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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Eine verlorene Wette

„Oh, ich glaube, wenn man es darauf abgesehen hätte, Stoff für romantisch klingende und doch wahre Geschichten zu sammeln, so könnte man das hier vielleicht noch besser tun als in Magnitogorsk!" sagt der Sekretär des Stalinsker Parteikomitees, wie wir ihm von der Klondike-Romantik unserer ersten Magnitogorsker Stunden erzählen. „Hier konnte man wirklich vor drei Jahren noch Pelzjägern aus Coopers Lederstrumpf begegnen, braunen Schorzen (Anm.: Turktatarischer Volksstamm in den Bergen des Kusnezker Ala-Tau.) und verwitterten ,Bleichgesichtern'; hier traf man noch richtige Waldläufer an, Kerle, die von der Jagd und vom Goldsuchen lebten und die Goldnuggets tatsächlich in der Tasche trugen (jetzt arbeiten in den Bergen schon genossenschaftlich organisierte Goldsucherarteis und Pelzjägergruppen); hier war ja Einöde, Steppe, Busch und Urwald; hier standen, im Frühling neunundzwanzig, ein Dutzend Wellblechbaracken und ein Dutzend in Hütten umgewandelte räderlose Waggons am Ende einer in die Taiga führenden Zweigbahnstrecke; hier sah es so aus wie früher wohl im amerikanischen Westen. Und es ging auch so ähnlich zu: da kamen wir eines Tages durch einen Zufall dahinter, dass wir zwar schon hundertundfünzigtausend Einwohner hatten, aber noch immer nicht mehr als drei berittene Milizionäre und eine einzige kleine Arrestzelle. Gewiss, die Zahl der Verbrechen ist bei uns im Sinken begriffen, die Sowjetunion ist jetzt sogar das einzige Land, wo die Kriminalität zurückgeht, aber selbstverständlich gibt es bei uns noch Kriminelle, und selbstverständlich suchen sich die Verbrecher, schon weil die ,Arbeit' dort leichter und die Gefahr, erwischt zu werden, geringer ist, mit Vorliebe die neuen großen Industriezentren aus; wir hatten also auch hier in Stalinsk unerwünschten Zuzug - na, und eines Tages stattet so ein Bursche der Wohnung unseres zweiten Sekretärs einen Besuch ab, hat aber Pech und wird gefasst; man übergibt ihn der Miliz, aber am nächsten Tag kommt er wieder in die Wohnung des Sekretärs: Er bitte um Entschuldigung, er wäre natürlich nicht wieder erschienen, aber er habe leider gestern sein Taschenmesser vergessen! Auf die Frage, wieso er denn frei herumlaufe, gibt er zur Antwort, die Miliz habe ihn nicht behalten können, weil die einzige Arrestzelle schon besetzt war. Über dem Bau von Fabriken und Baracken und Klubs und Schulen hatten wir das Arrestlokal, und bei der Vermehrung der Kader die Miliz vergessen!
Übrigens, beim Bau der Fabriken ging auch nicht alles so glatt. Da hatte man den Bau der Kokerei auf einem Terrain projektiert, das sich - als die Arbeiten schon in vollem Gange waren - als altes Sumpfgelände mit unterirdischen Morästen erwies. In der Plankommission saßen Schädlinge. Den Plan ändern und die Kokerei anderswo bauen, das ging nicht mehr; man hätte dadurch das ganze Produktionsprogramm über den Haufen geworfen, die Gesamtanlage des Werks wäre in Unordnung gekommen und der Transport für immer kompliziert und verfeuert worden. Es gab keinen anderen Ausweg, als den Sumpf mit Beton zu sättigen, das hieß: ein riesiger Betonquader, sieben Meter hoch und zweihundertfünfzig Meter lang, musste in den Morast versenkt werden. Der französische Ingenieur, der den Kokereibau leitete, rechnete aus, dass die Betonierungsarbeiten ein volles Jahr dauern mussten, weil man nicht mehr als fünf Betonklötze im Tag fertigstellen konnte. Unsere Stoßbrigaden und zwei unserer Ingenieure gaben jedoch der Gesamtbelegschaft ihr Wort, dass sie fünfundfünfzig Klötze im Tag fertigstellen und die ganze Arbeit in einem Monat beenden würden. Der Franzose wettete darauf um den Valutateil seines Gehalts, dass wir nicht mehr als zehn Betonklötze täglich herstellen und versenken könnten ... und verlor die Wette. Unsere Stoßbrigadler bauten aus alten Motoren, unbrauchbaren Maschinenteilen, Zahnrädern und Ketten vorsintflutlich aussehende, aber gut funktionierende Rammvorrichtungen; sie hatten eine Methode erfunden, den Kies in großen Mengen zu erwärmen und warmzuhalten, so dass man selbst bei den schärfsten Frösten guten Beton herstellen konnte; und unsere Betonierer schafften selbst bei fünfundvierzig Grad Kälte zweihundertzwanzig Prozent der vom Plan vorgesehenen Tagesleistung." „Wie beim Staudammbau von Magnitnaja!" sagt Alex.
„Und wie beim Bau der Brücke über den Ob", füge ich hinzu, „und wie bei der Montage des Hochofens II in Magnitogorsk und wie überall hier!" Ja, überall in diesem Lande auf diesem riesigen Bauplatz einer besseren Welt: unendliche Schwierigkeiten, scheinbar unüberwindliche Hindernisse, keine Erfahrungen, zu wenig Schulung, nicht genug Maschinen und Fachleute, aber dafür der unbesiegbare heroische Elan des neuen Menschen!

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