Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
http://nemesis.marxists.org

Zu denken, was ,unser Bruder' war...

Die „kleine Provinz" umfasst 86000 Hektar Land. 55000 sind mit Weizen, 2000 mit Roggen und 500, der Arbeiterkooperative zugewiesene, mit Gemüse bepflanzt; der Rest ist unbebaut. Achtzehnhundert ständige und sechstausendachthundert Saisonarbeiter bevölkern die neun „Siedlungen", die auf dem Gebiet des Staatsgutes liegen: acht Zelt-und Barackenlager, jedes Mittelpunkt eines Sowchosabschnittes, und die Basis, Mittelpunkt des ganzen Gutes. Der Chefagronom erzählt:
„Wenn die Arbeiter aus den Abschnitten am Ausgangstag hierher in die Basis kommen, so sagen sie, ,wir sind auf Besuch in der Stadt'. Eine Stadt ist es ja nun allerdings noch nicht, wie Sie sehen, aber in zwei Jahren..." Und während er uns zeigt, was schon ist - den Klub, das Verwaltungsgebäude, die Reparaturwerkstätte, die Kraftstation, die Rettungsstelle, die Schule, das Kooperativ-Warenhaus, die Kinderkrippe, die Speisehalle und die drei Wohnblocks - spricht er davon, was sein wird: In zwei Jahren werde aus der Reparaturwerkstätte so etwas wie eine kleine Fabrik geworden sein. In zwei Jahren werde der Kindergarten dreihundert statt sechzig Kinder beherbergen. Aus der Baugrube hier werde schon längst eine Radiostation emporgewachsen sein. An Stelle der Kalkstriche und Pflöcke werde dort drüben der Betonbau des agronomischer. Instituts stehen. Und die Schmalspurbahn, die jetzt nur als rote Linie auf der Landkarte im Direktionszimmer existiere, werde sich in Schwellen und Schienen verwandelt haben, genau so, wie sich eben jetzt die schwarze Linie auf der Karte in Maste und Telefondrähte verwandle.
Er verstummt. Wir stehen oben, auf dem flachen Dach des Wasserturms. Mit einer weiten Bewegung weist er auf die Häuser, die Felder, auf das für die Ernte bereitgestellte Combinegeschwader und sagt:
„Ja, in zwei Jahren... wird man sich dann überhaupt noch daran erinnern können, was einem heute schon schwerfällt zu glauben: dass vor drei Jahren hier unten, soweit man sehen kann, nur Steppe war, Gras und Busch, ab und zu ein Birkenbaum oder ein Tümpel, aber sonst nichts?!... Eine tolle Verwandlung, was?"
Alex will zustimmen, aber der Chef-Agronom fährt fort: „Nein, warten Sie noch! Warten Sie noch, bis Sie mit unseren Leuten gesprochen haben! Bis Sie erfahren haben, was die Leute früher einmal waren und was sie heute sind, nicht nur als Arbeiter, auch als Menschen! Dann erst werden Sie eine Vorstellung davon haben, wie groß die Verwandlung ist!" Und nach einer Weile:
„Da ist nämlich nicht nur ein Sowchos entstanden, da sind auch die Menschen, die es braucht, entstanden, nicht wahr, Semjon Grigorjewitsch?"
Semjon Grigorjewitsch nickt: „Ja", sagt er, „ein Sowchos ist eben nicht nur eine Getreidefabrik, sondern zugleich auch eine Fabrik zur Erzeugung neuer Menschen." Eine Fabrik zur Erzeugung neuer Menschen: Im Speisesaal hängt die Wandzeitung. Neun von zehn Beiträgen sind so krakelig geschrieben, dass man nicht erst die Auskunft des Vorsitzenden der Redaktionskommission braucht, um zu wissen: hier schreiben „Korrespondenten", die vor zwei oder drei Jahren noch nicht einmal lesen konnten.
Im Klub wird eine Gruppe halbanalphabetischer Saisonarbeiter im Rechnen unterrichtet. „Kolchosbauern aus der Umgebung", erklärt uns die „Liquidatorin", das bedeutet: Lehrerin für erwachsene Analphabeten. „Wir leihen den Kolchosen unsere Maschinen, dafür stellen sie uns während der Erntezeit eine bestimmte Anzahl von Arbeitern. Die Analphabeten und Halbanalphabeten unter ihnen bekommen bei uns Unterricht, soweit das die Arbeit erlaubt. Im Winter werden auch Fachkurse abgehalten. Voriges Jahr haben wir beispielsweise für die Kolchose in der Gegend neue Traktorführer ausgebildet; in diesem Winter wollen wir für diese Traktorführer einen Mechanikerkursus einrichten."
In der Lesehütte werden fahrbare Bibliotheken für die acht Sowchosabschnitte zusammengestellt. Die Schwester der Rettungsstelle ist Kätnerin gewesen. Dem Filmvorführer der fliegenden Lichtspielkolonne, die jeden Abend in einem der acht Lager Lehr- und Spielfilme zeigt, sieht man es nicht an, dass er vor kurzem Mechaniker in der Reparaturwerkstatt und davor Traktorist und noch früher Besprisorny war; der Führer der ersten Combinebrigade, ein sibirischer Deutscher aus dem Nowo-Omsker Bezirk, trägt in der Brusttasche seiner schmierigen Lederjacke eine „Hochschulkommandierung": er wird im Herbst nach Moskau fahren und dort drei Jahre lang die „Universität der Westvölker" besuchen. An der Wand der Reparaturwerkstatt klebt ein Plakat: „125000 qualifizierte Arbeiter arbeiten schon auf den Sowchosen des ,Sernotrest', aber doppelt so viele werden noch gebraucht. Tretet in die Fachkurse ein! Lernt! Lernt!" Die Fabrik zur Erzeugung neuer Menschen arbeitet mit Hochdruck.
Eine Combine mit zwei Anhängern kommt vorbei. Von der „Kommandobrücke", auf der der Vorarbeiter steht, flattert ein kleiner, roter Wimpel. Auf den blaugrauen Brettern des „Kornkastens" steht:
„Fabrik ,Der Kommunarde', Charkow. Erste Übercombine. Versuchsmaschine!"
„Von unserer Mechanisierungsabteilung konstruiert!" sagt Semjon Grigorjewitsch. „Eine Art Universalmaschine, besorgt Ernte und Winteraussaat in einem. Seht euch einmal an, wie sie arbeitet!"
Semjon Grigorjewitsch winkt. Die Maschine hält für einen Augenblick. Wir klettern auf die Brücke. Die Maschine fährt wieder los.
An der Grenze des Versuchsfeldes warten schon die Menschen. Zurufe. Winken. Auf das Kommando des Vorarbeiters schaltet der Maschinist vorn auf dem Führersitz einen Hebel um, dann noch einen, dann einen dritten. In das Rattern des Motors mischt sich das Dröhnen und Zischen und Klappern der in Gang kommenden Maschinenteile. Rechts von uns streckt die Combine ihren drei Meter langen Schneidearm aus, die Halme neigen sich, werden gekappt, wandern auf dem laufenden Band von den Messern zum Dreschgehäuse und häufen sich als Stroh in der Schobervorrichtung, während das Korn mit leisem Zischen in den Kornkasten rinnt. Das hohe Getreidefeld verwandelt sich Streifen um Streifen in einen Stoppelacker. Aber nur für Minuten! Hinter uns verschwindet er schon wieder: er ist kein Stoppelacker mehr, er ist braunes, gepflügtes, von regelmäßigen Furchen durchzogenes und mit einer dünnen Strohschicht gedecktes Saatland. Semjon Grigorjewitsch, der Chefagronom und der Vorarbeiter lachen über unsere Verblüffung. „Wie sie arbeitet, was?! Schneidet, drischt, pflügt, düngt, sät und bedeckt das bestellte Land mit Stroh. Alles in einem Zug! Vorläufig erst ein Versuch, aber in zwei Jahren...!" Die Maschine wendet, fährt zurück zur Feldgrenze. Die Menschenansammlung ist größer geworden. Man umdrängt die Maschine, beäugt und betastet sie. Immer wieder werden Rufe des Erstaunens, der Bewunderung, der Freude lauf. Wir klettern hinunter.
Ein kleiner, gelbhäutiger Kasache in zinnoberfarbenem Hemd, blassblauen Hosen und hohen, hellbraunen Schaftstiefeln mit aufwärts gebogenen Spitzen, die an Vogelschnäbel erinnern, stößt mich leicht mit dem Ellenbogen an und sagt in fließendem, wenn auch hartem Russisch: „Ein Maschinchen, he? Und zu denken, dass unsereins (aber auf russisch klingt das besser, da heißt es nicht unsereins, sondern ,unser Bruder') vor ein paar Jahren nur den Holzpflug gehabt hat! Zu denken, was ,unser Bruder' vor ein paar Jahren überhaupt war!..."
Ja, zu denken, was „unser Bruder" vor einiger Zeit noch war!
Auf dem Katheder im großen Saal der Sowchos-Schule liegt ein Buch. Eine Stelle ist rot angestrichen: „Warum herrscht auf dem Lande überall so tiefe Unwissenheit? Warum hat der Bauer selten oder niemals Fleisch, Butter oder irgendeine animalische Nahrung zu essen? Wie kommt es, dass man selten einen Bauern findet, der weiß, was ein Bett ist? Warum bemerken wir in allen Bewegungen des russischen Mushik etwas Fatalistisches, etwas, das jedes Anzeichens von Bewusstsein so gänzlich bar ist? Warum, mit einem Wort, kommen unsere Bauern auf die Welt wie die Insekten, um wie die Sommerfliegen zu sterben?"
Das schrieb der russische Dichter Saltykow-Schtschedrin vor einem halben Jahrhundert in seinem Werk „Zeichen der Zeit".
Auf der Schultafel aber steht:
„Der Kapitalismus hat den Zusammenhang zwischen Industrie und Landwirtschaft zerrissen. Der Sozialismus stellt den Zusammenhang zwischen Stadt und Land auf neuer Grundlage wieder her. An die Stelle der individuellen Kleinwirtschaft tritt die vergesellschaftete Großwirtschaft, an die Stelle des Handwerks die wissenschaftliche Methode, die bewusste Anwendung und Kombination kollektiver Arbeit. Rund um die Sowchose und Kollektive, die neuen Getreide-, Fleisch- und Milchfabriken, entstehen neuartige Siedlungen. Das Dorf verschwindet und zugleich die Stadt mit ihrer widernatürlichen Zusammenballung riesiger Volksmassen.
Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Stadt und Dorf. Es gibt keine ,Bauern' und keine ,Arbeiter' mehr, es gibt nur noch Werktätige!"

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur