Der Daumen vor dem Auge
Rechts ab von der Straße, die Staudamm und Werk verbindet, liegt das Gebiet der „Sozialistischen Stadt". In einer Broschüre, die uns Beg Kushejew geborgt hat, ist beschrieben, wie sie aussehen wird: „Die Stadt Magnitogorsk wird im Schutz einer Hügelkette gebaut werden, südöstlich der Werke und um siebzig Meter höher als sie. Die vorherrschenden Südwestwinde werden Rauch und Gase nach der entgegengesetzten Richtung treiben; an windstillen Tagen wird der Qualm im Tal bleiben und die Stadt nicht erreichen. Magnitogorsk wird keine Wolkenkratzer kennen. Die Häuser werden höchstens vier Stockwerke haben, alle öffentlichen Gebäude und Kinderanstalten werden einstöckig sein.
In der Mitte der Stadt wird das Kulturzentrum liegen; die Theater, die Kinos, das Gewerkschaftshaus, das Sowjethaus, die Hauptpost, das Zentralwarenhaus, die Zentralgarage und ein Platz für Versammlungen. Die drei Haupttore des Werks werden durch Straßenbahnlinien mit der Stadt verbunden sein; für den Verkehr werden zwei Hauptstraßen freigegeben werden, die Querstraßen werden still und ruhig sein.
Jeder Stadtteil wird 9600 Menschen beherbergen, je 1200 in sieben Häusern mit Familienwohnungen und je 600 in vier Wohnkommunen mit Einzelzimmern. Jede Häusergruppe wird ihre Speisehalle, ihre Kinderkrippe, ihren Kindergarten haben; am Anfang jedes Stadtteils werden ein Postamt, die Klubs und die Warenhäuser liegen. In den Häusern wird es keine dunklen Korridore, keine gewundenen Treppen geben; die Fenster werden nach Osten und Westen gerichtet sein; zu jeder Wohnung wird ein Bad gehören.
Die Stadt wird sich in Grün kleiden. Hier, in der Steppe, wo das Gras abstirbt, bevor es noch zu reifen begonnen hat, soll eine Gartenstadt erstehen. Ein eigenes Kanal- und Berieselungssystem wird zu diesem Zwecke geschaffen werden müssen. Jeder Stadtteil wird eine Allee für Spaziergänge und Demonstrationen bekommen; alle großen Straßenkreuzungen werden in Grün getaucht sein; zwei Kulturparks mit einem Flächeninhalt von 25 Hektar sind projektiert. Breite Grünflächen werden Stadtteil von Stadtteil scheiden; rund um die Stadt soll sich ein Kranz von Erholungsheimen spannen; in Magnitogorsk soll das Leben des Arbeiters mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet sein, die die heutige Technik schaffen kann." So wird die „Sozialistische Stadt" einmal aussehen. Das steht nicht nur in der Broschüre, das erklärt nicht nur die Werksleitung, das behauptet nicht nur der Ingenieur der Planabteilung, mit dem wir sie durchstreifen; das sagen auch die Bauarbeiter, die sie bauen, und das glauben auch die Menschen, die heute schon in ihr wohnen, - was erstaunlich und unglaublich und tröstlich und ermutigend ist, denn die „Sozialistische Stadt" von heute lässt noch nichts von ihrem morgigen Gesicht sehen. Die „Sozialistische Stadt" ist einstweilen kahl, unfertig, schmutzig; sie ist erst zum kleinsten Teil aus der Erde gewachsen, aber sie ist schon übervölkert.
„Wir haben eben keine Zeit, zu warten, bis alle Häuserfronten verputzt und alle Balkone mit Geländern versehen sind!" sagt der Ingenieur aus der Planabteilung, wie wir, nach einem langen und ermüdenden Streifzug durch die Stadt mit ihm und vier anderen, einem Arzt, einem Kooperativleiter, einem alten Bauarbeiter und dem Gehilfen eines Roten Direktors um einen Tisch der Zentralspeisehalle sitzen. „Jeden Tag treffen Hunderte neuer Arbeiter ein und müssen untergebracht werden; wir kommen mit dem Barackenbau kaum nach, wir haben Mangel an Zelten, da können wir nicht ganze Häuserblocks leerstehen lassen, nur weil das elektrische Licht in den Zimmern noch nicht funktioniert oder die Fensterflügel fehlen. Ein Dach und vier Wände, das ist die Hauptsache, alles andere hat Zeit bis später." Der Arzt wendet ein:
„Das mag ja richtig sein, aber dann hätte man sich auf den Bau von Baracken und Blockhäusern beschränken sollen; die sind schneller gebaut und kosten weniger. Auch entsprechen sie viel besser den Verhältnissen, unter denen wir vorläufig hier leben und arbeiten müssen. So aber hat man gleich eine richtige Stadt zu bauen angefangen, lauter Steinhäuser mit Badezimmern und Wasserklosetts und Fernheizung, und dann hat man nicht einmal so lange warten können, bis die Wände trocken waren und die Türen Klinken hatten! Jetzt sitzen die Leute in den feuchten Zimmern, die Heizung arbeitet noch nicht, sie stellen Kanonenöfen auf und durchbohren die funkelnagelneuen Mauern, damit der Rauch hinaus kann; in den Badewannen wird geschlafen und die Aborte sind abgesperrt, weil zwar Porzellanmuscheln da sind, aber die Wasserleitung nicht genug Druck hat!"
„Und zu all dem noch das Ungeziefer!" ergänzt der Kooperativleiter. „Die Wohnungen waren ja schon verwanzt, bevor die ersten Bewohner einzogen!" „Das kommt daher", erklärt der alte Bauarbeiter, „dass viele von den Erdarbeitern und Handlangern in den Neubauten übernachten, obwohl es verboten ist!" Der Ingenieur meint:
„Wo steht denn geschrieben, dass die Handlanger voller Ungeziefer sein müssen? Aber da sieht man wieder einmal, wie unsere Hygienefritzen arbeiten!" Der Arzt ereifert sich:
„Wie können wir alles Ungeziefer vernichten, wenn wir nicht genug Desinfektionsbaracken und Autos haben?! Sowie man irgendetwas braucht, heißt es immer: ,Zuerst die Hochöfen, zuerst das Werk, und dann erst alles andere!' Seit Wochen kämpfen wir um die Bauarbeiter, die uns die neue Quarantänestation auf dem Bahnhof bauen sollen; Holz haben wir schon ergattert, Ziegel, Kalk, Sand, Wellblech, alles haben wir erbettelt oder erpresst, nur die Arbeiter sind nicht da. Und dabei müssten wir nicht nur die Station bauen, sondern auch zwei neue Bäder!" „Was nützen Bäder", wirft der Gehilfe des Roten Direktors ein, „wenn ihr es mit Kirgisen zu tun habt?! Ich will euch eine Geschichte erzählen. Da haben wir für unsere Fabrik ein herrliches Bad gebaut mit Duschen und Wannen und einem kleinen Bassin; die Desinfektionskammer arbeitet tadellos, die Wäsche wird in ihr nicht gelb, und wenn doch einmal etwas beschädigt wird, haben wir Ersatzstücke da: zweihundert Hemden und Unterhosen und Fußlappen. Sogar Seife geben wir kostenlos ab. Aber glaubt ihr, dass die Kirgisen das Bad benutzen? Zuerst kamen sie überhaupt nicht, ,Baden macht krank!' sagten sie, ,das Pferd steigt auch nicht in heißes Wasser!', und als sie dann plötzlich das Bad zu besuchen anfingen, kamen wir dahinter, dass sie bloß die Seife einsteckten, um sie nach Hause zu schicken; selber benutzten sie sie nicht!" Der Ingenieur bemerkt:
„Man müsste eben die Kulturarbeit erhöhen!"
„Wie kann man das", fragt der Arzt, „wenn kaum genug kirgisisch sprechende Instruktoren für die Anlernkurse da sind? Die Liquidatoren und Lehrer, die unter den Kirgisen arbeiten, könnt ihr an den Fingern abzählen!"
Der Gehilfe des Direktors ergänzt:
„Und außerdem: wo sollen die Leute Zeit zum Lernen hernehmen? Gestern musste ich wieder einmal zwei Stunden lang anstehen, um Tabak zu bekommen, und meine Frau war neulich vier Stunden lang in der Schlange und hat zum Schluss die Schuhe, die sie haben wollte, doch nicht bekommen. Rechnet euch mal aus, was erst so ein Kirgise an Zeit verliert!"
„Das liegt am Transport, Genosse", beeilt sich der Kooperativleiter zu versichern, „wenn der Transport besser klappte, würden die Kooperativen besser arbeiten. Ich selbst habe zwei Waggons Waren in Tscheljabinsk liegen und kann sie nicht hierherbekommen, weil die Strecke überlastet ist. Der Transport hinkt nach, Genossen, das ist es!"
„Wie soll er nicht nachhinken?" gibt der Arzt zu bedenken. „Das Werk frisst von Tag zu Tag mehr Rohstoffe und Maschinen; von allen Ecken und Enden schicken sie Züge nach Magnitogorsk... und zehn Züge sind eben schneller abgeschickt, als zehn Meter neue Schienen gelegt werden. Und dann haben wir kaum dreißig Prozent geübter Eisenbahner, der Rest hat vor einem Jahr noch die Mistfuhre und nicht den Zug gefahren. Man müsste ein paar hundert Schlosser und Mechaniker aus den Werkstätten in den Transport hinüberwerfen!" Der Ingenieur meckert.
„Ein paar hundert Schlosser und Mechaniker! Wissen Sie, wie viel gelernte Arbeiter unter den zweihundertundfünfzigtausend Menschen sind, die hier arbeiten? Kaum siebzigtausend, die andern sind noch halbe Bauern oder Nomaden; die müssen erst zu Arbeitern erzogen werden, und das dauert manchmal länger als der Bau einer Werkstätte! Es fehlt an Kadern, da steckt der Urschaden!" Es tritt eine Pause ein. Dann sagt der alte Bauarbeiter:
„Ja, es fehlt an Kadern, Genossen. Aber warum? Wir wachsen so stürmisch, das ist es. Wir bauen ein Krankenhaus in einem Jahr, aber wir backen einen Arzt nicht in zwölf Monaten fertig. Wir richten eine Fabrik in zwei Jahren ein, aber wir müssen einen Studenten drei Jahre lang lernen lassen, bevor er in ihr als Ingenieur arbeiten kann. Was ist da zu tun? Keine Krankenhäuser und Fabriken bauen?
Das geht doch nicht. Da muss eben vorläufig ein Mann die Arbeit von zweien übernehmen... Ihr sagt: es fehlt hier an etwas und dort an etwas, und es fehlt tatsächlich sehr viel, aber man muss sehen, warum es fehlt. Das hängt mit dem Wachsen zusammen. Das Land ist wie ein Junge in den Flegeljahren, der wächst auch aus allen Kleidern heraus; eben hat er eine neue Hose bekommen und schon ist die Jacke wieder zu eng, heute setzt du die Ärmel an und morgen musst du die Hosenbeine verlängern. Gewiss, es gibt außerdem noch Unwissenheit und Schlamperei und Dummheit und Gleichgültigkeit; wir wirtschaften nicht immer so, wie wir sollten; wir reden oft lieber von Disziplin, als dass wir sie halten; wir vergessen oft über dem Tempo die Qualität, und über den Erfolgen die Mängel; kurz, es klappt noch vieles nicht, Genossen; aber ich glaube, man muss die Dinge richtig sehen. Es kommt auf die Proportionen an, wie die Techniker sagen. Auf die richtigen Proportionen, Genossen!... Das, was wir bauen, ist ein neues Jahrhundert; das, was uns drückt, ist eine Unzulänglichkeit, die einen Monat, ein Jahr, drei Jahre dauert.
Man muss die Mängel und Schwierigkeiten richtig sehen; im Verhältnis zu dem, was schon geschaffen wurde und was unter unseren Händen entsteht. Wenn du dir den Daumen vors Auge hältst, verdeckt er dir einen ganzen Berg.
Man soll sich den Daumen nicht vors Auge halten, Genossen; ich meine, das soll man nicht!"
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