Konflikt auf der Sucharewka
Es war auf der Sucharewka, auf diesem immer von Menschen wimmelnden Marktplatz, wo in den ersten Jahren nach der Revolution die Männer von der Schwarzen Börse einander die Kursdifferenzen zwischen Nikolairubeln, Kerenskigeld und Sowjetnoten zuflüsterten; wo später die „innere Emigration" — nur um nicht arbeiten zu müssen, und weil sie immer noch glaubte, das Sowjetregime sei nur ein Übergang, und es komme bloß darauf an, irgendwie zu „überwintern" - Stück für Stück ihren Hausrat verkaufte; wo zur Zeit der NÖP die kleinen Gauner ihre großen Geschäfte machten, und wo heute, neben Straßenhändlern mit und ohne Lizenz, Bauern, die zum Kolchosbasar in die Stadt gekommen sind, ihre Waren: dottergelbe Butter, hellgrünen Lauch, weißen und honigfarbenen Käse, bräunlich überkrustete Milch, Eier, Quark, Zwiebeln und Gurken feilbieten.
Wir schlängelten uns langsam durch die losen Gruppen feilschender, gaffender, gestikulierender Menschen durch, als wir plötzlich vom Wirbel eines eben erst in Bildung begriffenen Menschenknäuels erfasst wurden. „Was ist los?"
„Man hat zwei verhaftet!" „Wen denn? Was haben sie angestellt?" „Wahrscheinlich mit Tabak gehandelt, gestern hat man auch einen erwischt, der feuchten Tabak verkauft hat, schwarz noch dazu."
„Ach Unsinn, wegen zweier Tabakhändler gibt es doch nicht einen solchen Auflauf. Das muss was Ernsteres sein... Übrigens, warum hat der den Tabak denn feucht verkauft?"
„Weil er schwerer wiegt, selbstverständlich... Drängeln Sie doch nicht so, Bürgerin, Sie kommen ja noch rechtzeitig genug zum Schlachtfest! Also Sie glauben nicht, Genosse, dass es Tabakhändler... Hoppla!" In die Menschenmasse rundum kam Bewegung; wir wurden nach vorne geschoben und waren unversehens in der ersten Reihe.
Da standen, zu beiden Seiten eines schmächtigen, bebrillten Milizionärs, den sie um eine gute Kopflänge überragten, zwei hochaufgeschossene, halbwüchsige Burschen, offenbar die beiden Sünder, — aber sie machten durchaus nicht den Eindruck ertappter Verbrecher, und auch der Milizionär sah nicht nach inquirierender Obrigkeit aus, und überhaupt entbehrte die ganze Szene da vor uns jener feierlichen Gewitterschwüle, die bei uns in Europa über den Amtshandlungen der im Namen des Gesetzes einschreitenden Sicherheitsorgane schwebt. Die Frau, die vorhin so gedrängelt hatte, erfasste mit einem Blick die Situation und klagte; in ihrer Stimme lag die ganze herbe Enttäuschung des um „seinen" Knock-out betrogenen Sportkiebitzes:
„Da glaubt man, dass welche verhaftet werden, und dabei stehen sie da und diskutieren."
Sie diskutierten wirklich. Unser Nachbar zur Linken, ein kleiner Mann mit einem großen Kopf und einer noch größeren Kaukasiermütze, klärte uns auf: man diskutiere darüber, ob ein Sowjetbürger, der den Anspruch darauf erhebe, ein Kulturmensch zu sein, einen anderen Sowjetbürger so beschimpfen dürfe, wie es der Bürger zur Linken des Milizionärs in bezug auf den Bürger zu seiner Rechten getan habe.
Hinter uns, Irgendwo in der Menge, fragte eine tiefe Stimme auf Englisch:
„Können Sie sich eine solche Polizeiszene bei uns vorstellen, Dick?"
Eine andere Stimme erwiderte:
„Ich bin doch noch bei Trost, Mann. Genauso gut könnte ich mir vorstellen, dass unser Intelligence-Service öffentlich an einem Volksfest teilnimmt und beklatscht wird, wie hier die GPU am Ersten Mai, oder dass man sich bei uns den Leiter von Scotland-Yard als Öldruck an die Wand hängt wie hier den Dsershinski..." Ein dicker, roter Mann mit Uhubrauen und einem gesträubten Schnauzbart drängte sich neben uns vor und erkundigte sich dröhnend:
„Also was sind das wieder für neue Sitten, Bürger?" Ein paar Stimmen forderten Ruhe, aber der Schnauzbärtige ließ sich nicht einschüchtern: „Man wird sich doch noch für eine öffentliche Angelegenheit interessieren dürfen, Bürger. Ich meine, man wird sich doch noch dafür interessieren dürfen, seit wann es denn Sitte ist, dass einer die Miliz holt, wenn ihm ein anderer ein kräftiges Wörtchen sagt?" „Das hängt immer von dem betreffenden Wörtchen ab, Bürger", sagte streng und gewichtig unser Nachbar mit der Kaukasiermütze, „wenn er Sie zum Beispiel, wie das hier der Fall war, Analphabet schimpft...?" Mir stieg das Lachen in die Kehle, aber es blieb stecken, denn mich überfiel plötzlich der Gedanke:
„Wie war das doch damals vor sechs Jahren, als du zum ersten Mal herüberkamst? Wie schimpfte man damals! ,Burshuj'. Und ein Jahr später? ,Nepmann'. Und vor vier Jahren? ,Hooligan'. Und 1929? ,Kulak'." Ich muss denken:
Burshuj, Nepmann, Analphabet.....Du sollst dem Volk aufs Maul schauen", sagte sich Luther, als er die Bibel übersetzte, „dann wird es dich verstehen." Hier sagte ich mir: „Du musst dem Volk aufs Maul schauen, dann wirst du verstehen, was mit ihm in diesen wenigen Jahren vorgegangen ist."
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