ZUKUNFT IM ROHBAU
Die Stadt, die täglich jünger wird
„Du wirst Moskau nicht wiedererkennen", schrieb mir Jula, mein tschechischer Freund, den die böhmischen Kolonisten, die jetzt in der mittelasiatischen Stadt Frunse leben, auf die „Moskauer Universität der Westvölker" geschickt haben, damit er später ihre Kinder erziehe, „wie es sich für zentralasiatische Sowjet-Tschechen gehört". Ich werde die Stadt nicht wiedererkennen, schrieb er, es habe sich alles verändert, und überhaupt sei das Leben dort in so stürmischer Vorwärtsentwicklung begriffen, dass die Ziffern und Dokumente, Beweise und Betrachtungen, die man heute als Neuestes vom Neuen niederschreibe, schon morgen, wenn man sie liest, veraltet und von der Wirklichkeit längst überholt seien. „Aber das wirst du ja selber sehen, sowie du ankommst." Jula hatte recht. In dieser Stadt ist alles im Fluss. Zwei Jahre sind seit meinem letzten Besuch vergangen, sie haben die Stadt völlig verwandelt.
Es ist wahr, sie ist noch immer, was sie früher war: halb ein ungeheures asiatisches Dorf und halb eine funkelnagelneue amerikanische Wolkenkratzerstadt, aber dieser Kontrast ist nicht mehr, wie früher, das auffälligste Merkmal der Stadt.
Gewiss, er übt noch immer seinen Reiz aus, dieser Gegensatz zwischen stillen, weltverlorenen Gassen voller ehemaliger Adelspaläste, in denen es nach einer versunkenen, verschollenen Vergangenheit riecht, und den von Lärm und Bewegung erfüllten Boulevards, auf denen die Zukunft fiebert; dieser Gegensatz zwischen zinnengeschmückten Burgmauern und Turmdächern, die, wie im Märchen, „von eitel Gold" sind, und den roten Fahnen, die über dem Märchengold flattern; dieser Gegensatz zwischen vergessenen Sackgassen und dunklen „Kaufmannshöfen", aus denen der Duft von Kohlsuppe und der Klang von Ziehharmonikas (kurz ein Hauch der russischen Romantik, wie sie deutsche Oberstudienräte meinen) heraus geweht kommt, und den großen Plätzen, auf denen zweihundertundfünfzigtausend junge Pioniere zu ihrem Festtag schmetternd aufmarschieren ... aber während dieser Gegensatz früher zu den stärksten Eindrücken gehörte, die der Fremde von Moskau empfing, ist er heute nur ein Eindruck unter vielen anderen. Man vermerkt ihn, wie man vermerkt, dass hier, wo noch bei deinem letzten Moskauer Aufenthalt eine kleine Kirche stand, jetzt ein großer Arbeiterklub in die Höhe wächst; dass in den winkligen, schmalen Straßen der Innenstadt plötzlich die bunten Signale der neuen Verkehrsampeln aufleuchten; dass der Autobus mit einem mal zu rütteln aufhört, weil das Katzenkopfpflaster, ohne das man sich eine Moskauer Straße nicht vorstellen konnte, durch Asphalt ersetzt worden ist; dass die Milizionäre, die doch immer in geflickten Mänteln herumliefen, jetzt schneeweiße Handschuhe und „Bobby-Uniformen" anhaben; dass über die Privatläden, die allerdings schon seit dem Ende der NÖP kränkelten, jetzt das große Sterben gekommen ist... All das vermerkt man als neu und interessant, aber der große entscheidende Eindruck kommt von anderswo: von dort, wo bis vor kurzem noch gar nichts von Moskau zu sehen war, von den neuen Vorstädten, den aus der Erde schießenden Arbeitervierteln, den im Bau befindlichen Siedlungen rund um die alte Stadt.
Wenn man über die frühere Stadtgrenze hinauskommt, dorthin, wo kürzlich noch freies Land war, merkt man, dass die Stadt, die große alt-neue Stadt innerhalb und außerhalb der „Tatarenmauer", nur der Kern einer neuen, gigantischen Metropole ist, die allerdings noch in den Baugerüsten steckt.
Bauplatz liegt neben Bauplatz. Man kommt sich vor wie in einer Ausstellung, die an Modellen in Originalgröße den Bau eines Hauses, einer Straße, einer Stadt in allen seinen Stadien zeigen will: Tiefbauten, Gerüste, Grundsteine, erste Stockwerke, zweite Stockwerke, Häuser noch ohne Dach, Häuser mit dem grünen Bäumchen auf eben fertiggestelltem Giebel, Rohbauten noch ohne Putz, fertige Gebäude mit kalkbeschmierten Fensterscheiben... Es wird gegraben, gezimmert, gemauert, genietet. Alle Menschen rundum sind vom Bautaumel ergriffen. Vor den großen Tafeln, auf denen der Stand des Sozialistischen Wettbewerbs zwischen den Betonmischern und Nietern der Postbaubelegschaft und der Vorsprung der Postbaubelegschaft vor den Straßenarbeitern vermerkt wird, stehen die Dreikäsehochs - deren Väter die Betonkanonen und Asphaltmaschinen bedienen und Kies karren und Ziegel legen und Balken zimmern und Nieten hämmern -und diskutieren darüber, welche von den dreiundzwanzig Belegschaften des Bezirks die rote Wettbewerbsfahne erhalten wird; der Stiefelputzer interessiert sich, während er deinen rechten Schuh mit zwei großen Bürsten bearbeitet, für die neuesten ausländischen Asphaltierungsmethoden; und der Milizionär, den man nach dem Weg fragt, verbreitet sich, im Anschluss an seine Auskunft, über das Projekt der Untergrundbahn, deren erste Schächte schon gegraben werden.
Hier wird eine Druckerei gebaut („Ebenso leistungsfähig wie die der ,New-York-Times'!" sagt der Friseur, der am Türpfosten seines in einer Baracke untergebrachten Ladens lehnt und der Arbeit der Krane zusieht). Unten stellt man schon Maschinen in einem großen Saal auf, oben arbeiten noch die Krane und Maurerkellen.
Dort kann man eine neue Schule bewundern. Vor dem Tor stehen Kisten, aus denen die Holzwolle hervorquillt wie der Mageninhalt aufgeschlitzter Puppen. Die Kisten tragen deutsche Aufschriften: „Achtung! Nicht stürzen! Optische Geräte!"; die Mikroskope, die in ihnen waren, werden eben - man sieht es durch die Fenster - in die Fächer eines Lehrmittelkabinetts eingeordnet, aber außen, vor den Fenstern, fahren noch rote Dachziegel in einem Paternosteraufzug in die Höhe.
Viele Straßen stehen schon da, funkelnagelneu, als habe man sie soeben aus einem Riesenbaukasten ausgepackt; andere Straßenzüge sind erst zu einem kleinen Teil aus der Erde hervorgekrochen; und noch andere - die meisten -haben ihre Geburt gewissermaßen erst angekündigt. Seltsam sieht solch ein Stadtteil aus, der nur aus bunten Pflöcken, aus weißen Kalkstrichen, aus kleinen Holztafeln mit künftigen Straßennamen, aus winzigen Buden mit großen Bauplänen besteht, und doch hat man - angesteckt von den Menschen, die hier das Gelände abstecken und die ersten Bretterzäune zusammennageln - das sichere Gefühl: es ist schon alles da, dort die Straßenkreuzung und hier die Passage und dort das Warenhaus und noch weiter drüben der Klub...
Es ist schon alles da, nur die Augen sind noch gestrig; sie sehen noch einen Zustand, wo bereits ein Prozess eingesetzt hat.
Und während ich den künftigen „Roten Prospekt" entlang stolpere, der „um zwei Meter breiter sein wird als die Fifth Avenue und nach der neuesten Methode makadamisiert" (heute allerdings ist er noch ein unordentliches Bündel tiefer Wagenspuren in lehmiger Erde), wollen mir die Worte nicht aus dem Kopf, die, am Abend des ersten Tages, als man bei Jula zusammensaß und die Rede auf seinen Brief kam, der deutsche Architekt aus der Moskauer Plankommission gesagt hat:
„Ja, Moskau... Moskau ist heute eine Stadt, in der eigentlich das Morgen immer schon ein Gestern ist."
1932
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