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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XXVII.

„Bernd!" rief der Krumme während des Abendessens zu dem Geduckten hinüber, „heute müssen wir noch Abschied feiern!"
„Ja!" sagte der Schotte und nickte dem Geduckten auch zu, „einen lustigen Abschied."
„Ich stifte den Schnaps!" hüstelte der Franzose. Er versuchte zu lächeln und stand auf.
„Ich stifte die Musik!" Der Geduckte grinste. Er zog seine verbeulte Mundharmonika aus der Tasche.
Die Männer gingen langsam nach oben.
„Scheckiger!" sagte der Däne, der neben dem Schotten trottete, „morgen bist du also wieder in England!"
Der Schotte meckerte auf. „Ja," sagte er, „morgen spucke ich, wenn ich ausspucke, auf englisches Pflaster!"
„Bleibst du in England?" Der Däne sah den Schotten an.
Der Schotte meckerte lauter. „Nein! Nein!" antwortete er. „Ich habe in diesem Liliputanien, wo jeder Schuster und jeder Minister das Gefühl hat, dass er so weise und so gesalbt ist wie Salonio, weder auf etwas zu hoffen noch etwas verloren!"
Der Däne lachte mit. „Sieht es so schlimm aus in England?"
„So", der Schotte verzog sein Gesicht, „und noch schlimmer! Das Schlimmste aber ist, dass sich dieser kleine Dreckhaufen deswegen für den Dung der Welt hält und glaubt, die Erde könnte nicht ohne ihn leben."
Der Däne verstand den Schotten nicht, er sperrte bloß den Mund auf. „Glauben das alle?" fragte er dann.
„Jeder!" antwortete der Schotte. „Sogar der Arbeiter. Ihre Vorfahren haben die halbe Welt erobert, und nun glauben sie alle, die Lords wie die Landstreicher, sie hätten das Privileg, auf diesen Eroberungen sitzen zu bleiben, und sie möchten nichts weiter, als auf dieser Weit und auf der andern den liehen Gott spielen!"
Die Arbeiter sind aber tüchtige Kerle!" wandte der Däne ein. „Sie haben eine große Partei und beinahe die größten Gewerkschaften!"
Ja!" antwortete der Schotte Und klatschte seine Hände zusammen, „und die meisten Arbeitslosen, und die, die noch eine Arbeit haben, sitzen auch nicht im Paradiese!" „Und woher kommt das?"
Der Schotte wurde heftiger. „Weil die englischen Proleten glauben, ihre Partei- und ihre Gewerkschaftsführer sind ebenso weise und unfehlbar wie sie selber. Und da diese oberen Brüder nichts gegen die Armut und gegen die Arbeitslosigkeit tun, so sind nach ihrem Ermessen die Übel überhaupt nicht aus dem Königreich zu bringen, und es kann nur das eine getan werden, man muss sie mit Würde und Heroismus ertragen!"
Der Krumme, der hinter den beiden hergegangen war und die Worte des Schotten gehört hatte, wieherte wie ein Pferd und ließ seine dicke Zunge sehen, „Hoho!" krächzte er.
„Stimmt das etwa nicht, was ich da gesagt habe?" Der Schotte schnellte sich herum und stieß dem Krummen in die Seite. ,.Wie die Frommen in der Kirche, so sitzt ihr Brüder doch in euren Gewerkschaften, und eure Bonzen und Sekretäre sind euch heiliger und unantastbarer als den Katholiken die große Messe und der Papst!"
Der Krumme zog sich etwas zurück, „Wir sperren den Mund ebenso weit auf wie du, wenn wir in dieser Kirche sitzen!" brummte er und ließ seine Zähne sehen.
Diesmal wieherte der Schotte. „Ja, zum Halleluja und zum Amen! Weiter reicht es aber nie!"
Wird sich das nicht einmal ändern?" fragte der Däne. „Heute und morgen nicht!" Die Männer waren in den Tagesraum getreten, und der Schotte stellte sich groß vor den beiden andern auf,
Nein!" sagte er lauter, „und wenn es auch einer versuchte! Zum Ändern fehlt den Großen und den Kleinen unter den englischen Arbeitern der Mut und die Kraft!" „Oho!" krächzte der Krumme wieder.
„Weißt du vielleicht einen?" Der Schotte neigte sich und schob sich dem Krummen unter die Nase. Als der aber schwieg, wurde er bissig. „Wer steht denn an eurer Spitze!" schrie er eine Oktave höher, „sentimentale Kerle, die einmal irgendwo ihr Mundwerk aufgerissen haben, um ,Gerechtigkeit' zu plärren! Und das hat euch genügt, um sie ins Parlament zu schicken und an die Spitzen eurer Partei zu stellen. Aber warum auch nicht?" Er richtete sich wieder auf. „Das Plärren und das Maulaufreißen ist ja das einzige, was ihr tut und was ihr euch getraut!"
Der Krumme wackelte mit dem Kopf. „Als ob wir nicht auch Fäuste und Beine hätten. Wenn die Miners und die Eisenbahner, die Metallarbeiter und die Weber einmal aufmarschieren, wackelt das Land von einer Küste bis zur anderen."
Der Schotte äffte dem Krummen nach. „Fäuste!" wiederholte er. „Aufmarschieren! Wackeln! Als ob es ein englischer Arbeiter fertig brächte, sich gegen seinen Staat zu empören! Der geht ihm über Bauch und Hirn, und er wagt kaum, diese Fäuste in der Tasche zu ballen!"
„Unsere Parteien und unsere Gewerkschaften sind dir also ein Dreck!" Der Krumme kläffte wie ein getretener Hund.
Der Schotte war genau so geladen. „Nicht viel mehr! Warum habt ihr sie denn?" sagte er. „Sie sind so groß, dass sie ihrem Königreich samt ihrem Georg den Hals umdrehen könnten. Aber was tun sie? Es genügt ihnen, dass sie da sind und dass sie überhaupt leben und leben dürfen. Was sollten sie auch mehr? Sozialismus! Freiheit! Revolution! Es könnte ihnen allerdings das Hungern nehmen und die Armut. Es könnte aber gleichzeitig der weißen Weste und der Herrlichkeit des Landes schaden, und ehe ein englischer Arbeiter sein eigenes Pflaster bespuckt, zieht er es vor, zu verhungern oder zu krepieren!"
„Dass wir schon Arbeiterminister hatten und die halbe englische Kammer erobert haben, zählt bei dir wohl genau so wenig?"
Nicht einen Pfifferling!" brüllte der Schotte dröhnend. Besonders die Minister! Das ist nichts weiter als Klimperzeug, das man euch an die Brust gehängt hat. Orden für treue Dienste! Schellen für eure Dummheit! Und ihr seid natürlich auf diesen Schwindel hereingefallen. Ihr habt euch diese Dinger um den Hals gehangen. Habt euch vor den Arbeitern der andern Staaten damit gebrüstet! — Ja, das habt ihr! Ihr seid damit herumgelaufen wie aufgeblasene Wiesenfrösche!"
Der Schotte musste Atem schöpfen. Der Amerikaner, der Lange, der Belgier und der Franzose, die schon länger den Streitenden zuhörten, benutzten diese Pause und lachten hell auf.
Der Schotte ließ sich aber nicht stören. Er belferte weiter. „Und das Parlament!" rief er. „Ist euch das etwa schon von Nutzen gewesen? Dass da ein paar hundert Arbeitervertreter ihre Hosen auf den Staatsbänken wetzen, hat dir weder einen Schilling noch einen Sonntagsbraten eingebracht, und du krummer Hund bist so arm geblieben, dass du noch jedes Jahr nach Amerika auswandern musst, um nur wenigstens genügend Geld für Brot zusammenzukratzen! Was soll das also bei mir zählen?" Der Schotte fasste den Krummen mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn hin und her. „Nein, bevor ihr geliebten englischen Brüder nicht euren Nationalismus und eure Angst vor dem Ändern wie ein altes Hemd von eurem Leibe zerrt, wird bei euch auch nie etwas zu zählen sein!"
Der Schotte schwieg erschöpft und ließ den Krummen wieder los. Die andern sahen sich jetzt mit kleinen Augen an und wechselten verlegen und mit hüpfenden Bewegungen ihre Beine.
„Ja," hüstelte der Franzose nach einer längeren Pause, „es ist aber nicht nur der englische Arbeiter, der hinter seiner Regierung und seinem König wie ein Hund trottet, das ist ein allgemeines Übel, und in Frankreich ist es nicht viel besser!"
„O!" Der Däne stieß seinen Kopf nach oben und jammertet „und erst in Kopenhagen! Da haben sich meine Genossen jetzt eine sozialistische Regierung zusammengewählt, und der König sitzt als Ehrenmitglied und mit der ersten Geige in ihrer Mitte!"
„Wundert euch das?" sagte der Schotte, als er sah, dass die Männer erstaunt aufhorchten. „Ja," sagte er schneller, „soweit ist es schon mit uns gekommen! Da hat man uns seit drei Jahrhunderten soviel Respekt vor Königen und anderen hohen Herrschaften beigebracht, dass wir unsere Staaten nur noch zu demokratisieren und sozialisieren wagen, wenn sich dieses noble Pack mit demokratisieren und sozialisieren lässt. Wie eine solche Sozialisierung aussieht, kann sich wohl jeder von euch denken!"
Der Däne nickte. In dem demokratisierten Deutschland sieht es am schlimmsten aus. Die Arbeiter sind dort seit sieben Jahren am Verhungern!"
„Das sind sie!" bestätigte der Schotte, „und sie sind alle höchst verwundert, dass es ihnen trotz der immer gewünschten und endlich erkämpften Demokratie nicht besser gehen will, und wenn sie nicht eines Tages den ganzen Schwindel durchschauen und merken, dass ihnen da alles andere, nur keine Demokratie auf die Nase gesetzt worden ist, dann werden sie wohl für immer auf diese Ordnung verzichten und lieber wieder Monarchisten sein!"
„Ist das so schlimm?" fragte der Korrekte, der sich vorgedrängt hatte. Wir Holländer haben eine Königin, und das ganze Volk ist mit ihr und mit ihrer Regierung zufrieden!"
„Du!" sagte der Däne, und er stieß den Korrekten vor die Brust.
„Nein!" jammerte der Schwankende auf und hielt sich an dem Langen, der neben ihm stand, fest. „Alle!"
Der Belgier kam ihm zu Hilfe. „Es ist so", sagte er. „Diese Holzpantoffelhelden hängen an ihrer Königin wie die Hennen an ihrem Hahn. Sogar die holländischen Arbeiter. Ich habe viel mit ihnen zusammengearbeitet. T Rotterdam. In Utrecht. Wenn wir abends zusammenkamen und das Gespräch kam auf ihre Wilhelmine, da nahmen sie immer erst die Pfeifen aus den Zähnen!"
Ho! Ho!" Der Geduckte, der die Worte des Belgiers gehört hatte, lachte auf. „Das machten sie vielleicht am Tage," sagte er und steckte sein gelbes Gesicht durch die Männer, „wenn du aber nachts mit ihnen durch die Kneipen und durch den Hafen gebummelt wärest, hätten sie dir ein Lied über diese Wilhelmine vorgesungen, bei dem sie die Pfeifen nicht aus dem Munde nehmen!" „Ein Lied?" Der Belgier war erstaunt.
„Ja, ein Lied, willst du es hören?" Der Geduckte nahm seine Mundharmonika aus der Tasche und klopfte sie auf den gestrafften Knien aus.
„Du singst das nicht!" sagte aber der Korrekte zornig und versuchte, dem Geduckten die Mundharmonika abzunehmen.
Der sah seinen Bruder erst blinzelnd und warnend an. Als sich der Zornige stärker gegen ihn drängte, hieb er ihm mit einer schnellen Handbewegung gegen die Brust. Der Korrekte knickte zusammen und fiel auf einen Stuhl.
„Ist sonst noch einer da, dem das Lied in die Därme fahren könnte?" fragte der Geduckte vorsichtig.
Da aber die andern alle nur schweigend zu ihm hinsahen, hockte er sich auf einen Tisch, hob die Mundharmonika an den Mund und blies ein paar einzelne, hohe Töne.
„Singen!" rief ihm der Franzose zu.
„Singen!" sagten auch der Däne und der Amerikaner.
Der Geduckte nahm die Mundharmonika von den Lippen und steckte sie wieder zu sich. „Singen!" antwortete er und wackelte mit seinen ledernen Backenlappen, „das kann ich nicht!"
Als ihn der Belgier und der Lange noch dringender zum Singen aufforderten, probierte er es doch. Er spitzte die Lippen, Blechern und mühsam begann er:
„Wilhelminchen!
Artig Kindchen!
Komm von deinem Thron!
Du musst marschieren
Musst die Arbeit probieren!
Dein Land ist arm!"
Den zweiten Vers sang er schon lauter und schneller:
„Wilhelminchen! Klebe Tütchen! Mach es aber gut! Die Freiheit ist geboren! Die Freiheit ist geboren! Lang lebe die Freiheit!"
Die Männer, die zuerst nur zugehört hatten, sangen den zweiten Vers wuchtig und in allen Stimmen mit. Der Belgier und der Däne brüllten am lautesten.
„Ja!" wiederholte der Franzose, als die Männer erschöpft und lächelnd schwiegen, „lang lebe die Freiheit!"

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