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Franz Carl Weiskopf - Umsteigen ins 21. Jahrhundert (1927)
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Von Frauen, Kutschern und Kremlglocken

„Wohin?"
„In die Twerskaja (Anm.: heute Gorkistraße)!" „Fünfundsiebzig Kopeken." „Das ist zu viel, mein Lieber..."
Ich hatte diese Worte ganz mechanisch hergesagt, gewohnt, jedesmal um den Preis einer Droschkenfahrt erst einmal tüchtig feilschen zu müssen, bevor der Iswostschik (Droschkenkutscher) seine übertriebene Forderung auf das übliche Maß herabschraubte. Vielleicht auch hatte ich die Zahl gar nicht gehört, die er nannte, jedenfalls war ich überzeugt, dass sie zu hoch sein müsse. Ich war deshalb nicht wenig erstaunt, statt des erwarteten Bedauerns über eine entgangene Schröpfgelegenheit (gewürzt mit Klagen über schlechte Zeitläufe und eine unglaublich zahlreiche und hungrige Familie) die herbe Enttäuschung einer in ihrer Erwartung - Großherzigkeit und Bescheidenheit dankbar gewürdigt zu sehen - getäuschten edlen Seele zu vernehmen:
„Zu viel, Bürger? Fünfundsiebzig Kopeken zu viel?..." Der Schmerz steigerte sich zur Entrüstung: „Wo Sie doch Ausländer sind, und ich einen Rubel fünfundzwanzig hätte verlangen können..." Ich war beschämt. Nicht so sehr durch die Großzügigkeit, mit der er darauf verzichtete, von mir einen höheren Preis zu fordern als von einem „Eingeborenen", als vielmehr durch den Freimut, mit dem er mich auf sein gutes Recht aufmerksam machte, unverkennbare Ausländer zu schröpfen.
Ich war beschämt und stieg, ohne auch nur noch ein einziges Wort zu verlieren, ein. Fünfundsiebzig Kopeken waren wirklich kein hoher Preis. Ich nahm mir vor, ihm fünfundachtzig Kopeken zu geben... Um meine schnöde Handlungsweise von vorhin gutzumachen und dann... weil er ohnehin nicht mehr als fünfzehn Kopeken Kleingeld in seiner Tasche finden wird, wenn ich mit einem Rubelschein zahle. Und ich lehnte mich weit zurück, kniff die Augen halb zu, so dass der im blauen Mantel mit grünem Kragen und Gürtel steckende Rücken auf dem Kutschbock vor mir zu unförmlicher Breite anschwoll. Lehnte mich zurück und ließ mich von den Schaukelbewegungen des leichten Wägelchens wiegen. (Zwei Personen haben Platz darin, mehr nicht.) - Fühlte mich wohl, sowohl, wie immer, wenn ich durch diese wunderbare Stadt fuhr, die halb ungeheures asiatisches Dorf, halb amerikanische Wolkenkratzerstadt ist; deren frühere Adelspaläste in stillen, weltverlorenen Gassen noch nach verschollener Vergangenheit duften, während auf ihren menschenerfüllten Boulevards schon die Zukunft fiebert; durch diese Stadt, deren Schlosstürme wie im Märchen „von eitel Gold" sind, und über denen doch die rote Fahne einer sieghaften Wirklichkeit flattert; durch diese Stadt, in der es breitflächige, aus Glas und Beton geschaffene neue Häuser gibt, und Stadtviertel mit blindfenstrigen Hütten und unheimlichen Steinwürfeln, in deren Innern weitläufige Höfe nach Pferdeställen riechen; durch diese Stadt, auf deren größtem Platze zweihundertfünfzigtausend junge Pioniere schmetternd aufmarschieren, und in deren vergessenen Sackgassen (in Samoskworetschje, in der Nähe des Marktes, der „Sumpf" heißt) du noch anachronistische Garmoschki (Ziehharmoniken) hören kannst.
Fühlte mich wohl und dachte an Fanny Markowna, die ich soeben nach Hause begleitet hatte. An ihre Haare, die wild und ungebärdig sind wie kleine, schwarze Steppenpferdchen, und an ihre Mandelaugen, die tief sind wie die Verzweiflung eines unglücklich verliebten Gymnasiasten und schimmernd wie die Träume eines einsamen Gefangenen. An ihre Knöchel, die...
Da drehte sich mein Iswostschik auf dem Bock um und sagte unvermittelt mitten in meine Schwärmerei: „Ja, es ist ein Kreuz mit der Liebe... am besten, man geht ihr aus dem Wege..." Kutscher sind Menschenkenner und philosophisch veranlagt. Das bringt ihr Beruf mit sich. Ich war deshalb nicht weiter erstaunt, aus dem Munde meines rosslenkenden Freundes einen Ausspruch zu hören, der ebenso gut Ausfluss einer allgemein gehaltenen Lebensphilosophie, als auch - psychologischer Erkenntnis meines augenblicklichen Gemütszustandes entsprungener - Ratschlag sein konnte.
Ich war nicht erstaunt, aber ich wollte wissen, woran ich war: allgemeine Erkenntnis oder persönlicher Rat?
Und so kamen wir ins Gespräch.
Die Zügel sanken schlaff nieder, und das Pferdchen wählte den Weg nach eigenem Gutdünken.
Oh, es war ein köstliches Gespräch! Es war, von deiner Seite, teurer Porphyri Semjonowitsch (du siehst, ich habe deinen Namen und Vatersnamen behalten, obwohl es -das magst du mir glauben - für einen Fremden keine kleine Sache ist, sich die Väter zu merken, wenn man kaum noch die Söhne und Töchter kennt), einer jener unvergesslichen Sermone, gewichtig und dabei doch voll heiterer Ironie, wie sie nur ein Moskauer Iswostschik zu halten versteht, einer jener prächtigen Kerls, die dir zum Beispiel folgendes anstellen:
Du steigst ein und sagst beiläufig: „Ein schönes Pferd hast du da, Onkelchen!"... und verlierst gleich darauf die Sprache, weil der Iswostschik auf die Mähre einschlägt und die Twerskaja hinuntersaust, dass dir Hören und Sehen vergeht. Dann - unten, bevor noch der Milizionär auf der Moissejewskaja in Sicht kommt- mäßigt er das Tempo und bemerkt liebenswürdig: „Und die Hälfte dessen, was die Strafe für Schnellfahren ausmachen würde, können Sie mir geben, Bürger... der Milizionär hat nichts gemerkt!" Oder aber: du merkst, obwohl du eben erst angekommen und noch ein blutiger Neuling bist, dass dich dein guter Iswostschik schon eine halbe Stunde im Kreis herumfährt, und teilst ihm diese Entdeckung mit, worauf er gleichmütig nickt: „Nun ja, Genosse, wir fahren ein wenig länger, als es notwendig wäre, aber die Eisenbahn fährt auch nicht immer den kürzesten Weg... und dann, warum sollen Sie (der Sie doch ohnehin anderthalb Rubel zahlen) nicht einen Begriff von der Größe unseres roten Moskau haben...?..."
Oder aber - allein nicht davon will ich berichten, sondern von deinem Sermon, Porphyri Semjonowitsch, an den ich mich noch heute mit schmunzelndem Behagen und tiefer Bewunderung erinnere. Ich erinnere mich noch, wie du - von der Erkenntnis der Bitterkeit aller Liebe ausgehend - riefst: „Ja, Bürger, ja, Genosse, die Liebe ist ein grausames und bitteres Ding, aber sie hat uns alle in der Hand, und wenn Valentina Konstantinowna, meine Frau, behauptet, ich wolle mich von ihr nur deshalb scheiden lassen, um den ganzen Verdienst allein vertrinken zu können, so lügt sie infam, denn sie weiß, dass mich das Weibsbild..." Ihren Namen habe ich vergessen, nicht aber ihre Reize, deren Schönheit du in glühenden Farben maltest, um dann plötzlich zu deklamieren:
„Und sehen Sie, Genosse, ich bin stolz darauf, Mitglied eines so fortgeschrittenen, eines die Rechte der Unterdrückten und Schwachen so nachdrücklich wahrenden Staatswesens zu sein. Ich weiß, dass in der Freiheit die Wurzeln der Kraft und des Glückes liegen, und dass die Frau nur ein lange entbehrtes Recht erhält, wenn sie dem Manne gleichgestellt wird. Und ich billige freudigen Herzens alle Dekrete des Rates der Volkskommissare, des ZEK (Anm.: Zentralexekutivkomitee der UdSSR) und des WZEK (Anm.: Gesamtrussisches Zentralkomitee), auch das Dekret über Ehe und Scheidung aber sagen Sie selbst, Genosse, sagen Sie, der Sie doch als Ausländer, in dessen Heimat nicht so für die Schwachen und Unterdrückten gesorgt wird, der also von noch größerer Bewunderung für unsere Dekrete erfüllt sein muss als ich, sagen Sie selbst, ob ich dieses Dekret sabotiere, wie Valentina Konstantinowna sagt, wenn ich mich scheiden lassen will, ohne ihr die Hälfte meines Pferdes zu geben...? Sagen Sie selbst, ob das Dekret, wenn es bei der Scheidung die Teilung des gemeinsamen Besitzes verfügt, meint, dass ein Pferd, dass mein Pferd ein Besitztum ist, das geteilt werden soll...?!"
Und ich erinnere mich auch noch, wie du vom eigenen Leid die Brücke zum Leid deines Nächsten schlugst: „Das alles übrigens, mein Seelchen (und hier gingst du zum vertraulichen ,Du' über), das alles habe ich dir nur erzählt, um dich zu warnen: ich habe nämlich gesehen, wie du, nachdem das Mädchen im Haustor verschwunden war, dort gestanden bist, wie... wie..., nun eben wie jemand, der sich verlieben will... und das sollst du nicht, mein Täubchen, das sollst du nicht...!" „Wenn sie aber so schön ist, Porphyri Semjonowitsch, wenn sie aber so schön ist..." Und du darauf:
„Das sind sie alle... solange, bis sie sich verheiraten. Dann werden sie Hexen, wie Valentina Konstantinowna eine ist, die will, dass ich bei ihr bleibe oder ihr ein halbes Pferd gebe..."
„Aber Porphyri Semjonowitsch, welch ein Wort: Hexen!... Wenn du sie sähest: ihre Lippen sind samtene Rosenkissen und wenn sie ,daleko, daleko ...' sagt (was ,weit, weit...' heißt), so klingt das, wie die Kremlglocken klingen..." „...geklungen haben, Seelchen, geklungen haben. Jetzt nämlich läuten sie die Internationale... hihihihi...!" Ich blieb die Antwort schuldig. Der Wagen hielt, wir waren in der Twerskaja. Ich habe dich nie wieder gesehen, Porphyri Semjonowitsch.

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