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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Umsteigen... ins 21. Jahrhundert!

Negoreloje.
Ich hörte den Namen zum ersten Mal aus dem Munde eines glattgescheitelten Jünglings hinter dem Schalter des Reisebüros. An den Wänden hingen Plakate mit spinatgrünen Alpenwiesen, mit Butzenscheibenhäuschen, mit sonnenbeglänzten Bergesgipfeln in zartrosa gefärbtem Schnee,   mit  ansichtskartenblauen  Meeresküsten   und blonden Seejungfrauen, die ihren Schuppenschwanz kokett aus schaumbedeckten Wellen hervorstreckten und riefen: „Venga à Riccione, à Riccione, la Stella verde dell' Adriatico! Kommen Sie nach Riccione, nach Riccione, dem grünen Stern am Adriatischen Meer!" Und auf dem Schalterbrett lagen die Kursbücher der halben Welt. Der glattgescheitelte Jüngling aber fühlte nichts von dem Zauber der Alpenwiesen und Seejungfrauen, sondern fragte sachlich kühl: „Sie wünschen bitte?" Dann schob er mir die Karten zu. „In Negoreloje umsteigen! Die russischen Wagen haben eine andere Spurweite..." Und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Ich aber stand - die Fahrkarten nach Moskau in der Hand-noch eine Weile still da und sah zu den Seejungfrauen hinüber.
Ob es in Negoreloje... ?
Nein, in Negoreloje gibt es das nicht. In Negoreloje gibt es weder Butzenscheiben noch Seejungfrauen. Nur ein paar Hütten und Scheunen sind da, eine kleine Kirche, wenige Felder inmitten ausgedehnter Wälder... und an der Bahnstrecke einige lange Holzbaracken und ein „Büfett" in einem alten, ausrangierten Wagen. Denn Negorelojes Geschichte begann erst mit dem Tage, an dem die sowjetisch-polnische Grenzkommission auf der Landstraße einen Strich zog und festsetzte: „Die Grenze überschneidet die Bahnlinie Warschau-Moskau zwischen den Ortschaften Stolpcy und Negoreloje, fünfzehn Kilometer westlich der letzteren..." Wir fahren in die Station ein.
Es ist Abend. Eine vom Wind bewegte Laterne wirft unruhiges Licht auf den Bahnsteig, als sei sie über die plötzliche Unruhe, über das Auftauchen so vieler, durcheinander wimmelnder Menschen erschrocken. Aber man braucht ihr Licht fast nicht, denn über den dunkelbraunen Holzbaracken hängt, unwahrscheinlich silbern, der Mond wie ein großer runder Lampion. Es riecht stark nach frisch gefälltem Holz, nach Harz. Im Zollraum schauen Marx, Engels und Lenin einigermaßen verwundert von den Wänden auf die aufgeregten Menschen hinunter, die ihre Koffer und Reisetaschen öffnen.
„Da! Der erste Tschekamann!" Neugierig recken sich alle Hälse.
Die grüne Mütze ins Genick geschoben, kommt der „Genosse von der GPU" in den Raum und beginnt die Bücher durchzublättern, die von den Zollbeamten aus den Koffern genommen und beiseite gelegt wurden. Die Zollbeamten, es ist unter ihnen auch eine Komsomolzin, eine Jugendgenossin, arbeiten flink, aber sehr gründlich.
„Sie haben Seide mit. Wohin fahren Sie?... Nach Moskau? Da müssen Sie die Seide verzollen." Das sagt die Komsomolzin zu meiner Nachbarin, in deren Koffer sie die Seide gefunden hat. Und uns anderen erklärt sie: „Seide gehört nämlich zu den Dingen, die wir nicht unbedingt brauchen. Deshalb legen wir Zoll auf die Einfuhr. Maschinen lassen wir zollfrei herein oder Instrumente zum Beispiel..." Und schon wühlt sie in dem großen Koffer eines semmelblonden amerikanischen Journalisten. „Was ist denn das?"
Aus dem Koffer kommen viele Döschen in weiß-blauer Verpackung zum Vorschein: zehn, zwölf, zwanzig. „Was ist das?"
Die wässrigen Augen des Amerikaners blicken ratlos in der Runde umher. „Say, what..."
Schon will ich mich helfend als Dolmetscher einmischen, da beginnt das rotbetuchte Mädchen schallend zu lachen; es hat den Inhalt der verdächtigen Büchsen erraten.
„Milchkonserven! Milchkonserven schleppt er mit, weil er wohl glaubt, dass man bei den Bolschewiken nichts zu essen bekommt oder vergiftet wird..." Das Lachen wirkt ansteckend. Denen, die nicht Russisch verstehen, übersetzt man die Worte, und sie lachen mit. Nur der Amerikaner weiß noch immer nicht, was eigentlich um ihn herum vorgeht, und macht ein halb beleidigtes, halb hilfloses Gesicht.
Nachher, wie wir schon vor den abfahrtbereiten Waggons des russischen Zuges stehen, sagt der deutsche Professor zu seiner Frau: „Weißt du, ich kann mir ganz gut vorstellen, was sich der Amerikaner gedacht hat, als er die Milchkonserven mit auf die Reise nahm... es ist doch, hm, es ist eine ganz unbekannte Welt, in die man da hineinfährt; wer weiß, wie es dort zugeht, sogar die Wagen sehen ganz anders aus als bei uns..." „Sie haben recht, mein Herr", ertönt hinter uns eine Stimme. „Sie haben recht, man hat hier eine völlig andere Spurweite als drüben. Man steigt hier gleichsam um: ins einundzwanzigste Jahrhundert nämlich." Das Glockenzeichen, voll und tief, mahnt zum Einsteigen.

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