| Mirjam von GomelIch hätte sie nicht wieder erkannt, ja ich wäre - ohne auch nur einen Hauch jener unruhigen Neugier zu spüren, die uns manchmal beim Anblick eines fremden und doch bekannt erscheinenden, eines vertrauten und doch nicht einzuordnenden Gesichts überkommt - an ihr vorbeigegangen, hätte sie sich nicht mir in den Weg gestellt und gefragt:„Kennen wir uns nicht, Genosse? Erinnern Sie sich nicht mehr? Damals, an der Ecke der Twerskaja und des Leontjewski pereulok? Ich hatte eine Auseinandersetzung..."
 Mein Erstaunen verwandelte sich in Verwirrung. Ein versunkenes Erlebnis tauchte halb wieder auf; ein verklungener Name wollte gefunden werden; eine Erinnerung begann zu erwachen.
 Sie merkte es; lachte; merkte auch, dass ich schon etwas sah, was ich noch nicht glauben wollte, und sagte, immer noch lachend:
 „Oh, ich habe mich einigermaßen verändert, nicht wahr? Aber wenn man näher zusteht..." Sie  war  es!  Ja,  sie  hatte  sich  verändert;  die  Schultern waren  runder  geworden,  und  die  Wangen  hatten  sich gefüllt  und  gerötet,  sie  war  gewachsen  und  sah  kräftiger aus,  gesund,  reif  und  ruhig;  statt  der  rissigen,  hochstöckeligen  Lackstiefelchen,  in  denen  sie  damals  herumgestelzt  war,  trug  sie  jetzt  derbe,  aber  neue  Leinenschuhe, statt  des  verschlissenen  Seidenhütchens  eine  Männermütze, statt  des  viel  zu  großen,  räudigen  Plüschmantels  eine enganliegende,  glänzende  Lederjacke,  von  deren  Revers -  ich  traute  meinen  Augen  kaum  -  golden  und  rot  das Abzeichen  des  Komsomol  leuchtete... sie hatte sich verändert, aber da war noch die breite, gewölbte Stirn, da waren noch die dunklen, geschwungenen Brauen über den mandelförmig geschnittenen Augen, da war noch der zarte und zugleich herbe Mund mit der kindlichen Lippenlinie und den vom Wissen und Erleben nach unten gebogenen Winkeln.
 „Mirjam", sagte ich, noch immer verwirrt, „Mirjam, Sie?" Sie lachte wieder.
 So habe ich mir damals ein Wiedersehen wohl nicht vorgestellt, fragte sie. „So doch wohl sicher nicht?" Nein, so nicht!
 Ich war ihr vor fünf Jahren begegnet; spät nachts, auf dem Heimweg von einem bei unzähligen Tassen Tee, unzähligen Zigaretten und unzähligen Disputen verbrachten Abend, nach dem ich den Kopf etwas auslüften wollte. Ich ging langsam die halbdunkle und beinahe menschenleere Twerskaja  hinunter.  An  einer  Ecke  stritten  sich  ein  Mann und  ein  Mädchen.  Ich  wäre  nicht  stehengeblieben,  hätte nicht  die  Stimme  des  Mädchens  einen  so  seltsamen  Klang gehabt,  tief  und  voll  und  dabei  doch  rau  wie  der  Glockenton  einer  alten,  etwas  zu  Schaden  gekommenen  Uhr.  Der Mann  krakeelte,  er  wolle  jetzt  Geld  haben,  sofort,  oder es  geschehe  ein  Unglück.  Das  Mädchen  antwortete,  er solle  seiner  Wege  gehen,  sie  gehörten  nicht  mehr  zueinander,  und  es  falle  ihr  nicht  ein,  ihn  weiter  auszuhalten. Der  Mann  packte  sie.  Sie  kreischte  auf.  Der  Mann  holte aus.  Ich  schrie,  er  möge  sich  nicht  unterstehen,  sie  zu schlagen,  aber  er  schlug  zu.  Ich  versuchte,  ihn  am  Arm zu  fassen,  doch  er  schüttelte  mich  ab  und  brüllte,  ich  solle mich  nicht  in  fremde  Angelegenheiten  mischen,  das  sei sein  Mädchen,  und  wenn  ich  nicht  gleich  verduftete... Da tauchte ein Milizionär auf, und wir mussten alle drei mit ihm zur Wache. Dort wurde, nach kurzem Verhör, der Mann verhaftet. „Wegen Zuhälterei." („Die Prostitution", sagte  der  Reviervorsteher  damals  zu  mir,  „ist  ein  Übel, das  wir  nur  beseitigen  können,  wenn  wir  seine  sozialen Wurzeln  ausrotten;  und  das  werden  wir  tun.  Die  Prostitution  ist  für  die  Mädchen  ein  Unglück,  für  die  Männer eine  Schande  und  eine  Gefahr,  für  die  Zuhälter,  Kupplerinnen  und  Bordellwirte  eine  Quelle  arbeitslosen  Einkommens,  ein  Mittel  abscheulichster  Ausbeutung;  deshalb gehen  wir  gegen  die  ,Ausübenden'  selbst  nicht  vor,  es  sei denn,  dass  sie  krank  sind,  -  dann  kommen  sie  in  Behandlung,  dagegen  bestrafen  wir  die  Nutznießer  mit  der äußersten  Strenge.")
 Das Mädchen wurde zugleich mit mir entlassen. Auf dem Weg von der Wache erzählte sie mir ihre Geschichte. Sie war siebzehn Jahre alt, hieß Mirjam und stammte aus Gomel. Ihren Vater, einen kleinen jüdischen Handwerker, ihre Mutter, ihre zwei Schwestern und ihren Bruder hatten im Bürgerkrieg die Weißen erschlagen; sie selbst war, eine Zehnjährige, dreimal vergewaltigt worden. Einige Jahre lang lebte sie mit einer Bande „Grüner", marodierender Deserteure und geflüchteter Bauern in den Wäldern. Zu Beginn der NÖP kam sie nach Moskau, wo zugleich mit dem Privathandel auch der „Strich" seine Auferstehung feierte.
 Sie erzählte von ihrem Leben, von der Unterkunft in einem Kanaltunnel, von den erfolglosen Strichgängen, von der Rohheit des Mannes, mit dem sie zusammen gewesen war, vom Suff, vom Hunger; mit einer unbeteiligten Gleichgültigkeit  erzählte  sie,  die  fast  den  Anschein  erweckte,  dass  sie  von  jemand  anders,  nicht  von  sich  selbst, berichte.  („Ich  war  eben  wie  ausgebrannt",  sagt  sie  jetzt, da  ich  sie  daran  erinnere,  „in  der  Seele  war  es  ganz  leer; ich  war  gar  kein  Mensch.")
 Als ich sie fragte, ob ich ihr irgendwie helfen könne, sagte sie: nein, sie sei nun einmal für ein solches Leben geschaffen und dieses Leben für sie, und überdies habe sie sich schon viel zu sehr daran gewöhnt und wolle und könne nichts ändern. Aber wenn ich durchaus etwas für sie tun wolle, so möge ich doch zum Moskauer Stadtsowjet gehen, ich sei doch ein ausländischer Delegierter oder so etwas Ähnliches und würde es vielleicht durchsetzen -, also kurz und gut, es handle sich darum, dem Moskauer Stadtsowjet klarzumachen,  dass  seine  Verfügung  über  die  Erleuchtung der  Taxis  bei  Nachtfahrten  unsozial  sei  und  den  Prostituierten,  die  zwar  der  politischen  Rechte  entkleidet,  aber immer  noch  etwas  Besseres  seien  als  Ausbeuter,  Popen und  frühere  Gendarmen,  schweren  Schaden  zufüge,  weil auf  diese  Weise  die  Taxis,  die  in  einer  Zeit  der  Wohnungsnot  und  Hotelverstaatlichung  die  einzige  Möglichkeit... Ein  „Stammkunde",  der  schon  eine  Weile  gewartet  hatte und  ungeduldig  wurde  und  den  Mirjam  nicht  verlieren wollte,  bewirkte  eine  Unterbrechung  unseres  Gesprächs. Am  nächsten  Tage  reiste  ich  ab;  bei  meinen  späteren  Besuchen  in  Moskau  sah  ich  Mirjam  von  Gomel  nie  wieder. Jetzt  sitzen  wir  in  der  Roten  Ecke  des  „Moskauer  Hell-  und  Arbeitsprophylakteriums".  Ich  habe Mirjam   begleiten müssen, um mir anzusehen, wie sie jetzt lebt und wo sie
 arbeitet.
 Sie erzählt:
 Wie es ihr schlechter und schlechter ging; wie sie begann, sinnlos zu trinken, nicht nur Schnaps und Bier, auch Baldriantinktur, auch Chansha, Sprit mit Wasser, auch Politur; wie dann eine große Müdigkeit und ein großer Ekel über sie kam.
 „Meine Füße wollten nicht mehr gehen, und ich konnte nichts mehr essen; ich wusste nicht, was es war, ich wusste nicht einmal, dass ich krank war. Nachher, auf der Klinik, sagten sie mir dann, dass ich Syphilis habe. Früher hatte ich immer gedacht: das muss schrecklich sein - aber es war nicht schrecklich. Es war... wie soll ich sagen? Es war schön! Ich hatte zum ersten mal ein weißes Bett; ich hatte es für mich allein; es waren Menschen da, die sich um mich kümmerten, ohne etwas zu fordern; es war warm, und ich hatte genug zu essen." Als man sie aus dem Krankenhaus entließ, bat sie selbst um Überweisung an ein Arbeitsprophylakterium. Die  Ordnung  im  Gemeinschaftsheim,  die  regelmäßige Arbeit  an  der  Nähmaschine,  der  Verzicht  auf  den  Alkohol waren  zuerst  nicht  leicht  zu  ertragen.  Es  gab  einige  Rückfälle,  einmal  sogar  einen  ganz  argen:  Suff  und  Strich  und sogar  Diebstahlsversuch;  aber  die  älteren  Kameradinnen halfen.
 „Sie organisierten eine ,Bugsierbrigade' und übernahmen die Patenschaft über mich. Seit der Zeit habe ich nicht mehr getrunken und keine Verwarnung mehr gekriegt." Dann habe sie zu lesen begonnen; dann sei sie in die ersten Versammlungen gegangen; dann habe sie sich in der Werkstatt am Sozialistischen Wettbewerb beteiligt, dann...
 Sie unterbricht sich und schließt:
 „Aber das ist nicht mehr mein individueller Fall; das ist schon die typische Geschichte aller Mädchen, die hierherkommen." Ich  denke:
 „Nicht mehr mein individueller Fall, sondern die typische Geschichte - wer spricht so? Ist das noch Mirjam? Ist das nicht..."
 Sie errät meine Gedanken und sagt lächelnd: „Ja, man wird ein anderer Mensch hier. Man wird umgeschmolzen. Das geht allen so, die hier sind. Wie das geschieht, weiß man zuerst gar nicht, man merkt nur auf einmal, dass man neue Augen, neue Ohren, eine, neue Sprache bekommen hat." Und nach einer Pause:
 „Man merkt es ganz plötzlich. Ich weiß noch, wie es bei mir war, und wann; ich kann den Tag nennen, es war mein Geburtstag, der erste hier im Prophylakterium, sieben Monate nach meinem Eintritt. Ich hatte mich schon eingewöhnt und fühlte mich wohl, aber an diesem Geburtstag spürte ich auf einmal, dass ich neu bin, dass das Leben neu ist, dass es einen Sinn hat, zu leben... und dass es schön ist!"
 Auf dem Tisch des Direktionszimmers, in das der Leiter des Prophylakteriums mich führt, liegen Bücher und Mappen, Fotografien und Dokumente. „Material für eine Ausstellung zur Fünfzehnjahresfeier der  Oktoberrevolution",  erklärt  der  Direktor,  „wir wollen  zeigen,  wie  sich  die  Prostitution  im  alten  Russland, wie  sie  sich  in  der  Sowjetunion,  wie  sie  sich  in  den  kapitalistischen  Staaten  entwickelt  hat  und  wie  wir  hier,  in  den fünf  Jahren  seit  der  Gründung  unserer  Anstalt,  gegen  sie gekämpft  haben.  Was  Sie  hier  auf  dem  Tisch  sehen,  gehört in  die  Abteilung  ,Zarenrußland';  wir  sind  gerade  mit  der Sichtung  beschäftigt."
 Neben einer Sammlung von „Hausordnungen für öffentliche Häuser" liegt ein Stapel dicker Folianten. Auf dem obersten steht in goldenen Lettern „Album des medizinisch polizeilichen  Komitees  für  die  Nishni  Nowgoroder  Messe 1910".  Ich  schlage  den  Folianten  auf.  Seine  Seiten  sind  mit Fotografien  bedeckt  wie  die  Seiten  eines  Verbrecheralbums.  Bild  neben  Bild:  halbe  Kinder,  junge  Mädchen, reife  Frauen,  Greisinnen;  hohe  Tüllkragen,  aufgeplusterte Spitzenjabots,  billige  Rüschen  und  Bänder;  breite  Federhüte,  mächtige  Turbanfrisuren,  schlichte  Bauerntücher und  Zöpfe.  Unter  jedem  Bild  ein  Name,  über  jedem  Bild eine  Zahl.  Über  dem  letzten:  813.
 In einem langen, schmalen Buch, das man für ein hochachtbares Geschäftsbuch halten könnte - es ist auch eines, allerdings weder ein Saldenkonto noch ein Hauptbuch, sondern das „Inventar Nr. 5 der Einzelprostituierten, Messejahr  1910"  -,  steht  von  jedem  Inventarstück  verzeichnet,  wie  alt  es  ist,  woher  es  kommt,  welcher  Religion und  Nationalität  es  angehört  und  wie viel  Messen  es  bereits  mitgemacht  hat. Der  Direktor  sagt:
 „Neunzig Prozent von ihnen kamen aus Dorfkaten und Proletariervierteln;  drei  Viertel  konnten  weder  lesen  noch schreiben;  über  die  Hälfte  war  krank,  trotz  Registrierung und  gelbem  Pass."
 Ob man einen solchen Pass sehen könne? „Aber gewiss." Er zieht aus einem Haufen kleiner blauer Hefte eines hervor. „Hier haben sie einen! Er ist zwar blau und heißt auch nicht ,gelber Pass', sondern ,Austauschbare Ausweiskarte  und  Kontrollbuch',  aber  sonst  ist  alles  da, was  dazu sein  hatte:  da  haben  Sie  den  Vermerk,  dass  der richtige  Pass  vom  Polizeimeister  in  Verwahrung  genommen wurde;  hier  die  Seite  mit  den  Eintragungen  des  Kontrollarztes  und  hier  die  ,Vorschrift  für  das  Verhalten  der öffentlichen  Weiber'  mit  dem  berüchtigten  Paragraphen 13:  ,Der  Wirt  soll  nicht  mehr  als  3/4  der  Einnahmen  des bei  ihm  wohnenden  öffentlichen  Weibes  für  sich  beanspruchen'..."
 Neben den blauen „gelben Pässen" liegen die gelben „schwarzen"  Akten.
 Jefrosina Danilowa Knyshe, Jungfrau, 40 Jahre alt, niemals vorbestraft, Besitzerin eines Kapitals von 5000 Rubeln, bittet seine Hochgeboren, den Herrn Stadthauptmann von Moskau, um die Erlaubnis, im Haus der Witwe Goldenstein, Arbatviertel, Bogoslowskigasse, eine „Wohnung für Zusammenkünfte von Männern und Frauen" einrichten  zu  dürfen.  Das  Gutachten  des  Polizeiarztes  liegt bei.  Dieses  Gutachten  schließt  mit  den  Worten:  „... und werden Einwände nicht erhoben, um so mehr als mit Hinblick auf die örtlichen Verhältnisse die Einrichtung eines solchen Hauses außerordentlich wünschenswert erscheint." Das Gesuch wurde binnen sechs Monaten erledigt. Ebenso viel Jahre erforderte dagegen die Erledigung des Ansuchens der Bäuerin A. D. Korolewa um „Streichung aus der Liste der öffentlichen Weiber und Rückgabe des Passes". Sechs Jahre, weil nämlich die um Auskunft angegangene „Abteilung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ruhe in der Stadt Moskau" vertraulich mitteilte, dass die Korolewa unter Beobachtung stehe, seit sie im Dezember 1908 dem aus der Verschickung geflüchteten W. I. Asepow Unterschlupf gewährt habe. „Sechs Jahre ohne Pass, wissen Sie, was das im alten Russland bedeutete?" fragte der Direktor. „Wissen Sie, dass es eine Redensart gab, der Russe bestehe aus Körper, Seele und Pass? - Aber lassen wir das." Er schiebt mit einer raschen Handbewegung die Papiere zur Seite. „Lassen wir die Vergangenheit, sie ist tot. Kommen Sie, ich will Ihnen die Gegenwart zeigen."
 Er führt mich durch das Ambulatorium, den Speisesaal, die Schlafräume. Das letzte Zimmer macht einen unbewohnten Eindruck.
 „Es steht leer. Wir haben, infolge des Rückgangs der Prostitution, immer weniger ,Nachschub'. Noch zu Beginn des Fünfjahrplans glaubten wir, der Bau ganzer neuer Städte, der Zustrom ausländischer Spezialisten, die Konzentrierung riesiger, eben erst vom Dorf gekommener Arbeitermassen  in  den  neuen  Industriezentren  werde  eher ein  Anwachsen  als  eine  Abnahme  der  Prostitution  bewirken;  wir  stellten  deshalb  einen  eigenen  Fünfjahrplan auf,  der  eine  Vermehrung  der  Betten  bis  auf  1200  vorsah. Die  tatsächliche  Entwicklung  hat  unsere  Voranschläge über  den  Haufen  geworfen;  wir  sind",  sagt  er  und  lächelt, „ein  Betrieb,  der  seinen  Fünfjahrplan  nicht  erfüllt." Wie viel  Insassen  das  Prophylakterium  beherberge?  Dreihundertundfünfundneunzig.  -  Ja,  sie  seien  alle  freiwillig gekommen,  nach  der  Entlassung  aus  dem  Krankenhaus, wo  sie  einen  sogenannten  ersten  Behandlungskursus durchgemacht  hatten;  jetzt,  während  der  Nachbehandlung,  arbeite  ein  Teil  in  den  Werkstätten  des  Prophylakteriums,  gegen  volle  Entlohnung  selbstverständlich,  der andere  in  den  Lehrlingsschulen  einiger  großer  Betriebe. Auf  der  Tafel  der  Wandzeitung  klebt  ein  Zettel,  der  zum Besuch  des  Festabends  „zu  Ehren  unserer  prämiierten Stoßbrigaden"  auffordert.  Ein  zweiter  Zettel  kündigt  an, dass,  gemäß  dem  einstimmigen  Beschluss  der  letzten  Vollversammlung,  die  Zahl  der  politischen  Lehrstunden  ab nächster  Woche  verdoppelt  wird.
 „Ja, sie lernen mit großem Eifer, in der Werkstatt, in der Betriebsschule, in den Kursen. Wir haben in den fünf Jahren seit der Gründung unseres Prophylakteriums der Industrie nicht weniger als zwölfhundert hochqualifizierte Arbeiterinnen  geliefert;  vierhundert  von  ihnen  besuchen
 Fortbildungsschulen, Arbeiterfakultäten, Technika; zweiundsiebenzig sind in den Komsomol und in die Partei aufgenommen worden, eine ganze Anzahl arbeitet in der Gewerkschaftsbewegung,  eine  ist  Vorsitzende  des  Betriebsrates  einer  großen  Fabrik."
 In der Trikotagewerkstatt hängt, mitten im Saal, ein Transparent mit den Kontrollzahlen des Sozialistischen Wettbewerbs zwischen Strickerinnen und Schneiderinnen. Vorläufig hat die Schneiderwerkstatt einen ziemlichen Vorsprung. „Aber wir holen sie ein", versichert uns das Mädchen an der ersten Strickmaschine, „die Trikotage bleibt nicht zurück, da können Sie unbesorgt sein!" Im Klub ist schon ein Teil der Ausstellung aufgebaut. Eine Wand des großen Zimmers ist von einer Landkarte bedeckt. Kleine Fahnen, die über den europäischen Hauptstädten schweben, tragen statt der Staatswappen Ziffern: Wien 32000, Berlin 50000, Paris 80000, London 100000, Moskau 400.
 „Die Anzahl der Prostituierten!" erläutert der Direktor. „Und in Moskau gibt es wirklich nur vierhundert?" „Ja,  ungefähr  vierhundert.  Selbstverständlich  ist  diese Zahl  ein  Resultat  von  Schätzungen,  wie  die  anderen  Zahlen  auch,  nur  dass  unsere  Statistiker  in  diesem  Fall  viel genauer  arbeiten  können  als  ihre  ausländischen  Kollegen, weil  in  einer  Stadt  wie  Moskau,  wo  es  keine  Stundenhotels, keine  nachsichtigen  Zimmervermieter  und  weitherzigen Hauswirte,  keine  privaten  Schankunternehmungen  und keine  Nachtlokale  gibt,  die  Zahl  der  Prostituierten  viel leichter  geschätzt  werden  kann  als  beispielsweise  in  Paris oder  London."
 „Vierhundert Prostituierte in einer Millionenstadt, das würde aber doch..."
 „Jawohl, das bedeutet, dass wir die Prostitution bereits so gut wie liquidiert haben. In einem Land ohne Arbeitslose, in einer Gesellschaft, die keine Ausbeutung duldet, in einem Staat, der die volle wirtschaftliche, politische und soziale Gleichberechtigung der Frau nicht nur proklamiert, sondern auch Wirklichkeit werden lässt, muss die Prostitution zwangsläufig ihren Massencharakter verlieren. Die paar Hundert Prostituierten, die es bei uns noch gibt, sind entweder geistig defekte oder arbeitsscheue und gesellschaftlich schädliche Elemente. Wie richtig diese Annahme ist, mag Ihnen die Tatsache beweisen, dass wir in diesem Jahr zum ersten mal auch Psychiater zur Behandlung neuaufgenommener Mädchen heranziehen mussten; bisher kamen eben nur Frauen zu uns, die sich aus Not und Arbeitslosigkeit prostituiert hatten, diese Schicht - und das war die große Mehrheit aller Prostituierten wählte,  als  ihr  die  Möglichkeit  dazu  geboten  wurde, eine  andere  Art  des  Lebensunterhalts;  was  jetzt  noch  zu uns  kommt,  ist  schon  mehr  oder  weniger  geistig  in  Unordnung... Das ist eine neue Lage, der wir Rechnung tragen müssen. Wir werden, was wir bisher nicht getan haben, in Zukunft gegen die Reste der Prostitution mit Zwangsmaßnahmen vorgehen, werden die einen in Heilanstalten unterbringen, die andern in Erziehungsheimen und Arbeitskommunen, etwa von der Art, wie wir sie für die verwahrlosten Kinder eingerichtet haben. Von der endgültigen Vernichtung der Prostitution bis zur Beseitigung der Syphilis als Massenkrankheit ist dann nur noch ein Schritt. Diesen Schritt werden wir noch vor Ende des zweiten Fünfjahrplans hinter uns haben. Das ist keine Phrase. Noch im Jahr 1928 entfielen auf je 10000 Einwohner 57 Syphilitiker, heute sind es nur mehr 31; im Jahre 1928... Aber Sie haben wohl keine Zeit mehr?" Nein, ich habe keine Zeit mehr. Ich muss gehen. Nur von Mirjam möchte ich mich noch verabschieden. Aber Mirjam ist nicht da.
 „Sie lässt Sie grüßen", sagt die diensthabende Ärztin, „sie hätte gern auf Sie gewartet, aber sie konnte nicht. Sie ist heute an der Reihe. Sie muss referieren. Im marxistischen Seminar der Abenduniversität..."
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