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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XII.

Der Steward kam und läutete mit der großen Glocke zum Kaffee. Alle gingen hinunter. Vor dem Heiligen ging die Betschwester. Sie war noch immer etwas verkatert, und sie schwenkte mit ihrer Bibel vor dem feierlichen Gesicht des Heiligen hin und her wie ein unerfahrener Messknabe vor seinem Priester.
Der Eßraum war beinahe leer. Nur die Französin saß am Tisch. Ihr Gesicht war gelb und eingefallen, und das doppelte Kinn hing nach unten, als sei es nur angeklebt.
Die Französin sah den Kommenden entgegen. Zuerst kam der Lange. Er grüßte kaum zu ihr hin und setzte sich an seinen Platz. Der Korrekte war höflicher. Er blieb vor seinem Stuhl stehen und nickte ihr zu. Auch der Krumme, der plötzlich hereinpolterte, lächelte zu ihr hinüber.
Die Französin sah die Männer aber kaum. Ihre Augen, die verglast in den blauen Höhlen schwammen, suchten den Geduckten.
Die Jüdin rauschte in den Saal. Sie trippelte so sonderbar wie sonst. Der Mund stand ihr etwas offen, und er war nach oben gezogen wie der Mund von einem gescholtenen Kind.
Bevor sie sich setzte, sah sie erst über den Tisch. Vor jedem Stuhl stand ein dampfender Teller mit Grütze. Dazwischen Weißbrot, Butter und Heringe. Sogar ein Teller mit Schinken.
Als die Jüdin saß, betrachtete sie gleich wieder den Langen. Sie erschrak nicht vor den starren Blicken, mit denen sie der Engländer ansah. Ihr Gesicht glitt nur von seinen Augen auf seinen Teller. Sie schob diesen näher an den Sitzenden, sie schob ihm auch das weiße Brot zu, das neben ihr stand, stichelte sich danach Butter in die Grütze und begann zu essen.
Der Lange sah ihr mit einer giftigen Gebärde zu. Seine dünngliedrigen feinen Finger, die auf der karierten Tischdecke lagen, zitterten. Er wusste aber nicht, was er hier gegen die Frau tun sollte.
Der Russe und der Franzose kamen. Sie hielten sich beide an den Armen, und ihre Gesichter waren hell und freudig.
„Es gibt Grütze", sagte der Franzose und zog Luft in die Nase.
„Grütze", sagte der kleine Russe nach und schnalzte mit der Zunge.
Jetzt nahte der Amerikaner. Sein Kopf hing etwas seitwärts, er schien nachzudenken. Als er in seinem Sitz hockte, blickte er, bevor er den Löffel in die Grütze steckte, hinauf zu dem schmalen Gesicht des Langen. Er betrachtete es eine Weile.
Der Achte, der hereinstolzierte, war der dicke Holländer. Sein Gesicht erschien in der Türfüllung wie ein Mond, und der graue Schal hing darum, als stünde er in schweren Wolken.
Da er sah, dass die Betschwester noch nicht an ihrem Platz war, blieb er an der Tür stehen. Er stand da nicht lange. Sie kam schon.
Sie musste sich besser in der Gewalt haben, denn sie lief bereits wieder ganz manierlich. Sie vergaß nicht einmal, ihr Buch vorsichtig auf den Tisch zu legen. Ja, sie schlug sogar ihr Kreuz, bevor sie den Löffel zum Mund führte.
Der Dicke, der ihr folgte, setzte sich hörbar in seinen Drehstuhl neben sie. Er war verliebter als am vergangenen Tage. Er konnte auch kaum essen. Sein Gesicht schielte mit einem lauernden Blick zu der Nachbarin. Wenn sich ihre Augen trafen, kullerten die seinigen freudig auf und nieder, und aus seiner Kehle kam ein gurrendes Glucksen.
Der Belgier und der Däne stürzten in den Raum. Sie hatten sich verspätet. Als sie sahen, dass sie noch nicht die letzten waren, wurden sie ruhiger. Sie setzten ziemlich laut ein Gespräch fort.
„Sieh, Kamerad!" sagte der Belgier, nachdem er sich zurückgelehnt hatte, „alle Fortschritte werden durch die langsame Entwicklung gehemmt, und wir bewegen uns so schneckenhaft einem Umsturz und einer Änderung entgegen, weil der Mensch selber so schneckenhaft ist. Es gibt zuviel Schlechte und Eigensüchtige. Zuviel Dumme und Beschränkte. Die menschlichen Schichten, auch bei den Arbeitern, liegen zu weit auseinander. Die Klassen sind zu verschieden. Das ist es. Das ist unser Hemmschuh!"
Der Däne ließ ihn kaum aussprechen. „Schichten! Klassen!" sagte er, „was ist das für ein Unsinn? Es gibt nur etwas in der Welt, Ausgebeutete und Ausbeuter! Ob dabei Arme oder Dumme sind, Hohe oder Niedrige, das ist gleich. Notwendig ist nur, dass man sie auseinander trennt!"
„Wer scheidet sie aber auseinander?" fragte der Belgier mit einem überlegenen Gesicht. „Sie laufen zusammen wie rot und lila. Ich habe hundert Ausgebeutete gekannt, die heute selber ausbeuten. Besitz, das ist noch immer die Zukunft!"
Er machte eine Pause und löffelte sich Grütze auf den Teller. „Und", fuhr er fort, „ein noch größeres Hindernis sind die Völker und Rassen. Der Mensch ist zu abgegrenzt, um zu gleicher Zeit dasselbe zu tun. Was nützt den Russen ihr Kommunismus, wenn die ganze Welt gegen sie ist, ja, wenn sich in einzelnen Völkergruppen heute erst der Kapitalismus bildet. Russland ist groß, aber die Welt ist größer! 0!" sagte er, und er würgte dabei an einem Löffel Grütze, den er sich in den Mund geschoben hatte, „ich kann dir überzeugendere Beispiele sagen. Denk an Amerika; der Arbeiter pfeift auf deinen Kommunismus. Denk an Italien, an Portugal, an Spanien, an die Schweiz, auch an Frankreich und an England, du kannst sie zählen, deine revolutionären Weltverbesserer und Propheten!"
Der Däne hatte sich tief geduckt. „Du bist Sozialist?" fragte er. „Du glaubst an den Sozialismus? Ja, was erwartest du denn überhaupt?"
Der Belgier war darauf nicht vorbereitet. „Alles!" antwortete er trotzdem mit Pathos. „Der Sozialismus kommt. Er ist geschichtlich angekündigt! Er ist eine wirtschaftliche Unabänderlichkeit! Die Menschen werden ihm nicht entgehen können, und wenn sie ihren ganzen Verstand dagegen aufstellen!"
Das Gesicht des Dänen war rot geworden. „Ha!" lachte er, „und bis dahin sollen wir uns also weiter zu Tode schuften. Bis dahin sollen wir auf dem Bauch liegen und warten, bis sich das große Wunder vollzieht! Ho!" er schlug mit der Faust auf den Tisch, „lieber renne ich mir doch noch hundertmal den Schädel ein, lieber will ich mir jeden Hirnklumpen einzeln aus dem Kopf schlagen lassen! Warten!" seine Stimme schnappte nach oben, „ich will revoltieren, bis mir der Atem ausgeht!"
Es war still geworden nach der Entladung des Dänen. Alle sahen von ihrem Essen auf und blickten zu ihm hinauf. Auch der Amerikaner schielte den Erregten an. Er lächelte dabei.
„Freund!" sagte er nach einer Weile und legte seine Hand väterlich über den Tisch auf den bebenden Arm des Dänen, „du musst die Welt ruhiger betrachten. Außerdem hat dein Kamerad Unrecht!
Erstens!" er setzte sich umständlich und wie ein amtierender Pastor auf seinen Stuhl, „die Menschen sind im Allgemeinen gleich. Wer ist schlecht? Wer ist eigensüchtig? Wer ist dumm? Wer ist beschränkt? Alle und keiner. Jeder nach seiner Weise und jeder nach seiner Art. Jeder auch in verschiedenen Ausmaßen. Aber was macht das? Keiner hebt sich aus der Menschheit heraus. Keiner verändert das Gesicht der Menschheit. Jeder ist nur soweit dumm oder beschränkt, wie es der Mensch sein kann!
Er hob sein Gesicht ein wenig und fiel in einen dozierenden Ton. „Wo liegen also die Verschiedenheiten? Wo sind also die Schichten? Wir sind ein Ganzes, der Mensch, ein Ganzes, wenn wir auch kranke Außenseiten haben, und dieses Ganze kann, wenn seine Zeit da ist oder wenn es aus seinem Heute geschleudert wird, auch gemeinsam und mit gleicher Stärke etwas Höheres oder Größeres erreichen!
Klassen, Völker, Rassen!" sagte er dann, „was ist das! Sind das Grenzen? Ist das eine Behinderung? Klassen hat der Mensch geschaffen, sicher, sie bestehen oft Jahrhunderte, aber sie können von den Menschen wieder durchbrochen werden. Völker! Völker haben sich seit Jahrtausenden durch alle Länder geschoben, haben sich gemischt und neue Kulturen angenommen, sind über Nacht gewandelt worden, und ihr Gesicht hat sich einem neuen Landstrich angepasst. Was sind sie also? Menschliche Herden! Die heute größte Möglichkeit der menschlichen Gemeinschaft, Sieh Russland an, unsere Vereinigten Staaten, das große England, können sie nicht überall noch zahlreicher ineinander wachsen? Was trennt die Menschen denn? Eine anerzogene Abneigung!
Und Rassen!" Er lächelte überlegen. „Sind nicht unsere Neger in Neuyork und Boston genau so klug wie die Weißen? Steht nicht jeder Chinese in einer älteren und tieferen Kultur als wir? Haben sich nicht die Japaner in einem halben Jahrhundert zur Weltmacht erhoben? Rassen sind nur Ausdruck von Farbe und Landschaft, und sie sind nie losgelöst von der großen Entwicklung oder von dem gemeinsamen Sein!
Oh!" sagte er jetzt feierlich und schob seine Brille dazu in die Höhe, „gibt es überhaupt Grenzen, gibt es überhaupt Absperrungen? Können wir nicht alle dasselbe empfinden? Und empfinden wir heute nicht schon alle dasselbe? Was sind unsere religiösen Handlungen, ob sie nun christlich oder heidnisch sind? — gemeinsame Gefühle der Demut. Und warum stehen wir jetzt alle in unserem Leben, erschrocken und betroffen, und so, als erwarteten wir etwas Gewaltiges und Großes! Ist es nicht gleich, ob du es Kommunismus nennst und der andere Sozialismus, oder der Dritte ein religiöses Wunder erwartet und der Vierte irgendeine kleinere Freiheit. Sicher, ganz sicher!" wiederholte er noch einmal, und er sah den Dänen mit seinen glänzenden, brillenlosen Augen in das zusammengezogene Gesicht, wir empfinden alle dasselbe. Der eine stark und der andere weniger stark. Der eine verbindet es mit seinen Wünschen, und der andere wehrt sich dagegen. Aber es ist da, und man kann es verkünden und aussprechen!"
„Und!" sagte der Däne schnell, der auf den Schluss des Amerikaners gewartet hatte, „man kann es wünschen, und man kann es emporreißen. Man kann an den Pfosten des Alten rütteln und es entwurzeln oder umhauen. Und man kann schon heute auf seinen Trümmern das Neue beginnen!" Er blitzte den Belgier und den Amerikaner an. „Die Kommune! Die klassen- und rassenlose Gesellschaft! Das kommende Bauern- und Arbeiterreich!"
Das Gesicht des Belgiers, das bis jetzt scharf und spitz zu dem Bebrillten gesehen hatte, wurde spöttisch. „Dann haben wir das Paradies“, sagte er mit einem sonderbaren Augenaufschlag, „wenigstens der eine, der nach der großen Zertrümmerung und dem allgemeinen Totschlagen übrig bleibt!"
Fast alle, die am Tisch saßen, hatten zugehört. Der Schotte und der Geduckte, die später eingetreten waren, auch. Einige lachten über die Worte des Belgiers. Besonders der dicke Holländer meckerte auf. Mit diesem Lachen endete das Gespräch. Der Amerikaner schlürfte bereits seine Grütze. Der Däne, der vor Zorn einen feuerroten Kopf bekommen hatte, tat dasselbe, und die anderen schlürften und tranken mit.
Die einzige, die weiter mit Unterbrechungen aß, war die Französin. Sie hatte lange auf den Geduckten gewartet, und als er eingetreten war, hatte sie ihm mit Mund und Körper entgegengezüngelt.
Der, das lederne Gesicht zeigte nicht die geringste Änderung, beachtete sie aber kaum. Auch jetzt, als er seinen Brei löffelte, sah er nicht zu ihr hin, und als sich ihre Gesichter doch trafen, blieb das seine hart und unbeweglich. Er streifte sie bloß und blickte dann hinüber zu dem dicken Holländer.
Die Französin vergaß den züngelnden Mund zu schließen. War der Kerl so? Sie sah ihn schärfer an. Ihre Lippen pressten sich dabei dünn zusammen, und auf ihrer Stirn zeigten sich Falten.
„Ha!" lachte sie plötzlich und ihr Gesicht strahlte schon wieder, es gab ja noch mehr Männer. Dieses Lachen traf den Korrekten, der es erfreut auffing und zurückspiegelte. Es flog einen Augenblick später hinüber zu dem Krummen, der sich darunter bog und aufgrunzte. Es flog sogar dem Schotten in die Augen und berührte den Amerikaner.
Selbst den dicken Holländer lächelte die Französin an. Der warb aber tapfer weiter um seine Betschwester. Er wurde dabei rot und zapplig, fiel aber immer wieder in eine gewisse Schüchternheit. Manchmal wurde er allerdings aktiver. Er versuchte dann, seine linke Hand auf das Knie der Heiligen, zu schieben und sie zu kneifen.
Die Betschwester wehrte sich dagegen. Sie fauchte ihren Liebhaber an. Es half nur nichts. Ihrem heutigen Gesicht fehlte die Strenge, und so musste sie die kneifende Hand immer wieder zurückschieben. Sie knurrte dazu, und ihre spitzen Hände wurden zu Krallen. Sie schlug sie in die wulstigen Finger des Dicken hinein.
Als die Ersten bereits aufgestanden waren, zeigten sich erst der Heilige und der Deutsche. Der Heilige war angezogener als zu seinem Morgengang. Der Deutsche schlich geduckt und klein hinter ihm.
Der Heilige schritt schnell an seinen Platz. Der Deutsche blieb mit eingezogenen Schultern an der Türe. Sein Gesicht war noch fahl und käsig von dem nächtlichen Schrecken, und er blinzelte ängstlich über den Tisch.
Als ihn aber niemand beachtete und auch der Schotte seinen Rücken nicht wandte, wurde er mutiger. Er schlängelte sich langsam zu seinem Stuhl. Wie ein Verhungerter stürzte er sich auf die Grütze.

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