Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
http://nemesis.marxists.org

„Bebrillter Mann mit Kaffeemühle und Fabrikschlot"

In Sokolniki (Anm.: Moskauer Stadtbezirk.) draußen am Waldrand liegt eine Waldschule, ein weißes, freundliches Haus. Die Kinder - sie sind alle etwas schwächlich und zurückgeblieben - sind fast den
ganzen Tag über im Freien, lernen im wahren Sinne des Wortes „spielend".
Die Lehrerin führt uns durch die Schulräume, durch die Schlafsäle, zeigt uns die Küche, die Spielwiese, erzählt von den Kindern.
„Wir legen sehr interessante Statistiken an: über die Angstträume der Kinder, über ihre Wünsche, Zukunftspläne... wollen Sie ein paar sehen?" Natürlich wollen wir. „Hier..."!
An den Wänden hängen Zeichnungen, unbeholfene Kritzeleien von Kinderhand.
„Die Kinder fertigen sie nämlich selbst an..." Wir sehen: eine gelbe Blume, einen bärtigen Mann mit einer Waffe in der Hand, eine Fabrik, noch einen Mann -diesmal aber freundlich bebrillt, vor einem etwas unverständlichen Hintergrund von Kaffeemühlen, Schornsteinen und vogelähnlichen Ungetümen... Die Lehrerin muss über unser ratloses Erstaunen lachen: „Sie verstehen nichts, wie?... Ja, diese Bilder sind auch nicht so ohne weiteres verständlich. Zu ihnen braucht man eine Erklärung. Dieses hier zum Beispiel (sie zeigt auf den bärtigen Mann) stellt einen Räuber dar, die häufigste Figur in den Angstträumen unserer Kinder; das dort (jetzt ist die Fabrik an der Reihe) den Beruf der meisten Väter, die soziale Herkunft der Mehrheit unserer Kleinen; dieses ihre Lieblingsblume..., jedes Bild trägt, wie Sie sehen, eine Ziffer, die Ziffer gibt den Prozentsatz der Kinder an, deren Lieblingsblume eben diese hier, oder deren Herkunft die Arbeiterwohnung oder deren Traumfeind jener Räuber ist..."
„Und was stellt dies hier vor...?"
Der fragende Blick gilt dem bebrillten Mann vor dem rätselhaften Hintergrund.
„Was bedeutet dieser Mann, diese Kaffeemühle, dieser Vogel oder Drache und dieser Schornstein... es ist doch ein Schornstein, nicht wahr...?"
„Ja, es ist ein Schornstein, der Schornstein eines Kraftwerkes... und der Drache ist ein Flugzeug... und die Kaffeemühle eine Lokomotive... und der Mann ein Ingenieur... und das Ganze der Lieblingsberuf unserer Jungen... der Beruf, den sie am liebsten ergreifen möchten..."
„Also die Kaffeemühle ist eine Lokomotive..." Aber die Worte laufen leer, die Gedanken sind ganz woanders. Sind bei der schwarzen Zahl oben in der rechten Ecke des Bildes, bei dem dicken Achter und dem schmächtigen, etwas lahmen Siebener... Siebenundachtzig...!
Siebenundachtzig Prozent der Jungen aus der Waldschule in Sokolniki wollen Ingenieure werden, Elektrostationen bauen, Maschinen, Bahnlinien, Flugzeuge... Und denjenigen, die etwa glauben, dass nur die Jungen von Sokolniki Ingenieure werden wollen, rate ich: fahrt hinunter nach Georgien, nach einem Nest, das Mzchet heißt, und hört dort den Dorfjungen zu, wenn sie sich um das Auto drängen, das - die grusinische Heerstraße herunterkommend - vor dem Duchan des Sachar Sacharowitsch haltmacht.
„Schau, das Fordauto vom Sakavtopromtorg! (TranskaukasischeAutohandelsgesellschaft)... Eine feine Maschine... kommt aus Amerika..." Das sagt der eine Knirps. Und der andere antwortet:
„Was denn, Amerika... in zehn Jahren bauen wir selbst welche... und bessere... da sollst du mal sehn...!" Und zieht sich unternehmend die Hosen hoch. „Tja..."

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur