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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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VIII.

Der Sturm war zum Orkan geworden. Das Schilf torkelte in dem Auf und Nieder der bergehohen Wogen, als hätte es Fahrt und Richtung verloren. In den Nebel, Schnee und Regen mischte sich außerdem plötzlich Hagel. Er prasselte auf das Deck, als wollte er Eisen, Holz und Glas auseinander schlagen, und er sammelte sich überall an, häufte sich auf, als wäre der Himmel auseinander gebrochen und stürze nun in großen, gläsernen Stücken nieder.
Der Däne und Belgier mussten den Franzosen führen, als sie in den Tagesraum hinüber gingen. Auch die Französin musste sich festhalten, sonst hätte der wirbelnde, über Wasser und Schiff rasende Wind sie mitgenommen.
Der Raum war ganz warm geworden. Der Geduckte erzählte Geschichten, als sie ihn betraten. Er hatte sich einen Stuhl zwischen Heizrohr und Wand gestoßen und saß unmittelbar auf der Hitzfläche. Der Deutsche stand rechts und der Amerikaner stand links von ihm.
„Gentlemen!" rief er etwas lauter, um auch die Ankommenden anzulocken, „es geht nichts über das Leben eines amerikanischen Landstreichers. Im Winter läuft er nach dem Süden, und im Sommer ist er oben im Norden, Ich habe die Fahrt zwölfmal gemacht. Immer mit guten Kameraden. Wenn man dabei täglich zwischen Auto und Eisenbahn wechseln kann, manchmal auch zu Fuß geht, besonders wenn der Magen knurrt, das ist so, als gehörte uns das ganze Land!
Einmal, „schrie er auf und lachte, „da hatten sie uns geschnappt. Es war schon kalt, und wir fuhren zu dritt von St. Louis nach Memphis. Auf einer kleinen Station holten sie uns unter dem Zug vor und begannen, uns zu verprügeln. Da wurde der ganze Zug plötzlich lebendig, wir waren auf einmal sechzehn Tramps, packten die Kerle wieder auf die Lokomotive, und sie mussten weiterfahren. Kurz vor Memphis sprangen wir dann alle in die Büsche.
In der Nähe von Jakson“, fuhr er fort, „es ist unten im Mississippigebiet, ging es uns noch schlechter. Wir luden uns zu sechst bei einem Farmer ein, der gerade Schweine schlachtete. Wir aßen die ganze Nacht; aber irgend so ein Kerlchen war davon gelaufen und holte die Nachbarn. Man nahm vier von uns fest, auch mich, und sie wollten uns noch in derselben Stunde lynchen. Nur einer alten Mutter haben wir es zu verdanken, dass wir
an diesem Tage noch am Leben blieben und dass uns erst in Jakson der Prozess gemacht werden sollte. He! und wir dachten auch, es wäre tatsächlich der letzte Tag angebrochen, denn im Süden hängen sie gleich, wenn sie einen haben, und selbst das Vor-den-Richter-Kommen ist genau so, wie wenn dir der Strick schon um den Hals liegt. Aber was hatten die beiden gemacht, die davongelaufen waren. Sie waren nach Jakson gesprungen und hatten alles zusammengetrommelt, was von Weltfahrern die Stadt bevölkerte, und als uns die Farmer am Morgen durch ein Tälchen fuhren, war plötzlich die Straße versperrt! Hu! gab es da Wichse! Die Farmer sprangen wie die Hasen! Wir haben aber drei Tage gelacht über ihre verbeulten Hinterseiten und sind auf ihren Kästen bis beinahe an die mexikanische Grenze weitergetrottelt!"
Alle lachten. Auch der Holländer und der Russe, die herangetreten waren. Nur der Deutsche machte ein schiefes Gesicht
„So ein Spitzbube bist du also", knurrte er und stellte sich vor dem Geduckten auf. „Ein richtiger Lump! Bestiehlt man ehrliche Leute? Fährt man wie ein Bandit durch das Land? Heute noch sollte man dich dafür anzeigen!"
Der Geduckte hatte einen solchen Angriff nicht erwartet. Er fiel auf seinem Thron zusammen, besah sich den Deutschen blinzelnd und machte ein Gesicht, als hätte er wirklich etwas gestohlen.
Alle lachten lauter. „Ich glaube“, sagte der Däne, „einer von seinen Genossen ist dir einmal über den Weg gelaufen."
Der Deutsche fuhr herum. „Begaunert haben sie mich, „schrie er und fuchtelte mit den Armen, „mich beschimpft, mir meine Ehre beschmutzt. Einsperren sollte man sie alle!"
„Das solltest du uns erzählen", sagte der Däne und rückte ihm näher.
Der Deutsche begann schon. „Ich wohnte damals noch vor der Stadt und machte nur Särge. Zwei kommen und betteln, und ich gebe ihnen Essen, damit sie mir am Nachmittag Holz kleinschlagen und Späne sammeln. Was machen sie aber? Sie stänkern im ganzen Haus herum, hocken in allen Ecken, nur die Hände rühren sie nicht. Was soll ich mit solchen Faulpelzen machen? Ich habe sie auf die Straße geworfen, wo sie hingehören!
Was tun sie nun?" Der Deutsche musste verschnaufen, weil ihm der Atem ausging und weil ihm die Geschichte noch wie eine Krankheit in den Knochen steckte. „Sie hatten mir Kreide gemaust und schrieben die ganze Nacht, drei Meilen im Umkreis und auch unten in der Stadt, an alle Zäune und Wände, dass ich fichtene Bretter unter meine eichenen Särge nagele. Drei Jahre hat es gedauert, bis ich diesen Schandfleck wieder richtig von meinem Schilde hatte."
Die Männer lachten nicht laut, als der Deutsche geendet hatte, sie prusteten nur vor sich hin und kniffen die Augen zusammen. Der Krumme, der hinter den Deutschen getreten war und die Litanei mit angehört hatte, konnte sein Mundwerk aber nicht zusammenhalten. Er ließ es aufplatzen.
„Mister, „redete er den Deutschen vornehm an und versuchte, sein ernstestes Gesicht zu machen, „habt ihr danach weiter die fichtenen Bretter unter die eichenen Särge genagelt?"
Der Deutsche öffnete den Mund, aber die Worte, die er sagen wollte, blieben ihm irgendwo zwischen Magen und Kehle stecken. Er schien auch plötzlich das Gefühl zu haben, in eine für ihn unfaire Gesellschaft geraten zu sein. Er senkte darum bloß den Kopf, um anzudeuten, dass er keinen dieser Burschen mehr sehe und schob sich mit ein wenig ausgebreiteten Armen eilig aus ihrer Mitte.
Alle lachten nun hell und fröhlich hinter ihm her. Auch der Franzose versuchte mitzulachen. „Genossen“, sagte der Kranke, als es wieder ruhiger geworden war, „bei Newark habe ich einen solchen Streich mit verbrochen. Wir waren zu zweit, ein kleiner schwarzer Italiener, den ich in Neuyork aufgelesen hatte, war mit mir, und wir versuchten, Philadelphia zu erreichen. Wir waren leer wie ausgedroschene Weizengarben, hatten keinen Cent mehr in der Tasche aber Hunger wie die Wölfe. In einem Hof, der gleichzeitig Fleischerei war, bettelten wir um Brot und Nachtlager.
Ein Alter kam heraus“, erzählte er langsam, „beleuchtete uns von oben bis unten und schien uns „allright" zu finden für einen schlechten Streich. Wir durften uns in das Schlachthaus setzen, bekamen eine Wurst vorgesetzt, die man scheinbar für Menschen unserer Art aufgehoben hatte, und dann ließ uns der Alte, aber erst nachdem wir zwei Stunden eine schwere Hackmaschine gedreht hatten, in einen leeren Stall, in dem nichts weiter war als Kuh- und Schweinedreck und faules, stinkiges Stroh.
Wir wussten nicht, wo wir uns hinsetzen sollten“, krächzte er weiter, „da ließ der Alte noch einen großen Köter herein, der allerdings anständiger war als der Kerl und uns, nachdem er uns berochen hatte, in Ruhe ließ.
Was sollten wir tun. Das Tor war verriegelt und schien auch fest. Fenster hatte das stinkende Loch zwei, aber sie waren so klein, dass keiner von uns durchrutschen konnte. Nun, wir haben dem Kerl das Dach abgedeckt und sind hinausgeklettert. Aber wir waren so wütend, dass wir ihm noch alle Tore aushängten und sie in den nahen Sumpf warfen. Auch drei kleine Wagen jagten wir hinterher und alles, was auf dem Hof herumstand und nicht angenagelt oder festgekettet war. Bis gegen drei Uhr morgens tobten wir uns aus, dann sind wir losgerannt, um noch vor Mitternacht nach Newark zu kommen und um irgendwie einen Unterschlupf zu finden!"
Der Krumme lachte dröhnend und hielt sich den Bauch. „Den Alten hätte ich sehen mögen, als er am andern Morgen seine Laternen aufsperrte", brüllte er,
Auch der Schotte wieherte wie ein Ross. „Das war tüchtig", schrie er. „Verdammt, Jedem von den Brüdern sollte man die schlechten Späße so gut heimzahlen!"
„Ja, „sagte der Belgier noch und sah den Krummen dabei an, „was soll aber dem Alten besonders passiert sein, als er seine Augen aufmachte. Er wird gedacht haben, sie sind von meiner Wurst so wild geworden!"
Die Gruppe löste sich nach dem Gelächter auf. Der Amerikaner trat zu dem Langen hinüber und stieß ihn an. „Du bist ein Engländer?" fragte er ihn.
„Schon 700 Jahre", antwortete der Lange. Er machte ein Marabugesicht und hielt den Kopf schief.
Der Amerikaner lächelte. „Hast du gearbeitet in den Staaten", fragte er weiter und kam einen Schritt näher.
Das Gesicht des Engländers wurde länger. „Hast du schon einmal gehört, dass jemand in Amerika satt wird, der nichts tut? Ich habe arbeiten müssen Ich war zuerst Tischwascher, dann Gelegenheitsarbeiter. Jetzt bin ich Bergmann“,
„Du fährst wieder nach England?" Der Amerikaner betrachtete den Langen genauer.
„Alle drei Jahre!" nickte der zurück. „Nach Carlisle, später nach London. Im Sommer muss ich aber zurück nach Pittsburgh."
„Alle drei Jahre?" wiederholte der Amerikaner. „Gibt es in England keine Arbeit für dich?"
„England"', antwortete der Lange, hat mehr Arbeitslose auf seiner Insel als Steine auf seinen Straßen. Wenn du die Rentner noch dazu rechnest, könntest du annehmen, das ganze Volk hätte sich zur Ruhe gesetzt!"
„Und sollte sich das nicht ändern?" Der Amerikaner war erstaunt.
„Es wird schlechter!" näselte der Engländer und machte ein melancholisches Gesicht. „Vor 50 Jahren dachte unsere Nation, sie hätte genügend Völker unterjocht, um für die Ewigkeit Zinsen und Renten zu beziehen. Sie machte darum aus unserm Land einen Krautgarten mit Sommervillen Die Fabriken blieben bestehen, aber es war kein Ernst hinter der ganzen Arbeit. Die Kolonien wurden gezwungen zu kaufen, was zusammengeschustert wurde, und auch den Arbeitern ging es dadurch ganz erträglich.
Sie setzten Kinder in die Welt wie die Karnickel, und unsere Insel stank schon, so viel Menschen hockten auf ihr zusammen!
Jetzt", sagte er und machte ein noch trübseligeres Gesicht, „wird den Negern und den Indern, den Arabern und den Hottentotten unsere Fütterung aber zu bunt. Nicht einmal unsere Regierung wollen sie sich mehr gefallen lassen, sie stellen sich auf die Hinterbeine, beschimpfen uns und revoltieren."
„Nützt es ihnen etwas?" fragte der Amerikaner gespannt.
„Heute noch nicht viel", antwortete der Engländer. „Das heißt, auf unsere Waren verzichten sie schon zum größten Teil. Sie besorgen sich von anderen Ländern bessere, oder sie bauen sich selber Fabriken. Unsere Rentner und Fabrikanten schreien Mord und Totschlag deswegen. Aber ihre kriegerischen Gelüste drücken unsere Schlachtschiffe und unsere Soldaten noch tot. Wenigstens heute und morgen."
„Aber später?" wendete der Amerikaner ein.
„Dja!" sagte der Engländer und ließ seine Unterlippe hängen, „deswegen arbeite ich ja schon."
Der Amerikaner lachte und schüttelte sich. Er schob seine Brille von den Augen und setzte sie wieder hinauf.
„Lache nur", sagte der Lange und verzog sein Gesicht noch mehr. „Wir lebten zu dritt, zwei Brüder und eine Schwester, von den Aktien einer Fabrik in Kalkutta. Als die Inder anfingen, unsere Waren zu boykottieren, ging sie Pleite, und wir saßen auf der Straße. Mein Bruder konnte reiten. Meine Schwester konnte gut Foxtrott tanzen. Ich war der Dümmste. Ich konnte nichts!"
Schon lächelnd sprach er weiter. „Wir hielten Kriegsrat. Es gab drei Möglichkeiten. Wir konnten uns bei Onkeln und Tanten herumdrücken, bis sie uns an die Luft setzten. Das war das Leichteste und auch das Bequemste. Wir konnten bei der Regierung um Unterstützung betteln, das war schon schwieriger, vielleicht hätte sie uns aber etwas gegeben. Wir konnten arbeiten, das hätte die größte Mühe gemacht. Außerdem galt es auch für unfair.
Als kurz hintereinander noch drei andere Rentnerfamilien verarmten, kam mein Bruder zu einem Entschluss. Er ist, nebenbei gesagt, ein feuriger Patriot! Henry, sagte er zu mir, ich habe in den letzen vier Wochen folgendes auskalkuliert. Es geht abwärts mit England. Man kann nicht ewig von den Errungenschaften seiner Vorfahren leben. Wir arbeiten zu wenig. Das sehe nicht nur ich ein, sondern hundert andere auch. Was willst du tun? Du kannst auf deinem Platz sitzen bleiben, stockkonservativ, wie du bis heute warst, und sagen, wenn dich England mit seinen Negern und Indern nicht mehr ernähren kann, dann kann es zu Grunde gehen. Du kannst aber dorthin gehen, wo man heute in England noch arbeitet, wo man nicht am Konservativismus zu Grunde gehen will und einen neuen Versuch ,England' probiert, zu den Arbeitern!
Ich", näselte der Lange langsamer und versuchte, ein dummes Gesicht zu machen, „habe mich zuerst geschüttelt wie ein Hund, dem man zu kaltes Wasser über den Rücken gegossen hat. Mein Bruder war aber schon nach drei Tagen in einer Automobilfabrik und nach sechs Wochen mit einem schauderhaft männlichen Wesen von einer Gewerkschaftssekretärin verheiratet. Meine Schwester machte es ihm nach acht Tagen nach. Nur noch schlimmer. Sie spulte ein viertel Jahr in einer Weberei und warf sich dann an einen Kerl, der dort die Stühle reparierte!
Siehst du, „sagte er, holte tief Luft und zeigte auf den Krummen, „damit du glaubst, dass sie sich verkuppelt hat, da drüben steht er und schäkert mit dem Weibsbild. Zu seiner Ehre muss gesagt werden, dass er früher etwas besser aussah. Brechende Kohle hat ihm das Gesicht so verhunzt, und in ihrer Nähe wird er auch manierlicher. Aber sonst ist er verschossen in jeden Weiberrock und läufig wie ein alter Hase. Dazu jähzornig und versoffen, macht Krakeel und muss in allen Dingen Recht behalten)
Seitdem er aus der Spinnerei hinausgeworfen wurde, hat er umgesattelt und reist in Kohle. Mich hat er, nachdem ich zuletzt von einem Onkel aus dem Hause gesetzt wurde, aus lauter Gutmütigkeit aufgelesen und mitgenommen. Jetzt", der Lange lächelte wieder, „arbeiten wir in derselben Firma. Das heißt, er hackt die Kohlen, und ich schaufle sie ein. Zu mehr bin ich noch immer zu dumm!"
„Bekommt dir diese Arbeit", fragte der Amerikaner und betrachtete den Langen eine Weile.
Der Engländer wurde ernst. „Wie soll mir die Arbeit bekommen", wiederholte er. „Wie sie jedem bekommt, der ihr ein halbes Leben aus dem Wege gegangen ist, — schlecht! Aber ich habe da unten in den schwarzen Löchern manches gelernt.
Zuerst, „sagte er leiser, „dass wir Parasiten doch das schlechteste und gemeinste Pack sind, das auf der Erde wächst. Neben mir schund sich einer, der hatte einen halben Fuß verloren, war taub, und ein Auge war ihm eingeschlagen worden, aber er schuftete für seine drei Kinder, bis ihn der Berg ganz erdrückte. Zwei Frauen schaufelten oben Kohle, davon hatte die erste zwei Kinder, und sie waren alle beide von dem Inspektor, aber der Kerl ließ sie weiter schaufeln. Die andere hatte gar vier von den schmutzigen Würmern, und ihr Mann lag mit zerdrücktem Rückgrat im Bett und musste gepäppelt werden wie ein Säugling. Sie greinten aber nicht oder schimpften, ja, wenn wir sie abends auf den Hintern schlugen, lachten sie noch und machten Späße. Und wir Pack saufen, tanzen, huren, trinken und beten auf dieser Armut herum, lassen uns von ihr ernähren und drücken sie noch tiefer in Elend und Dreck."
Der Engländer machte eine Pause und verschloss sein Gesicht, als hätte er zuviel gesagt. Der Amerikaner ließ ihn aber nicht los. „Mann, „sagte er spöttisch, „ist das alles, was du in den Kohlenlöchern gelernt hast? Das ist eine alte Weisheit, und aus der haben schon deine Väter ihren Nutzen gezogen."
Der Engländer wollte hastig einfallen, aber er behielt seine Antwort noch ein wenig zwischen den Zähnen. Langsam sprach er: „Ja, das ist alles. Sicher, es ist auch nichts, und die Welt besteht schon einige hundert Jahre so. Aber es gab Zeiten, da hatte das alles eine gewisse Berechtigung. Mein Großvater hatte vier Schiffe und fuhr jedes Jahr zweimal nach dem Kap und nach Indien, um sein Vermögen zu vermehren. Er hatte auch in England keine Arbeitstiere, wenigstens waren seine Lagerhalter keine, und wenn die Schiffe ausgeladen wurden, half er selber mit. Warum wurde er reich? Nun, er war groß, stark, hatte Energie und Mut. Es war ein Kerl! Und keiner neidete ihm darum seine Erfolge und dass er langsam zur Herrscherkaste stieg. Jetzt", er schwieg einen Augenblick, fuhr sich mit seinen länglichen Händen über das Gesicht und stöhnte.
„Jetzt?" fragte auch der Amerikaner.
„Was sind wir dagegen", sprach er noch langsamer. Was ist die heutige Herrscherkaste? Ausgedörrtes, fauliges Gesindel, das von der Dummheit der anderen lebt! Tagediebe, Spitzbuben, Trottel! Ja, Trottel!" rief er lauter, „trotz allem Dingeidangel, den sie sich umgehängt haben. Trottel, wie ich selber einmal einer war!"
Der Amerikaner lächelte. „Glaubst du es etwa nicht?" fragte der Engländer, der außer Atem gekommen war. „Ich könnte dir hundert Nächte von unseren Vergnügungen im Club erzählen, von unseren Nachtmälern und Tänzen mit den Mädchen von der Charlotten Street'. Wir trieben es toller als die Hunde, und jedes Hürchen wurde noch rot, wenn wir unsere Späße mit ihr machten!"
Der Amerikaner machte schon ein ernsteres Gesicht. „Und war es bei den Arbeitern besser?" fragte er,
„Menschlicher", fiel der Lange ein, „und heroischer. Ich habe wenigstens noch nirgends so viel Größe und Lebensmut gesehen wie bei ihnen. Wenn es ihnen am schlechtesten ging, brachten sie die meiste Hoffnung auf. Wenn sie sich schon vor Hunger und Elend auf der Erde wälzten, war der Glaube an eine bessere Zeit am stärksten. Und", sprach er nach kurzem Nachdenken weiter, „das Seltsamste war, dass sie bei all ihrem Denken, auch bei den Revolutionen, nicht ausschließlich an sich dachten. Sie sprachen nur immer von dem Menschen, der es einmal besser haben
sollte, vielleicht von ihren Kindern, die das neue Zeitalter noch erleben würden, aber sich betrachteten sie immer nur als die Nochgequälten, als die Nochgepeinigten, als die, auf denen die ganze Verantwortung für die kommende Zeit liegt. Mit mir arbeitete ein kleiner Schlepper zusammen. Es war ein hageres Männlein, irgendwo aus einem ärmlichen Nest in Böhmen, der sagte immer pathetisch: ,Wir sind die Garde, die die Zukunft erobern muss. Vielleicht fallen wir alle. Aber was macht das? Das Blut der Geopferten bringt nur Segen.' Ich habe über ihn gelächelt, bis ich ihn nach einem Streik in Pittsburgh im Krankenhaus besuchen musste. Der Leib war ihm aufgerissen worden, und es gab keine Hoffnung mehr. Flennst du, Genosse? sagte er zu mir, als er mein Wasser sah, du tätest mir einen Gefallen, wenn du mutiger wärest. Was soll das Heulen auch? Mit jedem Toten kommen wir unseren Zielen näher!
Was bringt meine Klasse dagegen auf!" sprach er schneller, als er sah, dass der Amerikaner die Hand erhob und etwas sagen wollte. „Nichts! Das einzige, was sie tun, ist, sie verstärken die Polizei, das Militär. Sie kaufen Gase und Giftstoffe auf. Sie umgeben sich mit einem Stab von Menschen, der ihren Besitz und ihre Trägheit verteidigen soll. Aber was bedeutet das gegen den Anmarsch der unteren Klassen? Was bedeutet das überhaupt gegen den Ansturm und die Wandlungen des Menschen? Die Toten werden sich höher häufen. Es wird gewaltsamer zugehen, wenn der Vormarsch beginnt. Dafür wird aber auch die Rache größer sein!"
„Du hast also gar keine Hoffnung, dass sich diese Klasse noch wandelt", wandte der Amerikaner ein. „Dass sie spüren, dass ihre Rechte untergraben sind, nicht nur durch die Massen, sondern durch die Zeit!"
Der Engländer lächelte schmerzlich. „Ich habe mich geändert, das ist aber weniger meine Schuld als die meines Bruders und meiner Schwester. Wir stammen auch von Bauern ab, vielleicht ist es mir darum leichter geworden. Sonst hat die Aristokratie nur einen Gedanken: Verteidigung. Sicher, sie weiß so bestimmt wie ich, dass ihre Verteidigungslinie schwach ist, und dass sie einmal zerstört werden wird. Aber es ist zu altes Blut in ihnen. Wenn sie schon untergehen müssen, sie wollen auf ihren Bastionen untergehen. Sie setzen dem Heroismus und dem Mut der Massen ihren Konservativismus und ihren Skeptizismus entgegen. Stürmt! schreien sie, wir werden uns verteidigen. Und wenn wir auch fallen, wir besitzen noch so viel Stärke und Größe, um euch mit herabzureißen. Denn was wollt ihr! Ein England ohne unsere Herrschaft, das ist genau so wahnsinnig wie ein Himmel ohne Gott!"
Der Engländer war schwach geworden von seiner langen Rede. Er sah auch ganz blass und käsig aus und trat zurück. Der Amerikaner sah ihn noch immer an, schob nachdenklich seine Brille nach oben und tat ein paar Schritte, um ihm nachzugehen, aber der Franzose, der den beiden zugehört hatte, trat dazwischen und hielt ihn auf.
„Der Mann hat Recht!" sagte er mit seiner hüstelnden Stimme. „Es ist nicht allein der englische Aristokrat, der mit seinem Untergang sein ganzes Volk in die Tiefe reißen will. In deinem Amerika und in den übrigen Staaten ist es genau so. Überall glauben diese Brüder, die von ihrer Geburt an mit dem Hintern auf Gold gesessen haben, ob sie nun auf den Börsen, in den Fabriken oder auf dem Lande hocken, sie hätten das Recht des Reichseins und des Herrschens schon bei der Erschaffung der Erde als Privileg bekommen!
Aber", er hustete auf und spie eine Wolke von Schnaps und Blut auf den Fußboden, „auch ihr Ende kommt. Denn es sitzt niemand auf der Erde, an dem man nicht rütteln könnte. Und es sind nicht die ersten, die man von hohen Sitzen herunterholt!"
Der Amerikaner antwortete nicht gleich. Das gelbe, von zwei roten Punkten betupfte Gesicht des Franzosen hatte ihn erschüttert. „Du hast recht“, sagte er dann, „und ich glaube an ihren Untergang. Wird es aber danach besser? Heute herrscht der, und morgen herrscht jener. Die Menschen sind seit der Erschaffung der Erde nicht glücklicher, sondern unglücklicher geworden!"
Der Franzose sah den Amerikaner erstaunt an, Er hatte eine andere Antwort erwartet und wusste nicht gleich, was er dem Bebrillten sagen sollte.
Der sprach bereits weiter. „Wer hat nicht schon alles das Zepter geschwungen. Die Bauern, die Städte, die Kirchen, die Fürsten, das Kapital! Was suchen sie aber alle. Ihren Nutzen!"
Der Franzose hob sich ein wenig. Er war erregt, und seine Backenflecke wurden röter. „Aber wir!" hüstelte er. „Wir sind doch die Arbeiter! Zählt das nicht! Die ganze Schlechtigkeit soll ausgerottet werden! Der Reichtum, der Besitz, die Kirche. Es wird nur noch eines geben“, er stieß seine Hände nach vorn und erhob seine Stimme lauter: „Die Freiheit!"

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