Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
http://nemesis.marxists.org

XXXIII.

Das Schiff kreuzte vor der holländischen Küste. Der schwarze, nasse Nebel war verschwunden. Über dem Wasser stand tiefrot und übergroß die Sonne. Von England kamen graublaue, haushohe, pfeifende Wellen,
Die Wellen prallten gegen das sich neigende Schiff wie Stoßbäume, Sie quirlten und fauchten zwischen den Schornsteinen und Masten, warfen sich gegen die Kabinenwände und bogen das schaukelnde Schiff bis unter den Wasserspiegel.
Das Deck war leer. Die Männer schliefen noch. Sie waren wenigstens nicht zu sehen, und am Steuerhaus lehnte nur der Heilige,
Er sah blässer und schmaler aus als sonst. Um die hagere, lange Gestalt hing ein großer weiter Mantel, und darüber wirbelten sich wild und gespenstisch seine lockigen, schwarzen Haare.
Er sah nach Land aus. Wenn das Schiff einen Augenblick still stand, hob er jedes Mal eine seiner gelben, dünnfingrigen Hände über die Augen.
Das erste Land wurde auch bald sichtbar. Es lag über dem Wasser wie eine große, schwimmende Blase. Die Wellen überschütteten es, tauchten es gleich wieder unter und liefen spritzend und schäumend darüber hinweg.
Plötzlich stand vor dem Schiff ein breiter, rissiger Steindamm. Klein, geduckt, aber so sicher und unverrückbar erdhaft, als wären hinter ihm schon Wiesen und Felder,
Das Meer jagte gegen ihn mit allen seinen Kräften. Es warf sich über ihn wie eine Lawine und brüllte dabei auf wie ein großer, kriegerischer Elefant.
In diesem Steindamm war eine schmale, durch ein Leuchtfeuer überhellte Öffnung. Das Schiff, das in den großen. Strudeln und Wellen unbeholfen hin- und herschleuderte, bewegte sich mühsam auf diese Öffnung zu.
Wie ein Pfeil schoss es plötzlich hinein. Es richtete sich in den ruhigeren Wogen wieder auf, ließ sich von den schnellen Matrosen kleine bunte Fahnen- auf die Masten ziehen, fuhr langsamer, stolzer — es war in der Maas!
Der Geduckte und der Korrekte ließen sich sehen. Sie stampften die kleine Treppe herauf und hatten offene Mäuler.
„Ich glaube." sagte der Geduckte und rieb sich verwundert die Augen, „das ist schon Holland!" Der Korrekte schlug ihn klatschend auf die Schulter.
„Sicher!" sagte er mit leiser Rührung, „die Spitze dort, das ist der Kirchturm von Maasluis, Danach kommt gleich Schiedam, dahinter Rotterdam!"
Der Geduckte schüttelte den Bruder ab, „Also jetzt ist es vorbei mit dem Ausreißen!" sagte er kleinlaut. Er hob sein Gesicht höher und schielte mit kleinen Augen über das Wasser.
Das Land hing leicht voller Morgendunst. Man sah nur die treppenartigen, altmodischen Landungsstege und dahinter gehügelt den hohen grünen Damm.
„Da oben drehen sich wirklich die alten Windlöffel noch!" spottete der Geduckte.
Der Korrekte sah hinüber. An dem Damm lehnten kleine rot und blau gestrichene Häuser, und dahinter standen groß, beflügelt und hölzern einige Windmühlentürme,
„Hast du gedacht, wir mahlen das Mehl jetzt mit Wasser?" fragte der Korrekte ärgerlich.
„Nein!" lachte der Geduckte. „Mit der Hand!"
Der Korrekte wandte sich ab. An seine Stelle trat, sonntäglich angezogen, der Däne.
„Nett! Niedlich!" sagte der laut. „Das ganze Land sieht aus wie ein großes Dorf!"
„Das ist es auch!" knurrte der Geduckte.
„Sieh nur!" rief der Däne nach einer Weile weiter. „Es ist immer dasselbe. Ein spitzer Kirchturm. Ein oder zwei große Häuser. Darum ein gutes Dutzend kleine!"
Der Geduckte meckerte. „In den Häusern ist es genau so!" sagte er. „In den großen wohnt ein dicker Pastor oder ein dicker Bürgermeister, und in den kleinen wohnen die Bauern oder die Fischer!"
Ü ber den Ortschaften stand ein leichter schwärzlicher Rauch. „Sie kochen Kaffee!" sagte der Däne.
Der Geduckte meckerte lauter. „Bei dem Pastor und bei dem Bürgermeister!" sagte er. „Bei den anderen Seelen gibt es Milchgrütze oder Schnaps!"
„Woher weißt du denn das alles?" fragte der Däne erstaunt.
„Ich bin aus diesem großen Dorf!" antwortete der Geduckte.
Der Däne sah den Geduckten verwundert an. „Du bist ein Holländer?" sagte er.
„Ich war es! Ich war es!" zischte der Geduckte mit einem sonderbaren Gesicht. „Vor 20 Jahren bin ich diesen Grützeessern und trägen Brüdern davongelaufen!"
Der Däne lachte. „Vor 20 Jahren!" wiederholte er. „In der Zeit haben sich auch die Holländer geändert!"
„Die!" der Geduckte schüttelte sich, „ändern sich nie. Hier bleibt jeder so dumm, wie er auf die Welt gekommen ist, und wenn er tausend Jahre alt wird!"
„Warum?"
Der Geduckte bekam einen roten Kopf. „Weil sich die Blase gar nicht ändern will!"
„Was fehlt ihnen denn?" knurrte er weiter. „Die einen melken ihre Kühe, und die andern fangen ihre Fische. Dazwischen löffeln sie die Grütze und trinken Schnaps, und alle drei oder vier Tage kriechen sie zu ihren Weibern. Ist das für einen Menschen zuviel?"
„Das tun sie bis sie umfallen!" sagte er schneller, „und dann kommt der dicke Herr Pastor, nennt sie brave Holländer und gute Bürger und Christen, macht sein Kreuz, und am Sonntag läuten die Glocken!"
Der Däne lachte wieder. „Bist du neidisch auf ihr gutes Leben?" fragte er.
Der Kopf des Geduckten rötete sich stärker. „Neidisch!" schrie er überlaut. „Morgen soll ich ja dieses gute Leben anfangen!"
Der Däne war einen Augenblick still. „Du?" sagte er dann mit schrägen Augenblinzeln.
„Der Alte hat mich dazu einfangen lassen!" sagte der Geduckte leiser. „Der Kleine soll die Käserei bekommen, und mir will er die Kühe und sein Land aufhängen!"
Der Däne blickte gläubiger. „Und fällt es dir so schwer, Bauer zu werden?" sagte er,
„Ich bin bis hinunter in das Feuerland gelaufen!" sagte der Geduckte langsam, um diesen Kühen und diesem ,Bauer werden' und diesem ganzen Holland zu entgehen!"
Der Däne kniff die Augen zusammen. „Um ein zweites Mal zu entlaufen, fehlt dir wohl der Mut!" sagte er spitz.
Der Geduckte nickte. Er ließ seine Unterlippe hängen und auch seine Hände. „Da kann man zwanzig Jahre vagabundieren!" brummte er. „Auf alles pfeifen! Und plötzlich kriecht man doch in ein warmes Nest!"
Der Däne sah ihn an. „Aber weswegen?" fragte er „Warum?"
Der Geduckte zeigte seine Zähne. „Warum?" wiederholte er giftig und trat einige Schritte zurück. „Das ist es ja. Ich weiß es nicht!"
Der Dicke und der Deutsche kamen.
„Das Wasser wird schon breiter!" sagte der Dicke. „Gleich kommt der Rotterdamer Hafen!"
„Ja!" sagte der Deutsche und zog seine Uhr. „Gegen 11 Uhr sollen wir ausgeladen werden!"
Die ersten Hafenanlagen waren kleine Werften. Auf groben Balkengerüsten lagen längliche stählerne Schiffsleiber. Sie wurden gestrichen und ausmontiert. Tackend schlugen die elektrischen Niethämmer herüber, und die Männer hörten auch das Fauchen und Zischen der gelben, stechenden Gebläse.
„Segelschiffe!" rief der auftauchende Belgier,
„Drei! Vier! Sechs!" sagte der Russe, der mit ihm gekommen war und lehnte sich an ihn.
Es war ein ganzer Wald von Seglern. Sie waren in einer Einbuchtung zusammengedrängt, und die weißen und schwarzen Segel hingen über den hölzernen und stählernen Leibern wie eine zu tief gelagerte Wolke.
„Dort sind auch Dampfer!" sagte der Däne und trat zu ihnen.
Es war eine große Flottille. Sie stand in einer langen Reihe, gleich groß, gelb und rot umstrichen, mit dicken schwarzen Rauchfahnen und blitzenden Messingumrandungen.
„Was ist das?" fragte der Russe und zeigte auf rollende, kleine Eisenhäuser, die über den Dampfern standen. „Das sind Kräne!" antwortete der Belgier.
„Und dahinter die hohen Gestelle?"
„Das sind Kippen!"
Das Schiff drehte sich langsam nach rechts, Es fuhr an größeren Werften vorbei und an einigen Schleusenwerken.
„Rotterdam!" rief der Dicke plötzlich und rannte trippelnd über das ganze Deck.
Die Männer reckten sich. Wirklich, da war es. Wie eine alte Seefestung, so hoch und gewaltig ragten Türme und Häuser über Hafenanlagen, Masten und Schornsteine, stellten sich immer höher, standen steif und weiß in den Himmel, und ihre Spitzen tauchten in Dunst und Nebel.
„Rotterdam ist schön!" sagte der Russe. Er sah mit großen Augen nach der Stadt hinüber.
„0!" sagte der Belgier, „Antwerpen ist ebenso schön!"
„Du siehst es heute noch?" fragte der Däne.
„Ja!" antwortete der Belgier freudig. „Heute Abend!"
Der Russe drehte sich zu ihnen. „Du bist da geboren?" fragte er den Belgier.
Der Belgier nickte. „Vor 38 Jahren!" sagte er.
„Willst du dort bleiben?" fragte der Russe weiter.
„Nein!" der Belgier lehnte sich zurück. „Ich will meinen Vater suchen, und wenn er noch lebt, fahre ich im Frühjahr mit ihm wieder nach den Staaten!"
„Weißt du das nicht, ob er lebt?" fragte der Däne erstaunt.
„Als ich ihn das letzte Mal zu Gesicht bekam, war er siebzig Jahre alt und sehr kränklich."
Der Deutsche trat unter die Sprechenden.
„Gleich sind wir am Pier!" unterbrach er den Belgier. „In ein paar Minuten können wir an Land gehen!"
„Du fährst nach Deutschland?" sagte der Russe.
„Nach Hannover! Nach Berlin! Nach München!" sagte der dicke Deutsche schreiend und stolz.
„Du hast dort Bekannte?" sagte der Russe.
„Ja!" sagte der Deutsche eilig. „Nur Bekannte!"
„Es war eine schöne Reise!" sagte er dann und drückte dem Russen die Hand. Dem Belgier und dem Dänen drückte er sie gleichfalls. An dem Geduckten ging er aber mit aufgerichteter Nase vorüber, und um die Jüdin, die gerade die Treppe heraufkeuchte, machte er sogar einen ängstlichen Bogen.
„Ich wünsche dir alles Gute in Antwerpen!" sagte der Däne zu dem Belgier und setzte das Händeschütteln fort.
Der Belgier sah ihm lächelnd in die Augen. „Ich dir in Dänemark eine kleine Revolution!"
Der Däne stand schon vor dem Russen. Sie sahen sich beide an. Der Russe schloss den Dänen in die Arme.
Das Schiff war unterdessen an dem Pier angekommen.
„Hallo!" schrieen Hunderte von Menschen, die auf den breiten hölzernen Rampen standen, und winkten zu dem Schiff hinauf.
„Hallo!" schrieen die Männer zurück. Sie drängten sich an die Reling und winkten auch.
Eine Glocke läutete. Einige Arbeiter schoben die langen Schiebebrücken auf das Deck. Die Matrosen zogen sie nach unten und banden und seilten sie an dem Schiff fest.
„Wir können aussteigen!" schrie der Deutsche fröhlich.
„Wir können aussteigen!" wiederholte der Däne. Er sagte es leiser und eine Oktave tiefer.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur