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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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V.

Der Weg nach oben führte an der Küche vorbei. Durch einen kleinen Gang kam man erst auf ein vergittertes Unterdeck. Steil ging es dann nach oben. Der Wind war im offenen Meer zum Sturm geworden. Er wälzte sich heran, als wollte er Wolken und Wasser durcheinander stürzen. Bergehohe Wellen schob er vor sich her und ließ sie über das Schiff jagen, dass die Männer auf eiserne Pfosten flüchten mussten und die Frauen kreischend in den Tagesraum flohen.
„Gibt es Sturm?" fragte der Lange einen Matrosen, der mit Seilen und zu Netzen verschlungenen Stricken vorüberbalancierte.
„He!" brüllte der laut zurück, „stürmt es dir noch nicht genügend? Wir kleistern schon die Decks zu, dass das Wasser euch nicht fortschwemmt!"
„Hier auch?" fragte der Deutsche ängstlich und hielt den Laufenden an der Bluse.
„Morgen“, sagte der glucksend und schüttelte den Deutschen wieder ab, „erst binden wir bei den Fettbäuchen zu, die sind wertvoller als ihr Strauchdiebe!"
Der Däne und der Belgier versuchten einen Rundgang zu machen. Sie stiefelten bis in die hintere Rundung des Schiffes, beugten sich nach unten und sahen einen Augenblick die wirbelnde Schraube. Sie hob sich schäumend und gurgelnd aus dem Wasser. Gleich senkte sich aber das Schiff auf die Seite, es wurde von einer gewaltigen Welle überholt, und die spülte die spähenden Männer klatschend gegen das Steuerhaus.
Sie waren nass bis über die Knie, lachten aber und wollten noch die nächste Welle erwarten. Sie kam an wie ein Ungeheuer und bog das Schiff so tief, dass sie dachten, sie versänken. Als sich das Hinterteil wieder nach oben hob, waren sie nasser als Wassermäuse, tasteten sich schüttelnd zurück und verschwanden auch in dem Tagesraum.
Das war ein viereckiger Kasten mit Tischen und Stühlen. Alle waren jetzt hier versammelt. Einige standen an den Fenstern und sahen hinaus. Die andern standen in kleinen Gruppen zusammen und sprachen miteinander. Nur die Betschwester saß allein in einer Ecke. Sie las in ihrem Buch und machte ihr heiliges Gesicht.
Links von ihr standen der Geduckte und der Amerikaner. Der Geduckte redete auf den Bebrillten ein. Er sprach noch immer von der Revolution. Kamerad!" sagte er und schob sein Gesicht näher an die Brille, „wir hatten einen Irländer bei uns, der war stärker als ein Pferd. Er schlug jeden Policeman mit einem Hieb zusammen und brüllte immer ,Wieder einer'. Kerls, sagte er zu uns, wenn ich weiter jeden Tag ein Dutzend zusammenschlage, nehmen sie bald ein Ende, und wir sind frei!"
Der Amerikaner trat einen Schritt zurück. „Was soll das?" fragte er. „Wenn man Menschen totschlägt, ändert sich nichts. Wir müssten schon die ganzen oberen Klassen totschlagen, wenn wir frei werden wollen."
Der Krumme, der näher kam, hörte die letzten Worte. „Ja, aller schrie er und schlug dem Amerikaner wohlwollend auf die Schulter. „Es ist keiner einen Cent wert. Sie sitzen an uns wie die Kletten, saugen uns aus und werden dick und voll, und wir schinden uns mager und hässlich!"
Er wollte noch mehr sagen, aber er sah, dass die Französin in den Raum trat, sich langsam zum Fenster wandte und hinausblickte. Er ließ die beiden stehen und schlenderte hinüber.
„Es ist ein schlimmes Wetter", sagte er, trat ganz nahe zu ihr, und, berauscht, sie so leibhaftig zu spüren, stieß er sie mit seinem Daumen in den Rücken.
Die Französin kreischte auf. Sie lief aber nicht fort, sondern sah weiter durch das Fenster. Von Osten trieb jetzt Schnee gegen die Scheiben. Der versperrte die weite Sicht, nur das Wasser blieb sichtbar und die hohen Wellen. An den schwankenden Bewegungen des Schiffes spürte man, dass der Sturm minütlich stärker wurde.
„Man kann nicht hinausgehen", sagte der Krumme wärmer, duckte seinen Kopf und stieß die Frau härter.
Sie schien zu spüren, dass die Stöße Liebkosungen des Krummen waren, aber als wüsste sie nichts von seiner Gegenwart, blickte sie weiter in den Sturm und hob und senkte nur schüttelnd Hals und Rücken.
Ihn ärgerte das. Er drängte sich neben sie, stieß den geduckten Kopf hoch und versuchte, sie mit seinen Backenstoppeln zu berühren und zu reiben.
Sie zuckte zusammen. Aber das Reiben und Kitzeln musste ihr mehr behagen als das Stoßen. Sie zog ihr Gesicht wenigstens nicht zurück, ließ es an seinen Stoppeln und drückte es sogar fester hinein.
Es sah sonderbar aus, die beiden nebeneinander. Sie glichen zwei sich reibenden Katern. Der Krumme wurde hochrot dabei. Die Röte schoss aus seinem fetten Hals, legte sich langsam um Mund und Augen und stieg zuletzt bis an die Haare.
Plötzlich stieß ihn der Lange, der die sich immer zärtlicher Reibenden gesehen hatte und eilends herbeikam, mit der Fußspitze in die Kniekehlen.
Der Krumme brach durch den Schmerz beinahe, zusammen. Er fiel erst nach hinten, stemmte sich aber gleichzeitig wieder hoch und rannte dabei mit solcher Wucht gegen die Französin, dass diese wie ein Ballen gegen die Fenster fiel.
Sie erschrak noch mehr und schmerzlicher als der Krumme. Sie dachte erst, die Zärtlichkeiten des zusammengedrückten Engländers wären so stürmisch geworden und wollte davonlaufen. Als sie sich umsah, den sich windenden Krummen erblickte, der sich auf einen Stuhl geschleppt hatte, und neben ihm das Gesicht des Langen, das würdig und ein wenig nach oben gezogen sich über ihn beugte, blieb sie stehen. Sie begriff den Zusammenhang.
„John“, sagte der Lange gerade, und man konnte nicht genau hören, ob er spöttelte oder einen guten Rat gab, hasst du dir weh getan? Du solltest solche Dummheiten auch lassen!"
„O, „sagte er dann und wandte sich nach einer korrekten Verbeugung entschuldigend zu der Frau, „haben Sie sich auch weh getan? Aber er ist mein Schwager. Seine Frau ist meine Schwester."
Der Belgier und der Däne, die sich an ein Heizungsrohr gesetzt hatten, schienen wieder, trocken zu sein. Der Belgier stemmte noch seine Füße auf das dampfende Rohr, der Däne hatte sich aber schon etwas zurückgesetzt, nahm Tabak aus einer gelben Dose und wickelte sich Zigaretten.
„Kamerad, „fragte der Däne, „bist du Anarchist?"
Der Belgier schielte schräg zurück. „Sehe ich so aus wie der Bebrillte?" fragte er.
Der Däne lachte. „Er ist aber höllisch klug, dieser Bruder."
Der Belgier verzog sein Gesicht. „Sie sind alle klug, die Yankees", brummte er leiser. „Das heißt, was sie einmal eingesogen haben, das sitzt in ihnen wie die Wurst in der Schale. Ich habe wenigstens noch keinen gesehen, der sich zwischen Geburt und Tod geändert hätte."
„Kamerad, „fragte der Däne ein zweites Mal, „bist du Syndikalist?"
Der Belgier antwortete nicht gleich. „Früher", sagte er langsam. „In Antwerpen waren wir alle Syndikalisten. Ich habe damals in den Häfen gearbeitet. Heute sind wir Sozialisten geworden."
Der Däne legte sich leicht zurück. „So", antwortete er erst. „Es ist sonderbar mit dem Sozialismus, „knurrte er etwas schärfer, „je näher er seiner Verwirklichung kommt, um so stärker verliert er seine Farbe!"
„Wo?" meckerte der Belgier erstaunt und dann spöttisch.
Der Däne hörte den Spott gar nicht. „Ich denke an meine erste Versammlung", sagte er. „Es war in Kopenhagen. Wir waren 40 Schlosser, frisch organisiert, aber Kerle wie die Bäume. Sozialismus — als wir das das erste Mal hörten, das war so, als ob wir plötzlich die Orgel in unserer alten Kirche verstünden. Und“, der Däne erhob sich etwas, „wir sprachen von diesem Sozialismus noch feierlicher als unsere mageren Pastoren von ihrem Paradies!"
Der Belgier meckerte lauter, „Das ist vielen Grünhörnern so gegangen", lachte er. „Jeder dachte, das Arbeiten höre nun auf und das himmlische Zeitalter begänne schon. Als ob es so leicht wäre, die Welt auf den Kopf zu stellen!"
„Wir haben nach nichts geschielt", antwortete der Däne ernst, „Als wir anfingen, uns zu organisieren, ist es uns sogar höllisch dreckig gegangen. Alle lagen auf der Straße. Aber es war eine große Zeit. Wenn wir demonstrierten, so war das ein Aufmarsch, als zögen wir gegen das Kapital von ganz Europa zu Felde, und wenn wir streikten, so war der Pfennig Aufschlag nur eine Ausrede, Wir wollten sehen, ob wir schon stark genug für den letzen Kampf waren!"
„Wirklich, Kamerad!" sprach er weiter und sah dem Belgier in das spöttelnde Gesicht, „wir waren gute Sozialisten, Wenn wir gerufen wurden, krochen wir immer wieder aus den Löchern, selbst wenn wir von den letzten Prügeln noch warm und blau waren. Was haben sie aber heute aus uns allen gemacht? Einen Arbeiterverein, einen Streikklub, eine armselige, gehammelte Massel"
Der Belgier zog langsam die Beine von dem Heizungsrohr, spuckte zweimal aus und sagte dann giftig: „Nichts haben sie aus uns gemacht. Nichts! Es hat sich nur alles geändert in den letzten zwanzig Jahren. Ist der Sozialismus etwas Besonderes? Nein! Er musste sich also mitändern. Verdammt!" sagte er bissiger, „und was hast du eigentlich, es geht doch vorwärts!"
„Kamerad," antwortete der Däne und sein Gesicht war schmerzlich verzogen, „ich habe meine Beine in Brasilien und Argentinien gehabt, in Mexiko und in Kalifornien, in Neuyork und in Kanada, die Arbeiter krepieren überall noch auf den Straßen, Und die Sozialisten," er machte eine Pause, „wer eine Arbeit hat, lässt sich nicht sehen, und die andern liegen auf dem Bauche und warten, bis man ihnen eine gibt!"
„Sogar in Mexiko?" fragte der große Schotte, der herangetreten war und zugehört hatte, „da sitzen die Roten doch auf dem Thron!"
„In Mexiko!" wiederholte der Däne, „sieht es nicht besser aus. Die Reichen sitzen auf ihrem Land und auf ihren Silberminen und leben so gut wie früher, und wir hocken in den Städten so arm und verkommen wie vor dem Regierungssturz. Streik und Demonstration sind außerdem verpönt wie die Pest, und bewaffnen durften wir uns nur, wenn der rote Thron in Gefahr war!"
Der Schotte lachte und knallte sich auf die Schenkel. „Ja, „schrie er, „so sind sie, diese Arbeiter und Sozialisten. Sie schützen den Staat wie die Hunde das Haus ihres Herrn, und je mehr sie geprügelt werden, umso freundlicher wedeln sie mit den Schwänzen!"
„In den Staaten, „fuhr der Däne fort, „ist es aber am schlimmsten. Im Süden gründen die Genossen Gesangvereine und vom Montag bis zum Sonntag ist Tanz, Im Norden werden Banken gegründet und Krematorien gebaut und darüber schreiben sie: Der Sozialismus marschiert!"
„He! Und in Europa?" fragte der Belgier und stützte
sich auf.
In Europa!" polterte der Schotte heraus, „ist der Sozialismus allerdings verwirklicht. Da hat man die Dümmsten aus dem Volke herausgeholt, ihnen einen Bauch angemästet, dass sie nicht mehr darüber hinaussehen können, sie auf die wackligen Throne gesetzt, und nun herrschen sie im Namen des Volkes,
Hai Ha!" und er polterte noch lauter, „und die tapferen Sozialisten, die ihr halbes Leben an der Muttermilch des Sozialismus gezulpt haben, singen Hosianna dazu und sagen: Es ist vollbracht!"
„Ja“, sagte der Däne und schloss einen Augenblick die Augen, „es treibt einem das Wasser in die Höhe. Sie regieren in unserem Namen und im Namen der Demokratie, sie sind halbe oder ganze Sozialisten, und dem armen Volke und den Massen geht es dreckiger als früher!"
„Quatsch!" brüllte der Schotte wieder. Sag es ihm deutlicher! Sie sind mit ihrem Sozialismus bis zur Futterkrippe geritten, und auf einmal war der Gaul abgehetzt und musste Ruhe haben. Die Ruhe ist ihm aber so gut bekommen, dass er fett wurde, und nun kann er die Reiter überhaupt nicht mehr tragen!"
„Was soll er auch noch", mischte sich der Deutsche ein, der sich breitbeinig vor den Schotten gestellt hatte. „Der Sozialismus hat abgewirtschaftet! Ich habe auch einmal Marken geklebt und wurde mit zu den Demonstrationen geschleppt. Jetzt habe ich eine Schreinerei in Baltimore und habe den Schwindel nicht mehr nötig. Der Mensch muss versuchen, zu etwas zu kommen — also arbeiten und sparen, das ist das Beste. Wer nichts ist und nichts hat, der kann auch durch euren Sozialismus nichts werden!"
Das Gespräch zwischen dem Amerikaner und dem Geduckten wurde genau so laut. Der Geduckte hatte den Amerikaner fest am Rock genommen, „Du bist doch ein Revolutionär", fragte er ihn.
„Sicher, „sagte er und zog den sich Sträubenden näher an seine Seite, „vielleicht ein Rebell, ein Nihilist, ein Anarchist? Man sieht es dir an. Ich habe einmal mit einem Kerl zusammengelegen, der war auch von dieser Brüderschaft, und er sah dir ähnlich!
Es war zwischen Baltimore und Washington“, fuhr er schneller fort, „wir hatten drei Tage gearbeitet. Was sage ich, gearbeitet? — geblutet in der Sonne! Immer auf dem Dampfpflug. Am dritten Tag bauten wir ab. Unser Geld! sagte der Kerl und hielt dem Farmer seine Tatze hin. Der spuckte darauf. Ich habe euch für den ganzen Sommer gemietet und nicht für drei Tage, sagte er. Den nächsten Tag haben wir noch gepflügt, aber am Abend sind wir auf und davon gegangen. Den Pflug stürzten wir vorher in ein Wasserbecken!"
„Hört!" zischte der Krumme, der zu den beiden zurückgekehrt war und gelauscht hatte, wir hatten einen ähnlichen Bruder in unserm Loch. Einmal hackten wir sogar zusammen Kohlen. Er war klein, nicht besonders pfiffig, aber er hatte einen Schädel, dicker als Eisen, Als wir nach dem dritten Streik wieder in das Loch sollten, es war eine dumme Geschichte, die Kohlenkönige hatten uns schon das zweite Mal ein falsches Licht angesteckt, knurrte er und sagte: Es geht mir keiner vor morgen hinunter. In der Nacht kletterte er aber selber hinein, legte Pulver unter die Pumpe und zersprengte sie. Schon am Abend stand das Wasser bis zur zweiten Sohle!"
„Aber was tut der Kerl plötzlich? Auf einmal heißt es, oben in der ersten Sohle ersäuft ein Pferd, wenn das Wasser steigt. Er ist hinunter geklettert, als gälte es sieben Leben. Und der Donner, er ist ersoffen, ist ersoffen wegen einer alten Mähre, die blind und lahm war und nicht mehr ziehen konnte und vielleicht am nächsten Tage vergiftet worden wäre!"
Der Amerikaner, der steif und Verschlossen zugehört hatte, wurde wärmer und erzählte mit. „O“, sagte er, „es gibt solche brave Burschen. Einmal waren wir in Texas und wurden verfolgt. Als wir nachts bei einem Farmer einfielen, fragte er uns, ob wir Flüchtlinge wären. Weiter konnten wir nicht, denn die Grenze war besetzt, wir sagten also ja. Kameraden, antwortete er, ich war einmal ein schlimmerer Bruder als ihr, und vor mir hat die Chicagoer Polizei mehr gezittert als vor einem Hundert von euch. Kurz, er brachte uns über die Grenze, Wir wurden aber gesehen, allerdings als wir schon in Sicherheit waren. Nur dem Gentleman ging es dreckig. Sie haben ihm Haus und Stall verbrannt, und als er aus seinen Prügeln erwachte, war er mehr tot als lebendig. Pah! lachte er, als wir nach vier Wochen zurückschlüpften und vor seinem blauen Gesicht erschraken, was macht das, ich habe ihnen einen Streich gespielt, und der ist die Prügel schon wert!"
Am Fenster stand noch immer der Lange. Er machte sein finsteres Gesicht und sah manchmal zu der Französin. Die war langsam nach der anderen Seite des Raumes gegangen und sprach mit dem Korrekten.
„Es ist eine gemischte Gesellschaft", sagte der junge Mann, der sich nervös an seinem Bärtchen zupfte und sich etwas linkisch mit der anderen Hand auf den Tisch stemmte.
Die Französin betrachtete ihn. Sie spitzte erst spöttisch die Lippen, lächelte ihm dann aber zu. „Ich liebe solche Gesellschaften", antwortete sie und blinzelte mit den Augen,
Den Langen schien das beginnende Gespräch der beiden zu beruhigen. Er sah nach der dritten Fensterseite des großen Holzkastens. Dort stand seit einigen Minuten die Jüdin, versuchte, eines der angelaufenen Fenster abzuwischen und hinauszusehen.
Der Lange machte sein geistreichstes Gesicht, zog die Stirne in die Höhe, drückte die tiefliegenden, überschatteten Augen, die immer halb geschlossen waren, aus ihren Höhlen und ging auf sie zu.
Die Kehrseite der Frau war hässlich. Im Stehen wirkte das Hinterteil wie ein kleiner Globus. Wenn sie sich auf den zierlichen Füßen zu drehen versuchte, hatte man noch mehr das Gefühl von einem auf einen Ständer sich bewegenden Erdkörper, der nur seine ungeheuren Ausmaße etwas nach oben verschoben hatte, vielleicht um besser das Gleichgewicht zu halten.
Der Lange trat leise auf und blieb erst einige Meter hinter ihr stehen. Er sah an ihrem Rücken hinab, an der Rundung ihrer Hüften, hob seinen Kopf wieder in die Höhe und blickte auf die fetten Halswirbel. Dabei schob sich sein Mund ein wenig vor, und seine Nase schniefte leise Luft. Sie tat das eine ganze Weile, als röche es nach etwas anderem als nach Knoblauch.
Die Jüdin spürte die Nähe des Mannes und kostete sie aus. Sie räkelte sich etwas in den unförmigen Hüften. ließ aufschnaubend Luft in ihre Lunge, dass sich alles an ihr spannte und in den Nähten krachte, und dann ließ sie sich wieder zusammensinken, wenigstens soweit das bei ihrer Fülle möglich war.
„Madam!" sagte der Lange, der durch ihre Bewegungen Mut bekommen hatte, und berührte sie mit einem seiner gepflegten langen Finger am Halse, „es ist mir eine Freude, Sie zu sehen."
Die Jüdin drehte ihm schnaufend das Gesicht zu. Sie war sehr ruhig und sah den Langen weder lächelnd noch herausfordernd an. Sie war sogar etwas kritisch. Sie betrachtete den sauberen, aber geknickten Kragen des Engländers, seine Jacke, die schon gelblich glänzte und nicht gebügelt war, und plötzlich blickte sie noch scharf und prüfend in seine Augen.
Dem Engländer wurde unter dieser Prüfung ängstlich. Seine Lippen schoben sich nach unten, die hochgezogene Stirn legte sich in Falten, und die Augen, die immer kleiner geworden waren, überschatteten sich wieder. Er trat einen Schritt zurück.
Die Jüdin merkte seine Ängstlichkeit und trippelte ihm mit zwei kleinen Schritten nach. Sie wollte ihn nicht entkommen lassen und fasste ihn mit ihren von großen Ringen überladenen Fingern am Rock. „Was wollen Sie von mir?" sagte sie, sich an sein Gesicht ziehend. „Sagen Sie das. Sagen Sie das ganz deutlich."
Der Engländer war durch ihren Überfall noch ängstlicher geworden. Sein Körper zuckte zusammen, und sein Kopf schwoll zu einem Viereck. Auch das Anerbieten der Frau kam ihm zu schnell. Es erschütterte ihn bis in die Herzgrube, und er wich weiter zurück.
Die Jüdin versuchte ihn nun durch ein freundliches Gesicht zu halten. Sie drehte ihr Gesicht auf die linke Seite, wenigstens soweit es ihr fetter Hals zuließ, öffnete ihren großen Mund dazu und versuchte zu lächeln. Es war ein grausiges Lächeln. Man sah das tiefe, offene Mundloch, eine Reihe blanker Zähne, und dahinter züngelte wie eine Schlange eine dicke und tiefrote Zunge.
Den Langen trieb das Lächeln ganz in die Flucht. Er bewegte sich eiliger, schob sich und sein Gesicht durch einen Ruck wieder in die richtige Lage und mischte sich dann in einen der großen Kreise, in dem das Sprechen immer hitziger und lauter wurde.
Außer dem Dicken und dem Heiligen standen auf einmal alle in diesen beiden Kreisen. Die Französin und der Korrekte waren zu dem Amerikaner getreten, der Russe und der hüstelnde Franzose lauschten auf den Schotten,
Der Heilige war im übrigen noch gar nicht in dem Raum, und der Dicke saß in einer Ecke und blickte mit seinen kleinen, jetzt etwas hervortretenden und geröteten Augen nach der Betschwester,
Diese las noch eifrig in ihrem Buch und tat so, als ob sie die glänzenden Augen des Dicken gar nicht sähe. Nur jedes Mal, wenn dieser aufstehen wollte, um zu den andern zu gehen, warf sie ihm einen kleinen blitzenden Blick zu. Den fing der Dicke auf, als käme er direkt vom Himmel, setzte sich brav auf seinen Sitz zurück und wartete geduldig auf den nächsten.

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