Zwei kurze, zwei  lange...
  Was heißt das, „Zwei kurze, zwei lange...?", fragte mich Paul verwundert, als er diese Worte in meinem Notizbuch fand. Es war auf der Heimreise und er blätterte in meinen Aufzeichnungen herum, um den Namen einer gurischen Ortschaft zu finden, den er für das Verzeichnis unserer Fotoaufnahmen brauchte. „Was heißt das ,Zwei kurze, zwei lange...?' Ist das ein..." 
    „...Häkel- oder Strickmuster?" fiel ihm Elly in die Rede. „Oder ein Notsignal aus dem internationalen Schifffahrtscode, das du dir vor Beginn unserer Seereise aufnotiert hast?" 
    „Nein. ,Zwei kurze, zwei lange...', das ist das Moskauer Wohnungselend  in  nuce  sozusagen,  das  ist  eines  der  Wundmale,  die  die  Entbehrung  dem  russischen  Proletariat  noch heute  ins  Fleisch  brennt.  ,Zwei  kurze,  zwei  lange...'  ist das  Sinnbild  der  kapitalistischen  Blockade  der  Sowjetunion  und  der  unterbliebenen  oder  missglückten  Revolutionen  in  der  übrigen  Welt.  Es  ist..." Aber  da  wussten  sie  bereits,  was  „Zwei  kurze,  zwei  lange..." bedeutete,  weil  sie  sich  der  gelblichen  Zettel  neben  den Schellen  der  Moskauer  Wohnungstüren  erinnerten,  jener Zettel,  die  etwa  so  aussahen: 
    Man gebe, um die einzelnen Bürger-Wohnparteien  dieser Wohnung zu verständigen, folgende Glockenzeichen:  
   
    Owtschinikow, W. P. ein kurzes 
    Iwanow, S. 0. zwei kurze 
    Lawrowskaja, T. J. drei kurze 
    Schurin, A. A. vier kurze 
    Pokidow, M. A. zwei lange 
    Gorski, P. S. ein kurzes, ein langes 
    Litwinowa, F. M. zwei kurze, zwei lange 
    Oder wie dieser, der aber nicht an einer Türe, sondern a der Anschlagtafel des Hauskomitees hing: 
   
    Dem Bürger Gorin, Alexander Valerlanowitsch, wird auf  Grund des Dekrets über die Zuteilung von Wohnräumen und in Anbetracht seiner  Qualifikation als verantwortlicher wissenschaftlicher Arbeiter ein zweites  Zimmer in Wohnung Nr. 5 zugewiesen. 
    Das Komitee der Hauskommune 
  Oder wie jener dritte im Vorzimmer einer Wohnung: 
  Bürger, Genossen! 
    Werft keine Abfälle in den Abguss der  Wasserleitung! Schont das öffentliche Eigentum! Übt proletarische Solidarität  mit der Genossin Schentschewa, die den Abguss säubern muss! 
  Und in der Ecke dieses „Aufrufs" die bittere Frage eines satirisch veranlagten Wohnungsinsassen: „Wohin mit den Abfällen, wenn nächstens auch der Abort ,Wohnraum' geworden sein wird?" 
    „Zwei kurze, zwei lange...": trauriges Dokument einer noch in Lumpen gehüllten Gegenwart, die ihre Kinder zu zwanzig in eine Wohnung pferchen muss, weil sie zu arm ist, um neue Häuser zu bauen, wenn sie eine zweite sibirische Eisenbahn und Dutzende neuer Elektrizitätswerke, wenn  sie  Tausende  von  Lesestuben  und  Bauernheimen, Zehntausende  von  Traktoren  und  Lokomotiven  bauen, eine  ganz  vernichtete  Industrie  wieder  erwecken  muss. Jawohl,  einer  in  Lumpen  gehüllten  Gegenwart,  die  aber um  nichts  in  der  Welt  mit  der  Vergangenheit  tauschen möchte,  einer  Vergangenheit,  an  die  sie  sich  (in  diesem Fall  mit  Lachen)  erinnert,  wenn  sie  im  Büro  des  Hauskomitees  unter  Glas  und  Rahmen  folgendes  liest: 
  Paris, den 15. VII. 1922 An das Hauskomitee des Hauses  Poslednistr. 7.  
    Wie ich hiesigen Zeitungen  entnehme, ist die Sowjetregierung im Begriffe, die Wohnhäuser an ihre früheren  Besitzer zurückzugeben. Ich ergreife deshalb die Gelegenheit, mich Ihnen als  den neuen Besitzer des von Ihnen verwalteten Hauses vorzustellen, das ich - wie  Sie aus der beigeschlossenen Bestätigung ersehen - von seinem früheren Besitzer  Wladimir Alexandrowitsch Bulkin gekauft habe. Ich ersuche, das Haus gut in Ordnung  zu halten, bis ich selbst nach Moskau kommen und die Verwaltung übernehmen  werde. Ich hoffe, dass das in Kürze der Fall sein wird. 
    Hochachtungsvoll I. S. Ochitowitsch 
  Er hofft, - und wenn er nicht gestorben ist, so hofft er heute noch... 
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