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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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X.

Im Gang war es stiller geworden. Die Stewardess und die Betschwester waren in ihre Kabinen zurückgetreten, und der Lange war auch in die seinige gegangen. Nur die Französin stand noch an der Stelle, wo ihr der Krumme weggerissen wurde, hatte den Mund etwas rundlich geöffnet, und die früher steif abstehenden Arme lagen ihr kreuzweise über den Brüsten.
Langsam kam Leben in sie. Sie merkte, dass sie allein war. Das schien sie zu beunruhigen, Wo waren die Männer? Wo waren besonders der Dicke und der krumme Engländer?
Sie reckte sich auf. Ihr eingefallenes, gelbes Gesicht, das durch die Trunkenheit noch fahler geworden war, belebte sich wieder. Auch ihre Augen wurden lebhafter und blitzten auf. Sie sah nach rechts und nach links. Wirklich, sie waren alle verschwunden.
Da öffnete sich eine Tür, und der Geduckte kam heraus. Er hatte den betrunkenen Bruder in sein Bett gelegt und wollte nach den andern sehen,
Als er die erstaunt umherblickenden Augen der Frau sah, lachte er auf. „Ist dir keiner treu geblieben?" fragte er sie und bog sein Gesicht unter das ihre.
Die Französin fuhr vor den ledernen Backen und den herausstehenden Knochen, die das Gesicht des Geduckten umspannten, erschrocken zurück, „Gott!" kreischte sie auf. „Wer bist du!"
Der Geduckte lachte über den Aufschrei wie über einen schlechten Spaß. „He!" knurrte er und schlug die Frau mit der Faust auf die Schulter, „sehe ich aus wie ein Grünschnabel? Du solltest mich oder unsereinen doch erkennen!"
Die Französin machte aber weiter ein erschrockenes Gesicht. „Nein!" schrie sie und hob dazu ihre Hände, „ich kenne dich wirklich nicht. Ich habe dich noch nie gesehen. Du bist ja zum Fürchten!"
Der Geduckte nahm sie deswegen in die Arme. „Sei still, Schäfchen", flüsterte er, „Sag mir lieber, wo dein Bett ist!"
„O", sagte die Französin, die unter dem harten Griff des Geduckten zitterte. „Es ist unmöglich. Die Graue liegt mit in meiner Kammer!"
„Die mit dem Gebetbuch?" fragte der Geduckte und verzog sein ledernes Gesicht zu einem Grinsen,
„Ja", antwortete die Französin schnell.
„Ha! Ha!" Das Grinsen des Geduckten wurde zu einem Lachen. „Die Sorte kenne ich. Die wird sicher auch Besuch haben!"
Die Französin hielt den Atem an. „Die?" fragte sie. „Sie ist doch so heilig!"
Der Geduckte lachte lauter. „Heilig!" wiederholte er. „Die die Bibel schon über ihren Bauch halten müssen, mit denen steht es ganz schlimm!"
Sie gingen, während der Geduckte weitertuschelte, langsam vorwärts, „Verdammt!" fuhr der Mann plötzlich auf und ließ die Frau los, „da steht der Hofmeister!"
„Hat er uns schon gesehen?" fragte die Französin, die nur einen dicken Bauch aus einer Kabine ragen sah.
„Sicher!" sagte der Geduckte leiser, und nachdem er einen hohen Ton durch die Zähne gepfiffen hatte, sagte er noch: „du gehst einfach erst zu ihm!"
„Zu ihm?" sprach die Französin ängstlich nach und starrte den Geduckten an.
„Ja!" knurrte der Geduckte, es ist das Beste. Ich weiß das von meinen früheren Fahrten. Für diese Kerle ist alles nur eine Schweinerei und verboten, solange ihre eigene Nase nicht darin war. Wenn du also zuerst zu ihm gehst, steht dir danach das ganze Schiff offen!"
„Zu so einem Dicken?" Die Französin schüttelte sich und drückte die Augen zusammen.
Der Geduckte tröstete sie. Ist das so schlimm?" fragte er und stieß sie vorwärts. „Er ist bald sechzig. Außerdem kann er dir auch so nichts mehr tun!"
Die Französin schien das zu beruhigen. Sie ging wenigstens weiter. Du!" rief sie dem Geduckten noch zu und beugte sich zurück, „aber nicht bei der Grauen in der Kabine. Ich fürchte mich zu sehr. Die gegenüber ist ganz leer. Ich habe nachgesehen!"
Vorn im Gang wurde es wieder lebhaft. Die letzten kamen vom Tagesraum herunter. Es waren der Schotte und der Däne, Der Steward, der auf diese Nachzügler gewartet hatte, schloss nun oben die Tür ab und drehte einige der kleinen Lampen aus.
Trotz des gedämpften Lichts und der vorgeschrittenen Zeit wurde es aber nicht ruhiger. Überall hörte man halblaute Stimmen, dumpfer und lauter, beruhigend und erregt. In der Leere und Einsamkeit des im Dunkel verschwindenden Ganges klang es, als wäre jedes der breiten, lackierten Bretter lebendig geworden und summe oder spräche.
Warum schliefen die Männer nicht? Nur der Korrekte schnarchte und stöhnte in seiner Kabine. Der Geduckte hatte ihn über sein Bett geworfen, und nun lag der junge Mann, der jedes Stäubchen von seinem Rock blies und nichts weiter als sich verbeugen konnte, zusammengeschoben in den Kissen.
Er sah auch sonst nicht korrekt aus. Der Kragen war ihm am Hals gerissen, und die Manschetten lagen beschmutzt und zerknüllt auf der Erde. Er hatte sogar gespieen, und jedes Mal, wenn er luftholend den Kopf hob, stieß ihm der Schnaps erneut aus der Kehle.
In der Kabine der beiden Engländer war es am ruhigsten. Oben kauerte der Dicke. Er hockte in Stiefeln und mit seinem geblümten Halstuch steif auf den Decken, sah mit starren Augen geradeaus, tastete manchmal über seine große Beule und stöhnte danach schmerzlich auf.
Der Krumme war trotz seiner unfreiwilligen Haft und seiner Betrunkenheit erregter und wilder. Er lag nicht auf dem Bett; er saß auf der eisernen Außenstange, hatte seine Fäuste auf die Knie gestemmt und brütete, das rote Gesicht darauf, vor sich hin.
Er dachte! Wenigstens machte er harte Anstrengungen, um die Gedanken, die wie Wasserblasen hinter seiner Hirnschale auf- und abstiegen, zu ordnen und einzugliedern.
Nach langer Überlegung wusste er das. Er hatte ein Weib in den Armen gehabt. Jetzt saß er hier. Gegenüber der Lange. Der oder ein anderer aber musste es ihm genommen haben. Jedenfalls war es das Notwendigste, sich an dem Langen für diesen Verlust zu rächen.
Ihm fiel allmählich mehr ein. Er sah plötzlich die Augen dieser Frau blinzelnd vor sich, spürte zwischen seinen Fingern, die sich zusammenkrallten, ihr Fleisch und sprang auf. „Hund!" schrie er den Langen an, „gib mir das Weib wieder!"
Der Lange, der ihn mit seinen eingekniffenen Augen und wie etwas Fremdes und Eigentümliches betrachtet hatte, blieb stumm. Die prüfenden Augen weiteten sich nur. Sie blickten härter und schärfer.
„Das Weib!" brüllte der Krumme, dessen Beine Halt bekamen und dessen Fäuste schon vor Wut und Sinnlichkeit zitterten.
Der Lange antwortete auch jetzt nicht. Sein Kopf streckte sich aber dem Kopf des wütenden Krummen entgegen. Dabei lösten sich seine Augen aus den Höhlen, wurden zu schillernden, kreisrunden Talern und tanzten vor dem Krummen hin und her.
Den beunruhigte das. Es musste ihn an etwas erinnern. „Henry", sagte er auf einmal erschrocken, und er schien seine ganze Wut vergessen zu haben, „was hast du?" Der Lange schüttelte sich unter diesem Anruf. Er verzog aber zu gleicher Zeit sein Gesicht, dass es gelb und fahl wie eine Fratze wurde und die schillernden Augen noch stärker hervortraten.
Den Krummen beunruhigte das genau so. „Henry!" wiederholte er leiser, nachdem er sich zurück auf sein Bett gesetzt hatte, „ich weiß es ja. Ich habe dir wehgetan. Ich bin ein Vieh!"
„Sicher!" sagte er noch schmerzlicher, und die Töne kamen wie ein Grunzen aus seiner Kehle, „ich bin sogar ein großes Vieh!"
„Wirst du es aber Charlein erzählen!" fragte er plötzlich lauernd und streckte seinen Kopf erneut gegen den Langen. „Wirst du das? Es wäre gemein von dir."
Der Lange antwortete auch darauf nicht. Er schloss nur wie nach einer großen, überstandenen Anstrengung die wieder klein gewordenen Augen und fiel zusammen.
Nebenan erzählte der Belgier sein Gespräch mit dem Steward. Er war noch bekümmert, dass ihm der Betresste so hart zugesetzt hatte, der Däne tröstete ihn aber.
„Kamerad!" sagte er „wir Arbeiter sind alle noch Blinde. Wir tappen aneinander vorbei und sehen uns nicht. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die nicht weit zurückliegt. Da ist es uns ähnlich gegangen. Wir sind nur nicht durch eine Predigt klug geworden, sondern durch die Geschichte selber.
Es war in Mexiko!" begann er, nachdem er sich niedergehockt hatte, „irgendwo am Grando. Wir arbeiteten in einer Silbermine und kratzten nicht soviel Geld zusammen, dass wir uns den Mais zum Mittag kaufen konnten. Dabei war es eine Hitze, dass jeden Tag einem von uns das Hirn schmolz. Er bekam Fieber und jammerte nach einem Pastor oder nach der Mutter wie das Kind nach dem Zulpe, Nach vier Wochen wurde uns die Sache zu dumm. Es war an einem Nachmittag, Unser Don Petro, ein braunhäutiger Spanier, der mehr Silber haben sollte, als wir da oben Erde zu bebauen hatten, war in einer Kalesche vorgefahren und sperrte das Maul auf. Er schimpfte wie ein Spatz, dem eine Amsel in die Kirschen geraten ist, und warum? Weil an dem Quantum Silber, was sonst jeden Monat aus dem Loch herausgeholt worden war, noch ein paar Kilo fehlten. Unser Enno, ein hagerer Finne, schrie: ,Drauf' Verdammt, wir ließen uns das nicht zweimal zurufen. Wir hoben den noblen Herrn aus seinem Wagen, prügelten ihn, bis er gelb und blau wurde, spannten ihm einen Esel vor seine Fuhre und schickten ihn wieder fort!
Er brüllte wie ein Wilder, als er halben Weges in Sicherheit war und prophezeite uns, dass er uns alle seine Pächter auf den Hals schicken würde; wir sollten von ihnen gespießt, gebraten und gerädert werden und außerdem noch gehangen. Wie wir auskundschafteten, zottelte er auch mit seinem Esel hinunter zu ihnen. Es waren einige Farmen in der Nähe, die ihm gehörten, und die Burschen, die dort hausten, sollten die wildesten und verwegensten am ganzen Grando sein,
,Boys!' sagte deswegen ein riesiger Ire zu uns, der so was wie ein Vorarbeiter war, ,wir sollten nicht warten, bis sie uns hängen, sondern ihnen entgegenreiten und sie empfangen, dass ihnen die Lust vergeht, sich an ehrlichen Arbeitern zu vergreifen!' Wir taten es auch. Wir bestiegen unsere Rosinanten, von denen manche sich selber kaum tragen konnten, und ritten hinunter zu den Farmern. Wir hatten die Revolver in der Hand, und die Stutzen waren mit grobem Schrot geladen!
Ha!" der Däne schlug sich auf die Schenkel, „was denkst du wohl, was in der Zeit da unten geschehen war? Die Burschen hatten es noch schlimmer mit dem Don Pedro getrieben als wir. Was, die armseligen Miners oben im Gebirge hatten den Mut aufgebracht, das Kerlchen zu verprügeln und ihn wieder heimzuschicken? Jetzt wollten sie ihn noch teeren und federn, diesen Bruder, der ihnen jeden Monat das junge Vieh von den Weiden holte und die Pacht höher und höher trieb. Wir wurden mit Hallo statt mit Flintenschüssen empfangen, und wir saßen noch den ganzen Abend und die ganze Nacht vor ihren Häusern, tranken Freundschaft und Brüderschaft und klagten uns unsere Nöte. Und an dem Tag erkannten wir, dass die Pächter zu uns gehörten, dass sie auch nur in Sold und Lohn standen wie wir, und dass es ihnen sogar oft noch dreckiger ging als den armseligen Maulwürfen und Silberkratzern auf dem Berge!"
„Und was tat der Don Pedro?" fragte der Amerikaner, der den beiden zugehört hatte.
„Ha!" lachte der Däne und strich sich das Kinn mit den Fäusten, „das ist noch eine lustige Geschichte. Er trottete geteert und gefedert auf seinem Esel, die Kutsche war ihm in einem Wasserloch stecken geblieben, nach der nächsten Stadt und schickte uns die Miliz auf den Hals. Sie kam auch nach acht Tagen. Unser Don Petra ritt wie ein Rächer an der Spitze. Zwischen den Farmen und unserem Silberloch bezog sie ein Lager. Wir hatten erst eine Heidenangst und wollten schon durchgehen, denn wir waren fast alle Grünhörner und noch nicht lange tu dem Land. Von den Farmern kam aber einer heraufgeritten und tröstete uns. ,Miners!' schrie er uns zu, „Mut! Das gibt noch einen größeren Spaß!'
Am Nachmittag beobachteten wir, dass die Farmer im Lager der Miliz schon aus- und eingingen, mit den Soldaten wieder zurück nach ihren Farmen ritten und sonst allerlei Kapriolen trieben. Auch in das Gebirge galoppierten sie hinauf. Am Abend rückten sie mit einer ganzen Kavalkade in unsere Nähe. Wir waren noch immer ängstlich und hatten unsere Donnerbüchsen geladen; den halben Weg hatten wir unterminiert, um unsere schlotternden Bälge so teuer wie möglich zu verkaufen. Die Soldaten winkten aber ab, und so ließen wir sie näher kommen.
Mensch!" sagte der Däne und stieß den Belgier gegen das Knie, „wurde das ein Abend und eine Nacht. Die Milizen waren die besten Kerle, Sie hatten gleich Wein mitgebracht und ein paar braune Mädchen, die tanzen mussten, und wir saßen um ein Feuer und johlten und tranken. Von Krieg oder Feindschaft war dabei nicht die Rede. ,Kameraden!' sagte gegen Mitternacht ein Trompeter, der aufgesprungen war, den Don Pedro kennen wir. Er ist ein Schwein und ein Geizhals; wir haben ihn schon vor Jahren aus unserer Stadt gejagt. Jetzt wohnt er mit ein paar schmutzigen Weibsbildern irgendwo auf einem seiner vielen Landsitze. Sollen wir aber wegen so einem dreckigen Kerl ein paar Miners hängen oder totschießen? Wir wären schlechte Mexikaner, wenn wir das täten!'
Nach Mitternacht wurden die Kerle aber beinahe zu ausgelassen. Ein paar waren hinunter zum Lager geritten, und auf einmal donnerten ihre Pferde wieder in unseren Kreis; und glaub' es, sie waren nur hinabgeritten, damit der braunhäutige Geizhals und Silberminenbesitzer auch etwas von unserem Feste sähe. Sie kugelten ihn wie ein Paket vor unsere Füße, und dann wurde er hochgezogen. Er sah wirklich nicht hoffähig aus. Er hatte kaum das Notdürftigste am Leibe und schlotterte wie ein gebadetet Hund, Er musste aber trotzdem noch jedem von uns die Hand geben und uns erklären, dass wir die besten Kerle von der Welt seien. Und dabei ließen ihn die groben Brüder noch ab und zu an ihren Schießprügeln riechen, stießen ihn von einer Seite zur anderen, und als er endlich, mehr tot als lebendig, verkehrt auf eine Mähre gesetzt wurde und wieder abtraben durfte, da halten wir noch Mitleid mit dem alten Schinder.
Die Lehre musste ihm aber trotzdem gut bekommen sein, denn er ließ sich danach nicht wieder sehen. Ja, wir wurden sogar in Ruhe gelassen. Ein paar Tage später kam ein dicker, haariger Kerl, wohl einer seiner Verwalter, zahlte uns unseren Lohn aus und fragte, ob wir unter den gleichen Bedingungen noch weiter arbeiten wollten. Wir waren es zufrieden, denn durch die Freundschaft mit den Farmern kamen wir jetzt leicht zu einem Stück Vieh oder sonst etwas Ähnlichem, und wir konnten es aushalten. Außerdem rückte uns auch keiner mehr auf den Hals, der uns anzutreiben versuchte oder schimpfte, wenn das Loch einige Kilogramm weniger hergab als vereinbart war.
Die Farmer aber blieben unsere Freunde, solange wir da oben unser Silber kratzten, und als wir abrückten, sagte der Älteste, so ein richtiger Wald- und Wiesenbär, zu uns: ,Boys! ihr habt uns eine gute Lehre gegeben. Die Farmer und die Arbeiter gehören zusammen. Alles, was darunter oder darüber ist, soll aber der Teufel holen!"'
„Ja“, fiel der Belgier ein, der den Dänen schon lange unterbrechen wollte, „das war in Mexiko! Glaubst du aber, es geschähe in den Staaten oder in Europa dasselbe?"
„Kamerad!" antwortete der Däne und sah den Belgier mit seinen feurigen Augen scharf an, „es ist überall dasselbe. Wir müssen nur die Augen aufreißen und suchen. Jeder wartet darauf, dass ihm der andere hilft, — und wenn erst einer einmal die Faust hebt und zuschlägt, kommen sie alle, um mitzuschlagen!"
„Ist das so einfach?" fiel der Belgier wieder ein und machte ein spöttisches Gesicht.
„Kamerad!" antwortete der Däne ernster, „das einzige, was uns behindert loszuschlagen, sind wir selber. Nicht, dass wir feig wären oder keinen Mut hätten. Wir sind tapfer, wenn einmal zugeschlagen werden muss, aber", der Däne wurde bitter, „wir sind fünfzig Jahre wie Vieh getreten und gestoßen worden. Man hat uns geführt wie Hammel, die nicht den Weg in den eigenen Stall wissen und dahin geprügelt. Ja, man hat uns entmündigt und enteignet, man hat uns wie Kinder und Dumme behandelt und uns nichts weiter gelehrt als das Gehorchen!
O!" sagte er leiser und verzog sein Gesicht zu einem sonderbaren Grinsen, „und dabei hat man uns eingebläut, dass der Sinn und die Ordnung der Welt und der Gesellschaft etwas Schweres und kaum Lösbares sind, dass wir uns nur den Kopf daran zerbrechen würden, und dass wir deswegen unseren Obrigkeiten den Kampf mit diesen Dingen überlassen sollen! Und", sprach er wieder lauter und sah auch den Amerikaner an, „ist es heute besser geworden? Wir werden noch überall geprügelt und geleithammelt, lassen uns ausbeuten und treten und machen noch ein zufriedenes Gesicht dazu. Sicher, wir stehen auch vor den verschlossenen Toren und ballen die Fäuste, Wir trauen uns aber nicht zuzuschlagen, weil wir noch immer denken, es könnte dahinter etwas zerbrechen und das ganze Leben fiele dann auseinander!
Ja!" schrie er. „Das ist es. Die Ängstlichkeit vor dem, was kommen könnte. Wir trauen uns nichts zu, weil man uns ein halbes Jahrhundert vorgelogen hat, dass wir dumm, beschränkt und unwissend wären, dass uns das Hirn fehlte, um nur einen einzigen Hebel des Staates in Bewegung zu setzen und dass es uns noch unmöglich wäre, uns selber zu regieren!"
„Freund!" fragte der Amerikaner, der den Dänen fest angesehen hatte, „und ist das so leicht?"
„Kamerad!" lachte der Däne und blinzelte den Bebrillten an, „seitdem der Russe gezeigt hat, dass sogar der Bauer regieren kann, der vor einigen Jahren noch schlimmer gehalten wurde als bei uns daheim das Vieh, muss man schon zugeben, dass es nicht so beschwerlich ist, Steuern einzuziehen und für Ordnung zu sorgen. He! Und für eine Ordnung, die an der der Russen gemessen, schlechter ist als die im dreckigsten Kuhstall!"
Der Amerikaner schwieg. Auch der Belgier schob sich zurück in seine Kiste. Donnernd hörte man dafür nebenan den Schotten reden.
Der hatte sich, trotzdem er müde war, mit dem Deutschen in einen Disput eingelassen. Es war schneller dazu gekommen, als es den beiden lieb war.
Der Deutsche, aufgeregt wie ein kollernder Puter von dem Spott, der den ganzen Tag hinter ihm hergeflogen war, war trippelnd auf und abgelaufen, ohne daran zu denken, sich auszuziehen.
Dem Schotten, dem noch der Bericht des Dänen in den Gliedern lag und dem auch die Augendeckel schwer wurden, als hätte er die ganze Woche kein Bett gesehen, brachte das auf.
„Hast du ein schlechtes Gewissen?" brummte er und schielte den Laufenden boshaft an.
Der Deutsche blieb stehen und riss den Mund auf, dann drehte er sich aber plötzlich um und goss alles aus sich heraus, was sich den ganzen Tag an Wut in ihm angesammelt hatte.
„Wegen was?" fragte er erst hastig, und er zog sein dickes Gesicht so lang, dass er aussah wie ein amtierender Richter.
Der Schotte krümmte sich ein wenig zusammen. Das schien spaßig zu werden. „Wegen der fichtenen Bretter", rief er ihm leise zu und klapperte mit den Augendeckeln,
„Pack!" schrie der Deutsche aber schon auf und hob seine Fäuste. „Elendes Pack! Bin ich denn unter lauter Spitzbuben und Tagediebe gekommen? Ist hier kein guter Christ, der einem ehrlichen Handwerker zu Hilfe kommt. Ist hier kein Mensch, der einem andern Menschen beisteht?"
Er schrie das alles so laut, als stäke er an einem Spieß, schüttelte dazu die hochgehobenen Fäuste, als hätte er das Zipperlein, und das Rote in seinem Gesicht färbte sich langsam bläulich,
„Gott!" unterbrach ihn der Sommersprossige der sich aufgerichtet hatte und den Tänzelnden mit aufgerissenen Augen ansah, „es ist wirklich über ihn gekommen!"
Den Deutschen brachte das noch mehr auf. „Ja, Spitzbuben seid ihr“, schrie er und näherte sich dem Schotten. „Spitzbuben und Schweine. Vorhin haben sie beinahe eine Frau auf der Treppe vergewaltigt. Ist das christlich? Dem Kapitän sollte man das sagen! Einsperren sollte man euch! In das Arbeitshaus gehört ihr alle!
O!" schrie er auf einmal kläglicher, „und ich anständiger Mensch soll sechs Tage mit euch zusammen leben!"
Dem Schotten wurde das allmählich zu bunt. Besonders das „Schwein" war ihm in den Magen gefahren.
„Wer ist ein Schwein?" fragte er darum laut und fasste nach dem Deutschen.
„Du! — alle!" — stampfte der Deutsche auf und zog sich ein Stück zurück. Sein gedunsenes Gesicht wurde dabei noch kläglicher und lief auseinander wie zu weich gekochter Brei.
Das brachte den Schotten ganz auf die Beine. „Hund!" schrie er und zog den Deutschen in seine Arme, „willst du wabbliger Bruder einen ehrlichen Arbeiter beschimpfen!"
Der Deutsche versuchte sich erst zu sträuben. Unter dem harten Griff des Schotten wurde er aber käsig und weiß. „Mercy!" stammelte er auf einmal, und seine Augäpfel stiegen nach oben, „Mercy! Er drückt mich tot!"
Das rührte den zornigen Schotten. Er ließ nach in seinem Drücken und nahm den Dicken, der jetzt schlaff nach hinten hing, sogar an seine breite Brust.
„Dickerchen!" sagte er und wälzte ihn hin und her, „bist du schon kirre? Hast du schon genug? Merk dir es aber! Sei das nächstemal klüger. Zu einem ehrlichen Arbeiter sagt man nie Spitzbube oder Schwein!"
Als der Deutsche trotz dieser Zärtlichkeiten nicht wieder zu sich kommen wollte, schüttelte und wälzte ihn der Schotte noch mehr,
„Hulle hei", flüsterte er dazu. „Hulle hei! Das Kind will also lieber schlafen!"
Er ließ den Leblosen dann von seiner Brust in das Bett rollen, streckte ihn langsam aus, nahm die Decken, warf sie über ihn und deckte ihn sorgfältig zu. — —
Der Heilige schlief schon. Auch der Russe. Dieser lag gerade in seinem Bett wie am Nachmittag. Das Gesicht hob sich scharf aus dem Dunkel, und die schwarzen Haare stachelten sich darum, als müssten sie es schützen,
Während der ganzen Zeit — es war wohl eine Stunde vergangen, bis es so ruhig geworden war — hatte der Geduckte in der leeren Kabine auf die Französin gewartet. Nun zog er sich ärgerlich aus und legte sich nieder.
Es war lange nach Mitternacht, da schlich die Frau endlich herein. Sie war erregt und heiß. „Bist du es?" flüsterte sie leise, als sie die Hand des Geduckten berührte.
Der fasste sie eilig um den Leib und zog sie zu sich heran. „Das war ja eine lange Liebe", knurrte er.
„O!" flüsterte die Frau schneller, und ihre Brust keuchte auf und nieder, „er ist ein schlechter Kerl. Er ist eine Sau. Ich will nie wieder zu ihm gehen!"
„Was hat er dir getan?" fragte der Geduckte, um sie zu trösten.
Die Französin wusste nicht gleich, was sie antworten sollte. „Das ist es ja“, zischte sie heiser, „eigentlich nichts!"
Darüber lachte der Geduckte. „Alle Dicken sind so", sagte er. „Außerdem bist du ja jetzt bei mir."
Der Französin war es aber noch nicht geheuer. Auf dem Gang schleiften Schritte. „Ist da einer?" sagte sie furchtsam,
„Komm!" knurrte der Geduckte, der ärgerlich wurde. „Und wenn es der Teufel ist. „Er zog die Frau näher an sich, saugte sich an ihr fest und warf sie über das Bett.
Auf dem Gang trippelte die Betschwester. Sie lachte hell auf, als sie die Kabine leer fand, wühlte erst etwas in dem Bett der Französin, und als sie nichts Besonderes fand, schwang sie sich nach oben und holte sich ihre Tüte.
Sie war possierlicher als am Nachmittag. Der Zucker musste ihr aber nicht mehr schmecken. Sie ließ die Tüte ins Bett fallen und richtete sich hoch. Hinter ihrem Balken waren noch andere Schätze.
Erst brachte sie eine längliche kleine Flasche hervor und danach eine dickbäuchige. Sie hielt sie beide gegen das Licht und lachte lauter. Von der dickbäuchigen löste sie den Stöpsel und trank.
Sie schüttete sich den Likör, der darin war, in raschen kleinen Schlucken hinunter, holte nur manchmal tief Atem und verdrehte dann die Augen.
Plötzlich horchte sie auf. Nebenan, bei der Jüdin rührte sich etwas. Kam jemand? — Nein, die Jüdin zog sich nur stöhnend aus.
Sie hatte angezogen auf den Langen gewartet und glaubte wohl, er käme nicht mehr. Außerdem fror sie, sie wollte sich lieber in ihr Bett legen.
Sie streifte ihr Oberkleid herunter und auch ihre dicken Unterröcke. Sie schüttelte und schob sie nieder wie eine ausgewachsene Schlange ihre alte Haut. Als sie auf der einen Seite den Fuß frei hatte, hob sie ihn und trampelte die Kleider ganz auf den Boden.
Sie sah nun aus wie ein dicker Fleischklumpen, dessen Mitte mit einem weißen Flecken notdürftig zugedeckt war. Aus den abstehenden Borten der gelblichen Hosen quollen die Beine wie zwei zu voll gestopfte Würste, und die Arme wölbten sich noch gewaltiger unter dem fetten Kinn. Dazwischen aber stemmte sich der Leib gegen die dünne Wäsche wie ein ungeheures Gebirge, schwankte und wackelte bei jeder Bewegung und schien auseinander zu brechen.
Die Ausgezogene trippelte langsam nach der Tür und schloss sie ab. Nachdem sie das Licht gelöscht halte, schien sie bedenklich zu werden. Sie trippelte zurück und schnappte leise wieder auf. Vielleicht kam der Lange doch.
Der saß auf seinem Bett, noch zusammengesunken und mit halbgeschlossenen Augen und beobachtete den Krummen, Sah wie sich dieser unter seiner Decke verkroch und einzuschlafen versuchte, aber immer, wenn der Lange von ihm fortsah und gehen wollte, richtete sich der Schlafende wie unter einem Zwang wieder auf.
„Henry!" sagte er dann, „ich will wirklich nicht mehr zu dem Weib. Ich bleibe bei dir."
Er war noch zerknirschter und kleiner geworden. Er nannte sich weiter ein Vieh und einen schlechten Menschen und wartete darauf, dass ihm der Lange ein gutes Wort sagte.
Schlief er jetzt? Der Lange bog sich vor und hörte ihn schnarchen. Endlich, er hatte die Augen fest geschlossen. Das Gesicht des Langen, das noch leidend und nach unten gezogen war, rötete sich. Er stand auf, klingte die Tür nach unten und huschte hinaus.

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