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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Zwei kurze, zwei lange...

Was heißt das, „Zwei kurze, zwei lange...?", fragte mich Paul verwundert, als er diese Worte in meinem Notizbuch fand. Es war auf der Heimreise und er blätterte in meinen Aufzeichnungen herum, um den Namen einer gurischen Ortschaft zu finden, den er für das Verzeichnis unserer Fotoaufnahmen brauchte. „Was heißt das ,Zwei kurze, zwei lange...?' Ist das ein..."
„...Häkel- oder Strickmuster?" fiel ihm Elly in die Rede. „Oder ein Notsignal aus dem internationalen Schifffahrtscode, das du dir vor Beginn unserer Seereise aufnotiert hast?"
„Nein. ,Zwei kurze, zwei lange...', das ist das Moskauer Wohnungselend in nuce sozusagen, das ist eines der Wundmale, die die Entbehrung dem russischen Proletariat noch heute ins Fleisch brennt. ,Zwei kurze, zwei lange...' ist das Sinnbild der kapitalistischen Blockade der Sowjetunion und der unterbliebenen oder missglückten Revolutionen in der übrigen Welt. Es ist..." Aber da wussten sie bereits, was „Zwei kurze, zwei lange..." bedeutete, weil sie sich der gelblichen Zettel neben den Schellen der Moskauer Wohnungstüren erinnerten, jener Zettel, die etwa so aussahen:
Man gebe, um die einzelnen Bürger-Wohnparteien dieser Wohnung zu verständigen, folgende Glockenzeichen:

Owtschinikow, W. P. ein kurzes
Iwanow, S. 0. zwei kurze
Lawrowskaja, T. J. drei kurze
Schurin, A. A. vier kurze
Pokidow, M. A. zwei lange
Gorski, P. S. ein kurzes, ein langes
Litwinowa, F. M. zwei kurze, zwei lange
Oder wie dieser, der aber nicht an einer Türe, sondern a der Anschlagtafel des Hauskomitees hing:

Dem Bürger Gorin, Alexander Valerlanowitsch, wird auf Grund des Dekrets über die Zuteilung von Wohnräumen und in Anbetracht seiner Qualifikation als verantwortlicher wissenschaftlicher Arbeiter ein zweites Zimmer in Wohnung Nr. 5 zugewiesen.
Das Komitee der Hauskommune

Oder wie jener dritte im Vorzimmer einer Wohnung:

Bürger, Genossen!
Werft keine Abfälle in den Abguss der Wasserleitung! Schont das öffentliche Eigentum! Übt proletarische Solidarität mit der Genossin Schentschewa, die den Abguss säubern muss!

Und in der Ecke dieses „Aufrufs" die bittere Frage eines satirisch veranlagten Wohnungsinsassen: „Wohin mit den Abfällen, wenn nächstens auch der Abort ,Wohnraum' geworden sein wird?"
„Zwei kurze, zwei lange...": trauriges Dokument einer noch in Lumpen gehüllten Gegenwart, die ihre Kinder zu zwanzig in eine Wohnung pferchen muss, weil sie zu arm ist, um neue Häuser zu bauen, wenn sie eine zweite sibirische Eisenbahn und Dutzende neuer Elektrizitätswerke, wenn sie Tausende von Lesestuben und Bauernheimen, Zehntausende von Traktoren und Lokomotiven bauen, eine ganz vernichtete Industrie wieder erwecken muss. Jawohl, einer in Lumpen gehüllten Gegenwart, die aber um nichts in der Welt mit der Vergangenheit tauschen möchte, einer Vergangenheit, an die sie sich (in diesem Fall mit Lachen) erinnert, wenn sie im Büro des Hauskomitees unter Glas und Rahmen folgendes liest:

Paris, den 15. VII. 1922 An das Hauskomitee des Hauses Poslednistr. 7.
Wie ich hiesigen Zeitungen entnehme, ist die Sowjetregierung im Begriffe, die Wohnhäuser an ihre früheren Besitzer zurückzugeben. Ich ergreife deshalb die Gelegenheit, mich Ihnen als den neuen Besitzer des von Ihnen verwalteten Hauses vorzustellen, das ich - wie Sie aus der beigeschlossenen Bestätigung ersehen - von seinem früheren Besitzer Wladimir Alexandrowitsch Bulkin gekauft habe. Ich ersuche, das Haus gut in Ordnung zu halten, bis ich selbst nach Moskau kommen und die Verwaltung übernehmen werde. Ich hoffe, dass das in Kürze der Fall sein wird.
Hochachtungsvoll I. S. Ochitowitsch

Er hofft, - und wenn er nicht gestorben ist, so hofft er heute noch...

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