterkamen, dass unsere Kirgisen aus den Zeitungen Zigaretten drehten und unsere ganze schöne Sowjetpropaganda in die Luft bliesen..."
In das Lachen, das losbricht, fragt jemand: „Ja aber wenn sie die Zeitungen nur dazu brauchten --weshalb
verlangten sie denn besonders das illustrierte Blatt?" „Siehst du, mein Lieber, das fragten wir uns auch, konnten aber den Grund lange nicht erfahren, bis uns einmal ein alter Kirgise verriet, dass das Papier des illustrierten Blattes beim Verbrennen besser rieche - deshalb die erhöhte Nachfrage!"
Er wartet eine Weile, bis sich das Lachen gelegt hat und schließt dann, noch Immer zwinkernd, aber doch mit einem ernsten Unterton in der Stimme:
„Aber das war vor drei Jahren - jetzt sieht es dort unten schon ganz anders aus, das könnt ihr mir glauben!" Einer will lachen, aber ein anderer sagt ganz ernst: „Nein wirklich, ich habe vor einigen Tagen mit einem unserer ersten Wissenschaftler, einem Ethnologen, gesprochen, der gerade von einer mehrmonatigen Forschungsreise aus dem Nomadengebiet zurückgekehrt ist und erzählte, dass diese Nomadenstämme, die noch nicht einmal den Hackbau kennen, schon eine ganze Menge von Radioapparaten besitzen. Wenn sie ihr Lager aufschlagen, befestigen sie die Antenne an einem Speer und hören der Musik des Moskauer Senders zu..." Die Zeitmaschine! Die Zeitmaschine! Eben noch Hunnenspeer und schon Radioantenne!
UdSSR! Sowjetmacht! Wunderbare, abenteuerliche und doch so nüchtern wirkliche, zielbewusste Zeitmaschine, auf der 150 Millionen, geführt von einer jungen Klasse, sich den Weg zu bahnen versuchen aus dumpfer Vergangenheit in ein neues, lichteres Jahrhundert!

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