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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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II.

Der Hofmeister kam noch zweimal. Zuerst brachte er eine dicke, auseinander laufende Jüdin, Ihr Gesicht war zusammengedrückt, Hals und Kopf hatten einen Umfang. Darunter pendelten unförmige, wurstartige Arme, und zwischen diesen Armen saßen breit und groß ihre Brüste.
Sie watschelte aber nicht, wie es dicke Frauen sonst tun. Ihre Füße waren klein, und sie trippelte auf ihnen wie ein zu dick geborenes Kälbchen. Der Hofmeister setzte sie neben den Krummen.
Danach kam er mit einer schmalen Holländerin. Sie sah aus wie eine katholische Betschwester, spitz, bleich, mit glasigen, großen Augen, die Haare straff und zu einem Knoten zusammengebunden, die Kleider leicht gerafft; in den gefalteten Händen hielt sie ein kleines, schwarzes Buch. Der ganze Tisch meckerte leicht, als sie hereinschritt, und der dicke Deutsche prustete laut heraus, bekam einen zinnoberroten Kopf und schlug sich klatschend auf die fetten Beine.
Der Hofmeister watschelte diesmal bis zu dem kugeligen Holländer, Er ließ ihn aufstehen und wies der Frau seinen Stuhl, Die Frau setzte sich knixend nieder, und der Holländer rückte hinauf an die linke Seite der Jüdin.
Der Krumme saß nun wie eingeschlossen zwischen den beiden Frauen. Sie bedrückten ihn. Er klemmte seine Arme fest an den Körper, um sie nicht zu berühren, und versuchte mit Anstand weiter zu essen. Er verschluckte sich aber einige Male und prustete Suppe und Löffel auf Tisch und Teller.
Die Frauen beachteten es gar nicht. Die Jüdin stemmte ihre unförmigen Arme auf den Tisch und sog die Suppe lauter als der große Schotte in den breiten Mund. Die Betschwester legte erst vorsichtig ihr Buch zwischen Brot und Teller, schloss ein wenig die Augen, löffelte und schöpfte aber dann die Brühe wie eine Maschine, gierig und saugend, als müsste sie etwas einholen.
Nach der Suppe gab es Fisch. Der dünnbeinige Franzose, dem die große Schüssel vor die Nase gestellt wurde, roch daran. Sein eingefallenes, bläuliches Gesicht schob sich darüber, die Nase zog sich spitz zusammen, und sein schwarzer Bart stachelte steil nach oben.
„Er riecht!" sagte er laut, nachdem der Steward wieder hinausgegangen war, zog sein Gesicht zurück und lehnte sich mit einer müden Bewegung nach hinten.
Alle schnupperten mit ihren Nasen in die Luft, verdrehten ihre Augen und machten seltsame Gesichter. „Wirklich“, sagte die Französin mit ihrer hohen Stimme, „er riecht!"
Der Holländer, der die Französin seit ihrem Eintritt noch nicht aus den Augen gelassen hatte, fing diese Worte auf, stemmte sich in die Höhe, lachte der Frau vertraulich zu und zischte: „Ja, ja!"
Die Frau sah das runde Gesicht erstaunt an. Sie zog erst etwas die Schultern ein, als müsse sie sich schütteln. Spitz kam aber gleich ihre Zunge zwischen die Lippen. Sie lachte mit.
Der Krumme hob unter dieser Vertraulichkeit die Augen, als wäre er gestochen worden. Er sah erst die Frau an und dann den Holländer. Seine Augen wurden scharf und grimmig.
„Was lachst du?" schrie er den Dicken an, dass die Betschwester erschrocken auffuhr und nach ihrem Buche tastete, „Ist das zum Lachen, dass sie uns stinkigen Fisch geben?"
Dem Holländer färbte sich unter dem lauten Anruf das Gesicht. Er wollte etwas antworten und erhob schon seine Hand, um sie mit dem ersten Wort auf den Tisch zu schlagen. Es fiel ihm nur nichts ein. Die Französin lachte aber weiter, Sie war unter den groben Worten des Krummen zusammengezuckt wie der Dicke; nun sie sein Gesicht sah, das zerdrückt und schief auf dem fetten Halse saß, war ihr das Lachen wiedergekommen. Sie sah dem Krummen in seine feurigen Augen und auf die roten Tränensäcke, die langsam Wasser ließen, spitzte auch ihm ihre Zunge zu, und ihr Lachen stieg noch einen Ton höher.
Der Krumme wärmte sich in diesem Lachen. Er versuchte, seine Zunge genau so spitz herauszustecken, schnellte sie aus dem Gaumen hervor, und die Französin, die es sah, kreischte vor diesem Ungetüm auf, verschluckte sich, und sie musste sich eilig umdrehen, sonst hätte sie den ganzen Tisch bespieen.
Der Lange wandte sich der heftig Bellenden mit einer müden Bewegung zu. Er richtete sie wieder auf und drückte dabei seine durchsichtigen, schmalen Finger auf ihre Brust, schlug sie mit der anderen Hand langsam auf den Rücken und tat das solang, bis sich die Frau wieder umdrehen konnte.
Unterdessen ging es an der anderen Seite des Tisches noch höher her. Der Fisch wanderte von einem zum andern. Der Belgier, ein großer, schwarzer Mensch mit blitzenden Augen, hob pastoral die Hände, als die Schüssel vor ihm stand. Er machte sein ernstestes Gesicht, nahm eine Gabel, teilte damit einen der großen Fische auseinander, ohne ihn auf seinen Teller zu nehmen, sah in seinen Leib, und während er auf die dunklen Stellen deutete, die sich längs der Gräten hinzogen, sagte er mit einer klangvollen Stimme: „Er ist bereits schwarz."
Der Däne, noch größer und schlanker, der neben ihm saß, und dessen rotes Haar steil und wie Feuer über seinem spitzen Schädel loderte, riss ihm die Schüssel fort. „Warum soll er nicht schwarz sein?" schrie er laut und beugte sich auch über den geöffneten Fischleib. „Wir fahren doch in der dritten Klasse. Proletenbillett! Oder habt ihr schon einmal etwas anderes als Abfälle bekommen?"
Der Amerikaner, der blass und wie aus einem Stück gegossen dem Dänen gegenübersaß, hob seine bebrillten Augen und sah den Schreienden scharf an. „Du hast recht, Kamerad", sagte er. „Wir fallen überall in unseren Stand wie in ein Loch, und wir werden stets so behandelt, wie es der dritten Klasse zukommt."
Der Deutsche, der neben ihm saß und noch an einem zweiten Teller Suppe schleckte, schrie auch auf. Er zog erst seinen Löffel über die dicken Lippen, stülpte sie nach vorn und sagte polternd: „Ich habe mein Geld bezahlt, und ich will guten Fisch haben. Den besten Fisch, ich werde mich sonst beschweren!"
Alle schimpften über den Fisch. Der setzte seine Reise auf der Tischplatte fort. Er stand nun vor einem zweiten Holländer, dem Geduckten, hin. Der stocherte mit seiner Gabel in ihm herum. „Er wird schon noch zu essen sein", sagte er, zog das zerteilte Stück aus der Schüssel, hielt es vor seine Nase und ließ es auf seinen Teller fallen.
Die Schimpfenden waren einen Augenblick still. Sie sahen zu dem Geduckten. Der zog die Fischhälfte noch über seinen Teller, dann hob er das Tier einmal bei dem Kopf und einmal bei dem Schwanz in die Höhe und spielte mit ihm wie eine junge Katze. Plötzlich, sein graues, verwittertes Gesicht verzog sich zu einer seltsamen Grimasse, schnappte er hinein.
Er spie alles gleich wieder aus, krächzte, als wenn ihm schon etwas in die Kehle gekommen wäre, hob hastig seine Hände hoch, packte seine Armzipfel und fuhr damit rechts und links über Backen und Lippen. Mit einem kurzen „Brrr" schüttete er noch die Fischhälfte in die Schüssel zurück und gab ihr einen Stoß, dass sie bis zu dem Schotten fuhr.
Der Schotte fasste sie mit den Fäusten, als wolle er sie zerdrücken. Er hob sie aber nur vor sein Gesicht, schlug sie wuchtig wieder auf das harte Holz des Tisches und sagte kurz und grimmig: „Pack!"
Der Krumme fing das Wort „Pack" auf, zog die Schüssel heran und hing auch seine Nase hinein. Zur gleichen Zeit schielte er nach der Französin. Als er sah, dass diese, die sich leicht an den langen Engländer gelehnt hatte, wieder mit dem Dicken züngelte, rief er laut, ja, er brüllte beinahe: „In die Fresse sollte man den Brüdern das Zeug werfen!"
Die Französin war diesmal wirklich erschrocken. Sie drückte sich stärker an den Langen, der durch ihre Vertraulichkeit ganz steif und feierlich wurde, schloss die Augen und atmete heftig.
Die Suppe schlürfende Betschwester, die dem Gebrüll des Krummen noch näher saß, war auch erschrocken. Sie ließ ihren Löffel fallen und griff eilig nach dem schwarzen Gebetbuch.
Nur die Jüdin blieb ruhig. Sie zog sogar die Schüssel zu sich herüber, fischte sich mit ihrer Gabel ein Stück heraus, legte es auf ihre vorgeschobenen Lippen und zernagte es mit ihrer Zunge. Es schien ihr auch nicht zu schmecken; sie schob die Lippen noch weiter vor, dass sie aussahen wie das Maul eines fetten Karpfen, drehte sich halb um und spuckte alles klatschend auf den Boden.
Durch den Krummen war der Lärm allgemeiner geworden. Der geduckte Holländer, er sah aus wie ein „Tramp", den die Landstraße in diesen Schiffsbauch gespieen hatte, rief immer: „Es schmeckte wie Dreck!"
Der junge Mann, es war sein Bruder, der korrekt, mit einem steifen Kragen und steifen Manschetten, neben ihm saß, sagte genau so oft, nur kürzer und würdiger: „Gemeinheit!"
Der große Schotte war am ärgerlichsten. Er fand nur keine Worte für seine Wut und schlug darum laut und dröhnend auf die Tischplatte.
Plötzlich zischte der Deutsche, der sich in dieser polternden und schimpfenden Gesellschaft nicht besonders wohl fühlte und immer nach den Türen schielte: „Der Steward kommt!"
Der Steward, ein junger Mann, dem der weiße Kittel etwas lose um die schmalen Schultern hing, brachte das Fleisch. Es war nicht gleich ruhig, besonders der Schotte donnerte noch auf den Tisch. Die anderen brummten und maulten aber doch schon leiser.
Erst als der Steward, der die Fleischschüssel niedergesetzt hatte, die Teller einsammelte, fasste einer den Mut und stand auf. Es war der Korrekte. Er nahm den Steward an seinem weißen Kittel, versuchte ihn zwei Schritte abseits zu fuhren und sagte ihm leise, sich verbeugend: „Ihr Fisch ist schlecht!"
Der Steward verzog kaum das Gesicht, sammelte die Teller ein und antwortete: „Ich weiß es."
Der Belgier, der die Antwort hörte, schnellte hoch. „Du weißt das!" brüllte er, „und hast uns das Zeug doch gebracht!" Seine schwarzen Augen funkelten gefährlicher als Feuer.
Der Steward sammelte ruhig die letzten Teller. Vor dem Heiligen, der erst mit der Suppe begonnen hatte, blieb er einen Augenblick stehen. Langsam drehte er sich dem funkelnden Belgier zu. „Ich bin ein Angestellter", sagte er, und sein Gesicht wurde steif. „Ich bekomme den Fisch. Ich bringe ihn. Das ist meine Arbeit."
Auch der Däne war aufgestanden. Er war aber ruhiger. „Einer muss zum Kapitän gehen", sagte er.
Der Steward verteilte nun schon das Fleisch. Es roch besser. Die ersten schnitten gleich hinein. „Es ist gut", sagte der Deutsche triumphierend, der sich ein großes Stück auf den Teller gezogen hatte, und kaute mit vollen Backen.
Der ganze Tisch beruhigte sich. Selbst die Aufgestandenen vergaßen Beschwerde und stinkigen Fisch, ließen sich auf ihre Stühle zurückplumpsen, langten in die neue Schüssel und kauten mit.
Es war still. Man hörte nur das Schneiden und Kratzen der Messer. Manchmal rief einer nach Kartoffeln oder nach Sauce. Der Krumme säbelte, ohne sich umzusehen, in seinem Fleisch. Er hatte die Französin fast vergessen und spürte nur die Schärfe von Salz und Pfeffer, die er zwischen seine Zähne schob und die ihn hinten im Gaumen kitzelten und brannten,
Nach dem Fleisch gab es noch Apfelsinen. „Madame!" rief der Schotte, vor den der Steward den Korb mit den Früchten gestellt hatte, und warf der Französin eine zu. Sie lächelte dankbar zurück, sie lächelte aber gleichzeitig kokett zu dem Krummen, der sich satt und zufrieden zurückgelehnt hatte und die Frau wie ein brünstiger Stier beglotzte und abtastete.
„Der Teufel soll die Hunde holen!" schrie da der Däne plötzlich auf Er knallte seine Apfelsine auf den Boden und brüllte noch lauter: „Sie ist auch faul!"
Die andern waren glücklicher. Sie schälten die kleinen Früchte, bissen mit den Zähnen hinein, schlürften sie aus oder zerteilten sie mit ihren groben Fingern. Der Krumme steckte die seinige in die Tasche. Die Betschwester, die aufgestanden war und eilends hinaustrippelte, hatte die ihre noch tiefer in einen an ihr hängenden Strickbeutel vergraben. Alle sahen dem enteilenden Persönchen nach. Ihre Röcke schlenkerten etwas hochgezogen hinter ihr her. Man sah ihre spindeldürren Beine, die dicken, hängenden, grau und weiß gestopften wollenen Strümpfe und ein Stück von einem rot- und grüngestreiften Unterrock, Ihr Buch hielt sie wieder fest an die Brust gedrückt in den mageren, spitzen Händen.

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