Ein Stückchen Europa
„Ja, wirklich, man kann sich hier an Europa erinnert fühlen!" sagt, auf eine Bemerkung von Alex hin, unser Tischnachbar, ein deutscher Ingenieur. „Nur das Bier taugt nicht viel, und der Hackbraten, den sie einem als Königsberger Klops vorsetzen, hat natürlich mit richtigem Klops nichts zu tun, und die neuesten deutschen Zeitungen sind reichlich zehn Tage alt!"
Er hat uns vorhin, als wir uns an die lange Tafel in der Mitte des Saales setzen wollten, angesprochen: Ob ich Monteur sei?... Nein? Also dann wolle er mich darauf aufmerksam machen, dass die lange Tafel nur für Monteure bestimmt sei und dass ich als Spezialist in höherer... Wie? Ich sei kein Spezialist? ...Ach so, in Geschäften? Nun, dann gehörten wir auch nicht an die Monteurtafel, sondern an einen der kleinen „Ingenieurtische" in den Fensternischen. „Denn Ordnung muss sein!" Auf diese Ordnung, und nicht auf die Zimmerpalmen, den Königsberger Klops, das Flaschenbier Marke „Ewropa" und die deutschen Zeitungen; auf diese uns so heimatlich anmutende Unterscheidung zwischen kleinen Tischen für bessere Leute und großen Tischen für Leute schlechthin bezog sich Alexens Bemerkung, dass man sich hier an Europa erinnert fühle.
Unser neuer Bekannter aber hat sie missverstanden. Und wie ich mich nicht enthalten kann, ihm das zu sagen, missversteht er auch mich und meint:
„Ja, diese Ordnung, die ist eben eine europäische Angelegenheit! Den Sowjetleuten fehlt dafür jeder Sinn! Die duzen sich als Ingenieure mit ihren Arbeitern und trinken als Rote Di
rektoren mit ihnen den Tee aus der gleichen Untertasse, — jawohl, aus der Untertasse, das habe ich erst neulich wieder gesehen! Und diese ,Sitten' wirken sogar ansteckend auf gewisse ausländische Spezialisten; natürlich nicht auf uns ,Firmenspezialisten' (Anm.: Ingenieure und Monteure, die von ausländischen Firmen auf kürzere oder längere Zeit zu Montagearbeiten in die Sowjetunion geschickt wurden und mit ihren Firmen, nicht mit den Sowjettrusts, im Vertragsverhältnis standen; sie wurden von ihren Firmen, und nicht von den Sowjetbehörden, ausgewählt.). Wir machen,
wie Sie sehen, diese Sowjetsitten nicht mit, und da wir hier in der Speisehalle unter uns sind, herrscht hier natürlich auch Ordnung. Sie hat sich übrigens spontan eingestellt. Wir haben nicht etwa einen formellen Beschluss gefasst: ,Monteure gehören dort hinüber, Ingenieure hierher!' Nein, das hat sich alles ganz von selbst so geregelt; man hat eben Tradition in sich, das ist es!" Wie es ihm hier gefalle? Mein Gott, man habe nun einmal diesen verdammten Beruf, der einen zwinge, immer wieder monatelang in irgendeiner Wildnis zu leben. Stalinsk sei keine Wildnis? Wieso? Nun ja, es gebe schon genug Menschen hier, und in jedem anderen Land würde man in einem werdenden Industriezentrum, in einer zukünftigen Großstadt, die heute schon dreihunderttausend Einwohner habe, mit seiner freien Zeit etwas anfangen können, aber hier?
„in der kleinsten südamerikanischen Stadt ist mehr los! Sie finden hier keine Bar, kein Tanzlokal, nichts! Und wenn die russischen Kollegen einmal einen gemütlichen Abend veranstalten, wie sie es nennen, dann geht es auch nicht ohne politische oder nationalökonomische Diskussionen ab, selbst bei Pfänderspielen wird von einem verlangt, dass man weiß, wie viel Bloomings es am Ende des Fünfjahrplans in der Sowjetunion geben wird! Es ist schauderhaft, und wenn nicht die Herrenabende wären... Was das ist? Ach, das sind so kleine Unterhaltungen, die wir ab und zu steigen lassen, mit Gesang und Besäufnis; wir haben uns da aus Moskau ein paar Kisten Schaumwein beschafft, der gibt eine ganz gute Bowle ab, und dann trinken wir auch Wodka mit Gin; das ist eine Erfindung der Amerikaner: man taucht ein Streichholz in Gin und hält es dann in ein kleines Glas Wodka... schmeckt ausgezeichnet und verursacht gar keinen Katzenjammer!" Ob die Arbeit nicht interessant sei? Was könne an einer Arbeit interessant sein, die man schon seit fünfzehn Jahren mache?
Immer wieder die gleiche Walzwerkmontage, immer wieder die gleiche Plackerei mit ungeübten, eingeborenen Arbeitern.
„Und wenn es wenigstens südamerikanische Indios oder malayische Kulis wären! Die haben noch Respekt in den Knochen; die kommen schon gelaufen, wenn der Ingenieur auch nur pfeift, aber hier... bitte, das soll keine Kritik an innerrussischen Verhältnissen sein; ich bin weder gegen noch für Sowjetrussland, ich kümmere mich überhaupt nicht um Politik; ich suche meine Arbeit So zu tun, dass meine Auftraggeber zufriedengestellt sind, das ist alles." Von den sozialistischen Arbeitsmethoden halte er nicht viel. Der Arbeiter werde zu selbständig, und das sei nicht gut. Der Arbeiter solle an seine Arbeit denken, und basta, jeder Gedanke mehr sei von Schaden... Wie? Die Initiative der Arbeiter? Der Heroismus der Stoßbrigaden? In Deutschland, England und Amerika sei es auch ohne das gegangen, sehr gut sogar. Die Leute hier sollten erst einmal lernen, mit den Instrumenten ordentlich umzugehen, das sei wichtiger, als über den Fünfjahrplan Bescheid zu wissen. Und was verstehe übrigens ein Bursche, der noch vor einem Jahr Kühe hütete, vom Fünfjahrplan?!... Was er selbst vom Fünfjahrplan halte? Offen gesagt, er kenne ihn zu wenig, er habe sich nie damit befasst; aber er glaube, es könne unmöglich klappen. Da habe man beispielsweise bei ihnen auf dem Walzwerkbau der. Hauptkran schon am ersten März in Betrieb nehmen wollen, er sei aber erst am zwanzigsten fertig geworden... Wie? Nein, einen anderen ähnlichen Fall kenne er nicht, aber man sage, dass auch der zweite Hochofen nicht rechtzeitig montiert sein werde...
„Aber der ist doch schon montiert!"
„Wirklich? Schon fertig? Pardon, das habe ich nicht gewusst. Ich lese nämlich keine Sowjetzeitungen. Nein, die deutschsprachigen auch nicht."
Aber dazu brauche er doch keine Zeitung. Die Hochöfen liegen kaum fünfzehn Minuten vom Walzwerkbau entfernt, ob er denn nicht ab und zu hinüberschaue, wie es dort stehe?
Wozu denn? Die anderen Bauplätze gehen ihn nichts an. Er hat mit dem Bau des Walzwerks zu tun, ihn geht nur an, was dort geschieht, alles andere ist ihm gleichgültig!... Nein, nein, er scherze nicht, er sei tatsächlich noch auf keinem anderen Bauplatz gewesen, ob ich es ihm nun glaube oder nicht!
Oh, ich glaube ihm, diesem Stückchen Europa, das von den Barbaren und ihrem Plan nichts wissen will. Wie sollte er auch Menschen verstehen, wie zum Beispiel jene zwei Männer, die irgendwo in Kasachstan auf einer verlorenen Haltestelle in unser Abteil zustiegen. Es war ein russischer Agronom mit einem jungen Usbeken; der Usbeke kannte nur zwei russische Worte, „charascho - gut" und „towarischtschi - Genossen", aber er begann doch ein Gespräch mit uns: er malte in den weißen Steppenstaub, der die Fensterscheibe bedeckte, zwei Zahlen „586" und „1040", dazu fragte er: „Charascho, towarischtschi?" Der Mann war, wie uns sein Begleiter erklärte, ein Bauer aus der Oase Chiwa. Er hatte vor kaum einem halben Jahr Schreiben gelernt und machte zum ersten mal eine Eisenbahnreise; er verstand bestimmt nichts von der Montage deutscher Walzmaschinen; er wusste bestimmt nicht um die Geheimnisse der amerikanischen Mischung von Wodka und Gin; ihm fehlte bestimmt jeder Sinn für europäische Ordnung; er hatte wahrscheinlich noch nie eine Fabrik gesehen, aber er wusste: „580", das bedeutete fünfhundertundachtzig neue Werke und „1040", das bedeutete eintausendundvierzig neue Maschinen-Traktoren-Stationen, errichtet und in Betrieb genommen gemäß den Forderungen des großen Plans.
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