Die Todgeweihten
„Nein!" sagte der Mann in dem Abteil, in das wir einstiegen.
„Ich sage ja nichts gegen die Sowjetmacht- Gott bewahre -, aber..."
Da zog die Lokomotive mit einem Ruck an, und Rostow, die noch immer nicht ganz von den Wunden des Bürgerkriegs genesene Stadt, Rostow, der narbenbedeckte Kosak mit dem blanken Säbel des Donlaufes an der Seite und dem flatternden rauchbraunen Mantel, Rostow mit seinen breiten Straßen und Kaviar essenden Kutschern (roten grobkörnigen gibt es und ganz kleinen schwarzen, zähe und glänzend wie Stiefelwichse), Rostow ließen wir hinter uns, und unser Gegenüber setzte seine Betrachtungen fort, aus denen ihn das Anfahren des Zuges herausgerissen hatte. Er hatte eine pergamentgelbe Glatze, um die der Kranz grauer Haare wie eine Stachelhecke lief. Und unter den Augen, zu beiden Seiten der bläulichen Nase, dicke Wülste. „Ich sage ja nichts gegen den Sownarkom" (Rat der Volkskommissare) „oder die Rabkrin" (Arbeiter- und Bauerninspektion) „oder gegen die Partei - Gott und der Heilige Nikolaj Tschudotworez, der Wundertäter, sind meine Zeugen, dass ich einer solchen Herabsetzung dieser jedem guten Bürger teueren Institutionen und Organisationen gar nicht fähig bin..."
Und dann erfuhren wir (unsere dreiköpfige Reisegesellschaft und die schwerhörige Bäuerin, die im „Oberstock", auf dem Schlafplatz oberhalb des Blaunasigen, lag und aus ihrem beneidenswert festen Schlummer nur erwachte, um zu fragen, ob wir schon in Apolonskaja seien), dann erfuhren wir also noch, dass er schon deshalb keiner Auflehnung gegen Behörden und Obrigkeiten fähig sei, weil er eine „demütige Ader" habe („von der Mutter geerbt:
Valeria Leontjewna, aus dem Semipalatinsker Gebiet war sie und hatte Gesichte").
Also kurz und gut, es läge ihm ganz fern und er sei dazu auch gar nicht imstande, aber die Bolschewiki
trieben es denn doch etwas arg in ihrem Kampf gegen alte gute Eigenart und Sitte.
„Nichts bleibt übrig von unserem alten Mütterchen Russland, gar nichts mehr,-sie verscharren es mit Leib und Seele..." Folgte wieder ein längerer Sermon über seine Liebe zu den Sowjetbehörden und seine granitene Staatsbürgertreue -und dann rückte er mit dem heraus, was er eigentlich auf dem Herzen hafte. „Da erlebt man Dinge..."
Dinge, die einen trotz aller Liebe zu den Obrigkeiten und der geerbten „demütigen Ader" (von der Mutter; Valeria Leontjewna...) dazu bringen...
Ja, also - er war in Moskau gewesen. Bei einer der Zentralbehörden. Hatte sich seinen Bescheid geholt und war dann ein wenig durch die Straßen geschlendert.
„Geschlendert — so, ohne Ziel ---wie man es in einer Stadt eben tut, in der man noch bleiben muss, weil der Zug erst nachmittags abgeht. (Die Züge, die Städte verleiten einen ohnehin zum Nichtstun, auf dem Dorf ist das ganz anders und überhaupt: alles Böse kommt von der Stadt — aber ich will nichts gesagt haben, Bürger...)" Nun und da war es geschehen.
Vor dem Haus des „Export-Chleb" (Getreideausfuhrgesellschaft).
„Es standen schon hübsch viel Leute dort, als ich zufällig vorüberkam. Nun, ich stellte mich dazu. Hatte ja nichts zu tun. (Die Züge, die Städte verleiten einen... aber ich will nichts gesagt haben, Bürger!)
ich stelle mich also dazu und warte. Ich warte. Die andern warten. Alle warfen wir.
,Worauf warten wir, Bürger?' frage ich einen Mann neben mir, einen großen Mann in einer Ballonmütze und mit dem Abzeichen der Aviachim (Anm.:(eigentlich Ossoaviachim) = Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, des Flugwesens und der Chemie in der UdSSR.) an der Bluse. Er weiß es auch nicht. (Auf dem Dorf ist es ganz anders und überhaupt...) ,Also gut', sage ich, ,warten wir denn, bis wir erfahren, worauf wir warten!' Wir warten also. Ich warte. Die anderen warten. Alle warten wir. Endlich schreit einer vorn: ,Da bringt man sie!' Alles beginnt sich nach vorn zu drängen - und was glauben Sie, bringt man aus dem Haus und lädt es auf einen Wagen --- einen Stschot (Anm.: primitive Rechenmaschine - ein Holzrahmen mit auf Querdrähten aufgezogenen Kugeln -, die bei uns bisweilen als Kinderspielzeug Verwendung findet, in Russland aber in keiner Kanzlei, keinem Laden, keinem Schalterhäuschen fehlt und mit verblüffender Geschicklichkeit gehandhabt wird.). Und dann noch einen und noch einen, zehn, zwanzig, dreißig... alle, die sie oben in den Büros hatten.
,Wohin damit?' frage ich einen Bengel, der auf dem Wagen steht. ,Was soll das? Hat der Export-Chleb - Gott sei davor - Krach (Anm.: gemeint ist Bankrott.) gemacht, dass man das Zeug hier fortführt, oder hat man wieder einmal den Beamtenapparat vergrößert (trotz des Regimes der Ökonomie!) und übersiedelt in ein größeres Haus?'
,Keines von beiden, aber oben brauchen sie keinen Stschot mehr...'
,So? Und wie werden sie denn rechnen, Schlaukopf du?'
sage ich. - ,Mit Maschinen!'
,So, Maschinen? Was für Maschinen denn?!'
,Was für Maschinen? - Rechenmaschinen eben, elektrischen Dingern. Oben drückst du auf einen Knopf und unten fällt dir ein Papier heraus, auf dem schon alles fix und fertig ausgerechnet steht, was du brauchst...'
,Junge!' sage ich, willst du einen Narren aus mir machen...? und will ihm eine versetzen, aber da fällt mir einer in den Arm, ein Mann mit einem Hut (Sie wissen, was das bedeutet, Bürger, selbst in Moskau, wo Hüte immerhin nicht so selten sind und doch kaum einer auf hundert Mützen kommt!), und sagt, der Junge habe recht und er selbst habe schon solche Maschinen gesehen - aus Frankreich kämen sie oder Deutschland - und überhaupt habe die Stunde des Stschot geschlagen und in absehbarer Zeit werde er ganz verschwinden — und wir müssten eben aus dem Kopf zu rechnen lernen, wenn wir schon nicht überall die teueren Maschinen einführen können und in zehn Jahren..."
Er verstummt. Sitzt in dumpfes Brüten versunken da. Die Nacht reckt sich hoch und wirft mit jäher Bewegung ihren Mantel über die Erde. Dunkelheit. Der Zug rattert.
Sein Rattern klingt wie das letzte hohle Abschiedsgerassel der unzähligen auf den Aussterbeetat gesetzten Stschots. Rat-tat-tat... Rat-tat-tat...
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