Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
http://nemesis.marxists.org

Mirjam von Gomel

Ich hätte sie nicht wieder erkannt, ja ich wäre - ohne auch nur einen Hauch jener unruhigen Neugier zu spüren, die uns manchmal beim Anblick eines fremden und doch bekannt erscheinenden, eines vertrauten und doch nicht einzuordnenden Gesichts überkommt - an ihr vorbeigegangen, hätte sie sich nicht mir in den Weg gestellt und gefragt:
„Kennen wir uns nicht, Genosse? Erinnern Sie sich nicht mehr? Damals, an der Ecke der Twerskaja und des Leontjewski pereulok? Ich hatte eine Auseinandersetzung..."
Mein Erstaunen verwandelte sich in Verwirrung. Ein versunkenes Erlebnis tauchte halb wieder auf; ein verklungener Name wollte gefunden werden; eine Erinnerung begann zu erwachen.
Sie merkte es; lachte; merkte auch, dass ich schon etwas sah, was ich noch nicht glauben wollte, und sagte, immer noch lachend:
„Oh, ich habe mich einigermaßen verändert, nicht wahr? Aber wenn man näher zusteht..." Sie war es! Ja, sie hatte sich verändert; die Schultern waren runder geworden, und die Wangen hatten sich gefüllt und gerötet, sie war gewachsen und sah kräftiger aus, gesund, reif und ruhig; statt der rissigen, hochstöckeligen Lackstiefelchen, in denen sie damals herumgestelzt war, trug sie jetzt derbe, aber neue Leinenschuhe, statt des verschlissenen Seidenhütchens eine Männermütze, statt des viel zu großen, räudigen Plüschmantels eine enganliegende, glänzende Lederjacke, von deren Revers - ich traute meinen Augen kaum - golden und rot das Abzeichen des Komsomol leuchtete... sie hatte sich verändert, aber da war noch die breite, gewölbte Stirn, da waren noch die dunklen, geschwungenen Brauen über den mandelförmig geschnittenen Augen, da war noch der zarte und zugleich herbe Mund mit der kindlichen Lippenlinie und den vom Wissen und Erleben nach unten gebogenen Winkeln.
„Mirjam", sagte ich, noch immer verwirrt, „Mirjam, Sie?" Sie lachte wieder.
So habe ich mir damals ein Wiedersehen wohl nicht vorgestellt, fragte sie. „So doch wohl sicher nicht?" Nein, so nicht!
Ich war ihr vor fünf Jahren begegnet; spät nachts, auf dem Heimweg von einem bei unzähligen Tassen Tee, unzähligen Zigaretten und unzähligen Disputen verbrachten Abend, nach dem ich den Kopf etwas auslüften wollte. Ich ging langsam die halbdunkle und beinahe menschenleere Twerskaja hinunter. An einer Ecke stritten sich ein Mann und ein Mädchen. Ich wäre nicht stehengeblieben, hätte nicht die Stimme des Mädchens einen so seltsamen Klang gehabt, tief und voll und dabei doch rau wie der Glockenton einer alten, etwas zu Schaden gekommenen Uhr. Der Mann krakeelte, er wolle jetzt Geld haben, sofort, oder es geschehe ein Unglück. Das Mädchen antwortete, er solle seiner Wege gehen, sie gehörten nicht mehr zueinander, und es falle ihr nicht ein, ihn weiter auszuhalten. Der Mann packte sie. Sie kreischte auf. Der Mann holte aus. Ich schrie, er möge sich nicht unterstehen, sie zu schlagen, aber er schlug zu. Ich versuchte, ihn am Arm zu fassen, doch er schüttelte mich ab und brüllte, ich solle mich nicht in fremde Angelegenheiten mischen, das sei sein Mädchen, und wenn ich nicht gleich verduftete... Da tauchte ein Milizionär auf, und wir mussten alle drei mit ihm zur Wache. Dort wurde, nach kurzem Verhör, der Mann verhaftet. „Wegen Zuhälterei." („Die Prostitution", sagte der Reviervorsteher damals zu mir, „ist ein Übel, das wir nur beseitigen können, wenn wir seine sozialen Wurzeln ausrotten; und das werden wir tun. Die Prostitution ist für die Mädchen ein Unglück, für die Männer eine Schande und eine Gefahr, für die Zuhälter, Kupplerinnen und Bordellwirte eine Quelle arbeitslosen Einkommens, ein Mittel abscheulichster Ausbeutung; deshalb gehen wir gegen die ,Ausübenden' selbst nicht vor, es sei denn, dass sie krank sind, - dann kommen sie in Behandlung, dagegen bestrafen wir die Nutznießer mit der äußersten Strenge.")
Das Mädchen wurde zugleich mit mir entlassen. Auf dem Weg von der Wache erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie war siebzehn Jahre alt, hieß Mirjam und stammte aus Gomel. Ihren Vater, einen kleinen jüdischen Handwerker, ihre Mutter, ihre zwei Schwestern und ihren Bruder hatten im Bürgerkrieg die Weißen erschlagen; sie selbst war, eine Zehnjährige, dreimal vergewaltigt worden. Einige Jahre lang lebte sie mit einer Bande „Grüner", marodierender Deserteure und geflüchteter Bauern in den Wäldern. Zu Beginn der NÖP kam sie nach Moskau, wo zugleich mit dem Privathandel auch der „Strich" seine Auferstehung feierte.
Sie erzählte von ihrem Leben, von der Unterkunft in einem Kanaltunnel, von den erfolglosen Strichgängen, von der Rohheit des Mannes, mit dem sie zusammen gewesen war, vom Suff, vom Hunger; mit einer unbeteiligten Gleichgültigkeit erzählte sie, die fast den Anschein erweckte, dass sie von jemand anders, nicht von sich selbst, berichte. („Ich war eben wie ausgebrannt", sagt sie jetzt, da ich sie daran erinnere, „in der Seele war es ganz leer; ich war gar kein Mensch.")
Als ich sie fragte, ob ich ihr irgendwie helfen könne, sagte sie: nein, sie sei nun einmal für ein solches Leben geschaffen und dieses Leben für sie, und überdies habe sie sich schon viel zu sehr daran gewöhnt und wolle und könne nichts ändern. Aber wenn ich durchaus etwas für sie tun wolle, so möge ich doch zum Moskauer Stadtsowjet gehen, ich sei doch ein ausländischer Delegierter oder so etwas Ähnliches und würde es vielleicht durchsetzen -, also kurz und gut, es handle sich darum, dem Moskauer Stadtsowjet klarzumachen, dass seine Verfügung über die Erleuchtung der Taxis bei Nachtfahrten unsozial sei und den Prostituierten, die zwar der politischen Rechte entkleidet, aber immer noch etwas Besseres seien als Ausbeuter, Popen und frühere Gendarmen, schweren Schaden zufüge, weil auf diese Weise die Taxis, die in einer Zeit der Wohnungsnot und Hotelverstaatlichung die einzige Möglichkeit... Ein „Stammkunde", der schon eine Weile gewartet hatte und ungeduldig wurde und den Mirjam nicht verlieren wollte, bewirkte eine Unterbrechung unseres Gesprächs. Am nächsten Tage reiste ich ab; bei meinen späteren Besuchen in Moskau sah ich Mirjam von Gomel nie wieder. Jetzt sitzen wir in der Roten Ecke des „Moskauer Hell- und Arbeitsprophylakteriums".  Ich  habe Mirjam   begleiten müssen, um mir anzusehen, wie sie jetzt lebt und wo sie
arbeitet.
Sie erzählt:
Wie es ihr schlechter und schlechter ging; wie sie begann, sinnlos zu trinken, nicht nur Schnaps und Bier, auch Baldriantinktur, auch Chansha, Sprit mit Wasser, auch Politur; wie dann eine große Müdigkeit und ein großer Ekel über sie kam.
„Meine Füße wollten nicht mehr gehen, und ich konnte nichts mehr essen; ich wusste nicht, was es war, ich wusste nicht einmal, dass ich krank war. Nachher, auf der Klinik, sagten sie mir dann, dass ich Syphilis habe. Früher hatte ich immer gedacht: das muss schrecklich sein - aber es war nicht schrecklich. Es war... wie soll ich sagen? Es war schön! Ich hatte zum ersten mal ein weißes Bett; ich hatte es für mich allein; es waren Menschen da, die sich um mich kümmerten, ohne etwas zu fordern; es war warm, und ich hatte genug zu essen." Als man sie aus dem Krankenhaus entließ, bat sie selbst um Überweisung an ein Arbeitsprophylakterium. Die Ordnung im Gemeinschaftsheim, die regelmäßige Arbeit an der Nähmaschine, der Verzicht auf den Alkohol waren zuerst nicht leicht zu ertragen. Es gab einige Rückfälle, einmal sogar einen ganz argen: Suff und Strich und sogar Diebstahlsversuch; aber die älteren Kameradinnen halfen.
„Sie organisierten eine ,Bugsierbrigade' und übernahmen die Patenschaft über mich. Seit der Zeit habe ich nicht mehr getrunken und keine Verwarnung mehr gekriegt." Dann habe sie zu lesen begonnen; dann sei sie in die ersten Versammlungen gegangen; dann habe sie sich in der Werkstatt am Sozialistischen Wettbewerb beteiligt, dann...
Sie unterbricht sich und schließt:
„Aber das ist nicht mehr mein individueller Fall; das ist schon die typische Geschichte aller Mädchen, die hierherkommen." Ich denke:
„Nicht mehr mein individueller Fall, sondern die typische Geschichte - wer spricht so? Ist das noch Mirjam? Ist das nicht..."
Sie errät meine Gedanken und sagt lächelnd: „Ja, man wird ein anderer Mensch hier. Man wird umgeschmolzen. Das geht allen so, die hier sind. Wie das geschieht, weiß man zuerst gar nicht, man merkt nur auf einmal, dass man neue Augen, neue Ohren, eine, neue Sprache bekommen hat." Und nach einer Pause:
„Man merkt es ganz plötzlich. Ich weiß noch, wie es bei mir war, und wann; ich kann den Tag nennen, es war mein Geburtstag, der erste hier im Prophylakterium, sieben Monate nach meinem Eintritt. Ich hatte mich schon eingewöhnt und fühlte mich wohl, aber an diesem Geburtstag spürte ich auf einmal, dass ich neu bin, dass das Leben neu ist, dass es einen Sinn hat, zu leben... und dass es schön ist!"
Auf dem Tisch des Direktionszimmers, in das der Leiter des Prophylakteriums mich führt, liegen Bücher und Mappen, Fotografien und Dokumente. „Material für eine Ausstellung zur Fünfzehnjahresfeier der Oktoberrevolution", erklärt der Direktor, „wir wollen zeigen, wie sich die Prostitution im alten Russland, wie sie sich in der Sowjetunion, wie sie sich in den kapitalistischen Staaten entwickelt hat und wie wir hier, in den fünf Jahren seit der Gründung unserer Anstalt, gegen sie gekämpft haben. Was Sie hier auf dem Tisch sehen, gehört in die Abteilung ,Zarenrußland'; wir sind gerade mit der Sichtung beschäftigt."
Neben einer Sammlung von „Hausordnungen für öffentliche Häuser" liegt ein Stapel dicker Folianten. Auf dem obersten steht in goldenen Lettern „Album des medizinisch polizeilichen Komitees für die Nishni Nowgoroder Messe 1910". Ich schlage den Folianten auf. Seine Seiten sind mit Fotografien bedeckt wie die Seiten eines Verbrecheralbums. Bild neben Bild: halbe Kinder, junge Mädchen, reife Frauen, Greisinnen; hohe Tüllkragen, aufgeplusterte Spitzenjabots, billige Rüschen und Bänder; breite Federhüte, mächtige Turbanfrisuren, schlichte Bauerntücher und Zöpfe. Unter jedem Bild ein Name, über jedem Bild eine Zahl. Über dem letzten: 813.
In einem langen, schmalen Buch, das man für ein hochachtbares Geschäftsbuch halten könnte - es ist auch eines, allerdings weder ein Saldenkonto noch ein Hauptbuch, sondern das „Inventar Nr. 5 der Einzelprostituierten, Messejahr 1910" -, steht von jedem Inventarstück verzeichnet, wie alt es ist, woher es kommt, welcher Religion und Nationalität es angehört und wie viel Messen es bereits mitgemacht hat. Der Direktor sagt:
„Neunzig Prozent von ihnen kamen aus Dorfkaten und Proletariervierteln; drei Viertel konnten weder lesen noch schreiben; über die Hälfte war krank, trotz Registrierung und gelbem Pass."
Ob man einen solchen Pass sehen könne? „Aber gewiss." Er zieht aus einem Haufen kleiner blauer Hefte eines hervor. „Hier haben sie einen! Er ist zwar blau und heißt auch nicht ,gelber Pass', sondern ,Austauschbare Ausweiskarte und Kontrollbuch', aber sonst ist alles da, was dazu sein hatte: da haben Sie den Vermerk, dass der richtige Pass vom Polizeimeister in Verwahrung genommen wurde; hier die Seite mit den Eintragungen des Kontrollarztes und hier die ,Vorschrift für das Verhalten der öffentlichen Weiber' mit dem berüchtigten Paragraphen 13: ,Der Wirt soll nicht mehr als 3/4 der Einnahmen des bei ihm wohnenden öffentlichen Weibes für sich beanspruchen'..."
Neben den blauen „gelben Pässen" liegen die gelben „schwarzen" Akten.
Jefrosina Danilowa Knyshe, Jungfrau, 40 Jahre alt, niemals vorbestraft, Besitzerin eines Kapitals von 5000 Rubeln, bittet seine Hochgeboren, den Herrn Stadthauptmann von Moskau, um die Erlaubnis, im Haus der Witwe Goldenstein, Arbatviertel, Bogoslowskigasse, eine „Wohnung für Zusammenkünfte von Männern und Frauen" einrichten zu dürfen. Das Gutachten des Polizeiarztes liegt bei. Dieses Gutachten schließt mit den Worten: „... und werden Einwände nicht erhoben, um so mehr als mit Hinblick auf die örtlichen Verhältnisse die Einrichtung eines solchen Hauses außerordentlich wünschenswert erscheint." Das Gesuch wurde binnen sechs Monaten erledigt. Ebenso viel Jahre erforderte dagegen die Erledigung des Ansuchens der Bäuerin A. D. Korolewa um „Streichung aus der Liste der öffentlichen Weiber und Rückgabe des Passes". Sechs Jahre, weil nämlich die um Auskunft angegangene „Abteilung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ruhe in der Stadt Moskau" vertraulich mitteilte, dass die Korolewa unter Beobachtung stehe, seit sie im Dezember 1908 dem aus der Verschickung geflüchteten W. I. Asepow Unterschlupf gewährt habe. „Sechs Jahre ohne Pass, wissen Sie, was das im alten Russland bedeutete?" fragte der Direktor. „Wissen Sie, dass es eine Redensart gab, der Russe bestehe aus Körper, Seele und Pass? - Aber lassen wir das." Er schiebt mit einer raschen Handbewegung die Papiere zur Seite. „Lassen wir die Vergangenheit, sie ist tot. Kommen Sie, ich will Ihnen die Gegenwart zeigen."
Er führt mich durch das Ambulatorium, den Speisesaal, die Schlafräume. Das letzte Zimmer macht einen unbewohnten Eindruck.
„Es steht leer. Wir haben, infolge des Rückgangs der Prostitution, immer weniger ,Nachschub'. Noch zu Beginn des Fünfjahrplans glaubten wir, der Bau ganzer neuer Städte, der Zustrom ausländischer Spezialisten, die Konzentrierung riesiger, eben erst vom Dorf gekommener Arbeitermassen in den neuen Industriezentren werde eher ein Anwachsen als eine Abnahme der Prostitution bewirken; wir stellten deshalb einen eigenen Fünfjahrplan auf, der eine Vermehrung der Betten bis auf 1200 vorsah. Die tatsächliche Entwicklung hat unsere Voranschläge über den Haufen geworfen; wir sind", sagt er und lächelt, „ein Betrieb, der seinen Fünfjahrplan nicht erfüllt." Wie viel Insassen das Prophylakterium beherberge? Dreihundertundfünfundneunzig. - Ja, sie seien alle freiwillig gekommen, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, wo sie einen sogenannten ersten Behandlungskursus durchgemacht hatten; jetzt, während der Nachbehandlung, arbeite ein Teil in den Werkstätten des Prophylakteriums, gegen volle Entlohnung selbstverständlich, der andere in den Lehrlingsschulen einiger großer Betriebe. Auf der Tafel der Wandzeitung klebt ein Zettel, der zum Besuch des Festabends „zu Ehren unserer prämiierten Stoßbrigaden" auffordert. Ein zweiter Zettel kündigt an, dass, gemäß dem einstimmigen Beschluss der letzten Vollversammlung, die Zahl der politischen Lehrstunden ab nächster Woche verdoppelt wird.
„Ja, sie lernen mit großem Eifer, in der Werkstatt, in der Betriebsschule, in den Kursen. Wir haben in den fünf Jahren seit der Gründung unseres Prophylakteriums der Industrie nicht weniger als zwölfhundert hochqualifizierte Arbeiterinnen geliefert; vierhundert von ihnen besuchen
Fortbildungsschulen, Arbeiterfakultäten, Technika; zweiundsiebenzig sind in den Komsomol und in die Partei aufgenommen worden, eine ganze Anzahl arbeitet in der Gewerkschaftsbewegung, eine ist Vorsitzende des Betriebsrates einer großen Fabrik."
In der Trikotagewerkstatt hängt, mitten im Saal, ein Transparent mit den Kontrollzahlen des Sozialistischen Wettbewerbs zwischen Strickerinnen und Schneiderinnen. Vorläufig hat die Schneiderwerkstatt einen ziemlichen Vorsprung. „Aber wir holen sie ein", versichert uns das Mädchen an der ersten Strickmaschine, „die Trikotage bleibt nicht zurück, da können Sie unbesorgt sein!" Im Klub ist schon ein Teil der Ausstellung aufgebaut. Eine Wand des großen Zimmers ist von einer Landkarte bedeckt. Kleine Fahnen, die über den europäischen Hauptstädten schweben, tragen statt der Staatswappen Ziffern: Wien 32000, Berlin 50000, Paris 80000, London 100000, Moskau 400.
„Die Anzahl der Prostituierten!" erläutert der Direktor. „Und in Moskau gibt es wirklich nur vierhundert?" „Ja, ungefähr vierhundert. Selbstverständlich ist diese Zahl ein Resultat von Schätzungen, wie die anderen Zahlen auch, nur dass unsere Statistiker in diesem Fall viel genauer arbeiten können als ihre ausländischen Kollegen, weil in einer Stadt wie Moskau, wo es keine Stundenhotels, keine nachsichtigen Zimmervermieter und weitherzigen Hauswirte, keine privaten Schankunternehmungen und keine Nachtlokale gibt, die Zahl der Prostituierten viel leichter geschätzt werden kann als beispielsweise in Paris oder London."
„Vierhundert Prostituierte in einer Millionenstadt, das würde aber doch..."
„Jawohl, das bedeutet, dass wir die Prostitution bereits so gut wie liquidiert haben. In einem Land ohne Arbeitslose, in einer Gesellschaft, die keine Ausbeutung duldet, in einem Staat, der die volle wirtschaftliche, politische und soziale Gleichberechtigung der Frau nicht nur proklamiert, sondern auch Wirklichkeit werden lässt, muss die Prostitution zwangsläufig ihren Massencharakter verlieren. Die paar Hundert Prostituierten, die es bei uns noch gibt, sind entweder geistig defekte oder arbeitsscheue und gesellschaftlich schädliche Elemente. Wie richtig diese Annahme ist, mag Ihnen die Tatsache beweisen, dass wir in diesem Jahr zum ersten mal auch Psychiater zur Behandlung neuaufgenommener Mädchen heranziehen mussten; bisher kamen eben nur Frauen zu uns, die sich aus Not und Arbeitslosigkeit prostituiert hatten, diese Schicht - und das war die große Mehrheit aller Prostituierten wählte, als ihr die Möglichkeit dazu geboten wurde, eine andere Art des Lebensunterhalts; was jetzt noch zu uns kommt, ist schon mehr oder weniger geistig in Unordnung... Das ist eine neue Lage, der wir Rechnung tragen müssen. Wir werden, was wir bisher nicht getan haben, in Zukunft gegen die Reste der Prostitution mit Zwangsmaßnahmen vorgehen, werden die einen in Heilanstalten unterbringen, die andern in Erziehungsheimen und Arbeitskommunen, etwa von der Art, wie wir sie für die verwahrlosten Kinder eingerichtet haben. Von der endgültigen Vernichtung der Prostitution bis zur Beseitigung der Syphilis als Massenkrankheit ist dann nur noch ein Schritt. Diesen Schritt werden wir noch vor Ende des zweiten Fünfjahrplans hinter uns haben. Das ist keine Phrase. Noch im Jahr 1928 entfielen auf je 10000 Einwohner 57 Syphilitiker, heute sind es nur mehr 31; im Jahre 1928... Aber Sie haben wohl keine Zeit mehr?" Nein, ich habe keine Zeit mehr. Ich muss gehen. Nur von Mirjam möchte ich mich noch verabschieden. Aber Mirjam ist nicht da.
„Sie lässt Sie grüßen", sagt die diensthabende Ärztin, „sie hätte gern auf Sie gewartet, aber sie konnte nicht. Sie ist heute an der Reihe. Sie muss referieren. Im marxistischen Seminar der Abenduniversität..."

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur