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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XXXI.

Die Männer waren wieder nach unten gegangen. Die meisten saßen in ihren Kabinen. Sie packten ihre gelben Strohkoffer und füllten die mit Eisen beschlagenen Kisten.
Es war dunkel, als die ersten auf das Deck zurückkamen. Auf dem Steuerhaus brannten bereits die Lampen und über dem Mittelschiff heulte das Nebelhorn.
„Teufel!" schrie der Deutsche, und wandte den Kopf nach allen Seiten, „England ist schon wieder verschwunden!"
Die Jüdin, die neben ihm stand und der er es zugerufen hatte, nickte nur. Dabei schlugen die Rosen ihres Filzhuts soweit nach vor, dass sie dem kleinen Deutschen über das Gesicht fielen.
Dem Mann behagte das. Er nahm seine fleischigen, dicken Hände aus der Tasche, kniff die Augen zärtlich zusammen und rückte der Frau näher. „Sie sind schön, Madam!" sagte er.
Die Jüdin beugte den Kopf nach unten und sah den Deutschen erstaunt an. „Schön?" wiederholte sie und lächelte leicht.
Der Deutsche lächelte mit. Er hob zu gleicher Zeit seine Hand und kniff die Frau in den dicken Arm. „Sicher!" bestätigte er. „Ich wollte es Ihnen schon immer sagen, aber ich hatte keinen Mut dazu!"
Das Lächeln der Jüdin wurde zu einem Lachen. Sie zog den Mund so breit, dass ihre ganzen Zähne sichtbar wurden, Du bist ein recht höflicher Mann!" sagte sie.
Dem Deutschen tat das Lob wohl. „Ich bin auch aus Baltimore!" sagte er. „Und", er warf sich in die Brust und hob sich höher, „ich bin ein Amerikaner!"
Die Jüdin bog ihren Kopf wieder nach unten. „Hast du ein Geschäft dort?" fragte sie.
Der Deutsche nickte vertraulich und machte große Augen. „Eine elektrische Schreinerei mit vier Gesellen!" sagte er stolz.
Ich kenne Baltimore!" sagte die Jüdin nach einer Pause, in der der Deutsche vergeblich versucht hatte, ihre festen Hüften zu umspannen.
Der Mann ließ seine tastenden Hände eilig fallen. „Du kennst es?" sagte er ihr ängstlich nach und bekam einen roten Kopf. „Kennst du vielleicht auch mich?"
Die Jüdin schüttelte langsam den Kopf. „Nein!" antwortete sie. „Ich kenne dich nicht und von Baltimore eigentlich nur eine Straße. Mein Mann verkauft dort viel. Fellchen und Felle. Einmal war es ein großer Posten, Da musste ich mit ihm fahren."
Die Augen des Deutschen quollen aus dem roten Gesicht wie zwei dicke Fühlhörner. „Und einen Mann hast du auch?" stöhnte und stotterte er. Er zog die herabgefallenen Hände dicht an seinen vorstehenden Bauch und versuchte, sich zu entfernen.
Die Jüdin eilte ihm nach, „Ist das so schlimm?" sagte sie und fasste den Fliehenden hinten am Rock.
Ja! Ja!" kreischte der Festgehaltene laut und zappelte sich mühsam los. „Es ist eine Sünde! Eine große Sünde!" Er sprang mit kugeligen Sätzen weiter, erreichte eine der nächsten eisernen Treppen und hopste sie mit genau denselben kugeligen Sätzen nach unten.
Auf dem Deck standen noch der Franzose, der Russe, der Däne und der Geduckte, Der Franzose starrte mit halbgeschlossenen Augen in das gelbliche Wasser.
„Du willst uns also heute verlassen?" sagte der Russe leise und trat auf ihn zu.
„In ein oder zwei Stunden!" sagtet der Franzose. Er zog den Russen leicht an seine Brust und fuhr ihm langsam und tätschelnd über die schwarzen, borstiger. Haare,
„Holla!" schrie der Däne in ihre Zärtlichkeit hinein und zeigte auf den kommenden Amerikaner. „Ich glaube, der Yankee will uns auch verlassen!"
Der Amerikaner, der einen kleinen Lederkoffer in der Irland hatte, kam auf sie zu. „Ich fahre nach Paris!" nickte er.
„O! O!" Der Franzose hüstelte erregt auf. Er ließ des Russen eilig los und ging dem Amerikaner entgegen, „Also nach Paris!" wiederholte er.
„Marseille ist prächtig!" sagte er dann mit geneigtem Kopf, „Frankreich hat überhaupt prächtige Städte, Aber", er drückte seine Augenlider nach unten und spitzte die Zunge, „Paris ist die allerprächtigste! Die größte! Die schönste!"
„Es wird dir dort gefallen!" sagte er hüstelnder und fasste den Amerikaner an den Händen. „Sicher! Es gefällt ja jedem!"
Der Amerikaner nickte zu allem. „Ich bleibe drei Jahre in Paris!" sagte er. Er stellte sich neben den Franzosen und hielt dessen schmale Hände fest.
Die Französin kam vorüber. „Gleich kann man Boulogne sehen!" rief sie den Männern zu. Sie trippelte vor zum Steuerhaus, beugte sich über die Reling und sah nach Westen.
Die Männer stiegen ihr einzeln nach»Sie drängten sich vorsichtig um die Frau und sahen auch nach Westen.
„Dort!" schrie der Franzose plötzlich auf und zeigte auf einige schwimmende Flammenschalen, die auf dem Wasser tänzelten, „ich glaube, das ist das erste Feuerschiff!"
„Und dort!" kreischte die Französin lauter und klatschte in die Hände, das zweite, das dritte, das vierte! Gleich müssen wir im Hafen sein!"
Der Dampfer schnellte eilig an den flackernden Fackeln der Feuerschiffe vorüber. Hinter dem letzten fuhr er einen kleinen, halbrunden Bogen, heulte auf, bremste die surrenden Schrauben und ließ knarrend zwei große Anker fallen!
„Ja, das ist Boulogne!" sagte der Franzose leise. Er sah in die kleinen, fernen Lichtpunkte, die zwischen Himmel und Wasser flimmerten, und hob ihnen seine Hände entgegen.
Die Frau war lustiger. „Frankreich!" schrie sie auf. „Frankreich!" Sie drehte sich wild auf den Absätzen und packte dabei den Dänen und den Russen um die Schulter. Aus den Lichtpunkten schraubten sich pfeifend zwei kleine Kutter. Sie fauchten heran, umtanzten den großen Dampfer eine Weile und legten an.
„Wir müssen jetzt Abschied nehmen!" sagte der Franzose, der sich wieder zu den andern gewendet hatte. Er zitterte leicht, und in seinen Augen saß Wasser.
Zuerst trat er zu dem Dänen. „Leb wohl!" flüsterte er.
Der Däne sah mit kleinen Augen zu ihm hinab. „Grüße mir Marseille", sagte er, „und die tapferen Marseiller Genossen!"
Der Franzose war schon weiter gegangen. Er stand vor dem Belgier, „Wir haben uns manchmal gezankt, Großer!" sagte er. „Wirst du es vergessen?"
Der Belgier nickte nur und presste den Sprechenden an sich.
Dem Russen fiel der Franzose in die Arme. „Grüße mir Moskau!" schluchzte er, „Und Leningrad! Und Odessa! Grüße mir auch die russischen Brüder!"
Der Russe schluchzte mit. „Und werde du wieder gesund!" sagte er.
Der Franzose lächelte und über seine eingefallenen Backen lief ein leichtes Rot. Während er aber hinüber zu dem Geduckten ging, wurde er plötzlich blass und käsig, blieb stehen und horchte. Kamen da nicht eilige Schritte?
In dem Augenblick wurde die kleine Tür aufgerissen, die in die zweite Klasse führte, und drei spitzbärtige Männer und der dicke Offizier vom Dienst traten herein.
„Ist ein Rene Cossain unter euch!" bellte der Offizier die Männer giftig an.
Die machten erstaunte Gesichter und sahen sich gegenseitig in die Augen. Nur der Däne bekam einen Schreck. Er sah zu dem blaßgewordenen Franzosen und pfiff gellend durch die Zähne,
„Das bin ich!" sagte der in die lautlose Stille und schlürfte den Spitzbärtigen einige Schritte entgegen.
Die stürzten sich auf ihn. „Sie sind uns gemeldet worden!" sagte der Kleinste und krallte seine Hand um den Arm des Franzosen. „Sie sind verhaftet!"
Es war einen Augenblick noch stiller. Die Männer hatten die Münder offen und sahen alle auf den Umklammerten, der unter den Griffen des Spitzbärtigen weißlicher, glasig und beinahe durchsichtig wurde.
„Hilft ihm niemand?" sagte da auf einmal eine feierliche, hohe Stimme. Die Männer drehten sich erschrocken um. Es war der Heilige. Er war von seinem Platz hinter dem Steuerhaus hervorgetreten und ging mit langen Schritten auf den Gefangenen zu.
„Lass ihn los!" sagte er genau so feierlich zu dem, der den Franzosen an der Hand hielt.
Der Spitzbärtige blinzelte aber den Heiligen nur an. Die beiden andern fassten den mageren Mann zu gleicher Zeit um die Hüften und schoben ihn zur Seite.
Er nahte sich mit den gleichen langen Schritten wieder. Nicht gewalttätig. Sein Gesicht war sanft. Die Spitzbärtigen machte das trotzdem ärgerlich. Einer ballte seine Faust, und er hieb sie dem Heiligen so lange in den Magen, bis der Dürre zusammenstürzte.
Die Männer brachte das zur Besinnung. „Hund!" schrie der Däne, und er warf sich dem Kleinsten so wuchtig an die Brust, dass sie beide krachend zu Boden fielen.
„Was hat er denn verbrochen?" rief der Belgier und sprang sofort vor den wieder befreiten Franzosen.
„Er ist Deserteur!" sagten die beiden anderen Spitzbärtigen.
„Nein!" keuchte der Däne, der den unter ihm Liegenden noch mit den Füßen bearbeitete. „Er ist ein Sozialist!" „Ho?" quakte der dicke Offizier, „als ob das ein Unterschied wäre. Er hatte sich bis zur Tür zurückgezogen und winkte eilig nach einigen Matrosen.
„Er ist außerdem krank!" sagte der Amerikaner und stellte sich auch vor den Franzosen.
„Ja!" rief der Russe. „Er hat die Schwindsucht und speit den ganzen Tag Blut!"
„Wir müssen ihn trotzdem verhaften!" sagten die Spitz-bärtigen. „Wir haben den Befehl!"
„Hoho!" höhnte der Geduckte. Er strich sich seine Jackenärmel nach oben und ballte die Fäuste. „Dann holt ihn euch nur!" sagte er und schob sich neben den Belgier.
Da nahte der dicke Offizier wieder. Er trieb ein halbes Dutzend kräftige Matrosen vor sich her und einen gewaltigen, bärtigen Bootsmann.
„Nehmt dieses rebellische Pack fest!" krähte er hinter der anmarschierenden Front und fuchtelte mit einer kleinen Pistole,
„Sind es Spitzbuben?" fragte der Bootsmann, der ein rundes, gutmütiges Gesicht hatte,
„Der Blasse dort ist ein Deserteur!" riefen die Spitzbärtigen zum zweiten Mal und drangen mit den Matrosen vor.
Die Tapferkeit der Männer war diesmal vergebens. Es waren zu viele gegen sie. Der Däne, der besonders wild um sich schlug, wurde hochgehoben und gegen einen eisernen Pfosten gerammt. Der Geduckte bekam einen Schlag zwischen die Augen und fiel neben ihn.
Dem Belgier band man nur die Hände. Der Bootsmann nahm ihn danach unter den Arm und trug den sich Sträubenden auf die Seite.
„Schrecklich! Schrecklich!" kreischte die Französin, die sich mit an dem Kampfe beteiligt hatte und plötzlich allein unter den groben Matrosen stand.
Der Russe, der neben ihr auf dem Boden lag, war noch bedrückter. „Was werden sie jetzt mit ihm machen?" heulte er auf.
Der Franzose, der wieder in der Gewalt der Spitzbärtigen war und kleine Fesseln um die schmalen Handgelenke hatte, versuchte, ihn zu trösten. „Was sollen sie mit mir tun!" sagte er leise. „Sie werden mich einsperren. Sie werden mich vielleicht schlagen. Ich werde einige Tage früher sterben. Das ist alles!"
Er lächelte allen noch einmal zu. Er spie dabei Blut und wankte. Die Spitzbärtigen führten ihn eilig hinaus.

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