Die Zeitmaschine
Cheops und Ford
Es ist ein eigen Ding um Bücher, die man infolge eines tückischen Zufalls nicht zu Ende lesen konnte: sie sind vom Reiz geheimnisvoller Möglichkeiten umwittert, ihre Helden bestehen in unserer Phantasie viel buntere Abenteuer als in den ungelesenen Kapiteln, und ihre Handlung spinnt sich weit über den Schlusspunkt der letzten Seite in die Unbegrenztheit.
Sie bleiben unvergessen, diese nicht zu Ende gelesenen Bücher; unvergessen und der Erinnerung liebe Freunde. Mehrerer solcher Freunde entsinne ich mich („Old Shurehand" zum Beispiel, gegen Ende des zweiten Bandes vom Physikprofessor jählings „geschnappt"; „So... und jetzt wiederholen Sie mal, was ich eben über das Verhältnis von Kraftarm zu Lastarm gesagt habe!"), mehrerer solcher Bücher erinnere ich mich also, aber keines hat mich nachher so oft besucht, wie die „Zeitmaschine" von Wells, -vielleicht deshalb, well es mir im zarten Alter von 39 Seiten entrissen wurde, vielleicht auch, weil sein „Hinscheiden" mich vierzehn Tage Freiheit kostete (wir waren damals - siebzehnjährig - noch knapp vor Torschluss eingezogen worden und wurden eiligst für die Reserveoffizierslaufbahn und den Heldentod abgerichtet... und ich trug das Buch in meinem Brotbeutel mit mir, wo es von einem inspizierenden Feldwebel gefunden und beschlagnahmt wurde, während ich vierzehn Tage Kasernenarrest bekam: sieben Tage, weil „sowas" nicht in den Brotbeutel gehörte und sieben, weil das Buch von einem „feindlichen Ausländer" war).
Immerhin war mir aber die prächtige Maschine, mit deren Hilfe man nach Belieben durch die Jahrhunderte kutschieren konnte (eben noch warst du im trojanischen Krieg und schon bist du, schwupp, mitten in der französischen Revolution!), mit den Jahren etwas aus dem Gedächtnis gekommen, als ich plötzlich an sie erinnert wurde. Es war in Moskau, im Mali Snamenski pereulok - jetzt Marx-Engels-Straße umbenannt - und wir hatten große Eile. Unser Iswostschik wusste das und hatte sein Pferdchen bisher auch brav angetrieben, hielt aber plötzlich angesichts einer Menschenansammlung, die sich vor dem Holzgerüst des Neubaues beim Marx-Engels-Institut staute. „Was gibts? Weiter! weiter!"
Aber unser Iswostschik war schon vom Bock hinunter und in der Menge verschwunden.
Vorher hatte er allerdings „sejtschas!" gesagt (was „sofort" heißt und eine kleine Ewigkeit bedeutet), weshalb wir denn auch aus dem Wagen kletterten, ein wenig ärgerlich und ein wenig neugierig, und ebenfalls in der Menge untertauchten, die augenscheinlich etwas ganz besonders Sehenswertes bestaunte, denn von vorne, aus den ersten Reihen, drangen laute Rufe der Bewunderung und des Entzückens zu uns.
„Vorwärts! Drängt euch vor!", sagte Elly, „zu spät kommen wir jetzt ohnehin schon, sehen wir uns wenigstens an, was es da gibt!"
Was leicht gesagt, aber schwer auszuführen war, denn die Menge stand da, wie eine Mauer. Was konnte es eigentlich auf dem Bauplatz zu sehen geben? Wir waren erst gestern hier vorbeigekommen und hatten nichts Besonderes beobachtet, außer der äußerst primitiven Art der Beförderung von Ziegeln, Balken und Traversen vom Bauplatz hinauf in die oberen Stockwerke: vierzig Mann hatten da im Schneckentempo einen eisernen Tragbalken eine schiefe Rampe hinan geschleppt, der bei uns zu Hause mit Hilfe eines Krans in wenigen Minuten gehisst worden wäre. Außer uns Fremden hatte aber niemand sonst etwas Besonderes, Bemerkenswertes an dieser Beförderungsmethode gefunden, wir waren ganz allein vor dem Bauplatz gestanden. Und jetzt diese Menge! Endlich hatten wir uns bis in die erste Reihe durchgearbeitet und sahen die Sandhaufen, Ziegelstapel, Gerüste und Rampen vor uns.
Rundherum stand die gesamte Bauarbeiterbelegschaft, standen Hunderte von Passanten und starrten in freudiger Erregung einen Lastkraftwagen mit moderner Kippvorrichtung an, der in der Mitte des Bauplatzes hielt und unaufhörlich hinauf- und hinunterkippte. Was bedeutete das?
Einer unserer Nachbarn belehrte uns: der Lastwagen -eben erst aus dem Ausland gekommen - hatte seine erste Arbeitsfahrt hierher gemacht, die Ladung ausgeleert und eben wieder abfahren wollen, als das bisher unbekannte technische Wunder jemandem vom Bau aufgefallen war. Man hatte den Chauffeur und seinen Wagen zurückgehalten, die ganze Belegschaft alarmiert, die Arbeit unterbrochen...
„Nun, und jetzt steht der Wagen schon eine halbe Stunde da, und der Chauffeur muss ihn andauernd ,kippen'..." Der arme Kerl! Er war schon ganz rot im Gesicht und fuhr sich mit der freien Hand immer wieder über die Stirn,- mit der andern aber werkte er an den Hebeln der Kippvorrichtung herum. „Auf! Ab!--Auf! Ab!"
Und die Zuschauermenge begleitete die Bewegungen des Maschinenwundertiers mit immer neuen kindlichen Freudenausbrüchen.
Irgendwo unweit von uns erhob sich eine mildvollbärtige, eine Professorenstimme und sagte:
„...wobei zu beachten wäre, dass die Art, wie man hier beim Häuserbau in Ermanglung von Flaschenzügen oder Hebekränen noch die ganz primitiven schrägen Holzrampen benutzt, sich in nichts von den Methoden der alten Ägypter unterscheidet, die ihre Pyramiden auch mit Hilfe der einfachen angeschütteten oder konstruierten Rampe gebaut haben..." Und „Die Zeitmaschine!" sagte Elly und stieß mich an. „Deine
Zeitmaschine, Franz: vor einer halben Stunde war man hier noch bei Cheops und jetzt ist man mitten im Zeitalter der Autokippwagen von Ford..."
Ein Milizionär kam auf uns zu und sagte:
„Bürger, die Leute dort hinten wollen auch an die Reihe kommen, lasst jetzt die mal vor!..."
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