XXXII.
Alls dem Kanal kam dicker, schwammiger Nebel. Er hing tief und drückend über den langsam immer höher schlagenden Wellen und sah aus wie eine große unübersteigbare und undurchdringliche Wand.
Das Schiff hob seine Anker. Es dampfte erst ein Stück an dem Nebel entlang. Auf einmal schrie es in allen Tonarten auf, pfiff und tutete, drehte sich schräger und tauchte in die schwammigen, dicken Massen hinein.
Die Männer standen noch auf dem Deck. Sie bildeten einen Kreis. In der Mitte lag der niedergeschlagene Däne. Sie hatten ihn etwas aufgestützt. Der Kopf hing über einem Tauende. Die Hände waren weislich. Die Finger daran gespreizt.
Sie mühten sich schon bald eine Stunde um den Leblosen. Die Stewardess saß über ihn gebeugt und beträufelte den geschwollenen, strohgelben Kopf mit Wasser. Der Belgier hielt Riechsalz unter die verbeulte, blutende Nase. Der Geduckte schüttelte den schweren Körper hin und her, und der Russe hatte sich hinter den Liegenden gehockt und blies ihm leicht in die großen, abstehenden Ohren.
Uff!" stöhnte der Däne endlich und schlug die Augen auf. Er tastete gleich nach seinem rechten Ohr, hinter dem er einen stechenden Schmerz spürte.
„Diese Spitzbärte!" knurrte er weiter und befühlte die dicke, brennende Erhöhung, die er gefunden hatte, „ich glaube, sie haben mir das ganze Hirn eingeschlagen!"
Er versuchte sich aufzurichten, fiel aber wieder zusammen. „Uff!" stöhnte er ein zweites Mal.
„Es geht dir ja schon besser!" lispelte die alte Stewardess. Sie wollte den Dänen trösten.
„Besser!" kreischte der Däne auf, und diesmal kam er wirklich in die Höhe. „Besser geht es mir erst, wenn ich die Hunde, die mich so gedroschen haben, ebenso zusammendreschen kann!"
„Dazu wirst du wohl heute und morgen nicht kommen!" sagte der Belgier. „Sie sind mit dem Franzosen über alle Berge!"
Der Däne machte große Augen. „Ja!" lachte der Geduckte, „sie haben dich vorher so geschlagen, dass du schon über eine Stunde im Paradiese warst!"
Der Däne richtete sich ganz auf. „Und das ist also das freie Frankreich?" zischte er.
Der Belgier sah ihn erstaunt an. „Hast du es dir anders vorgestellt?" fragte er.
„Ja!" sagte der Däne und knirschte mit den Zähnen, Nach einer kurzen Pause, in der der Geschlagene einige Male tief Luft holte und sich nach allen Seiten dehnte, sprach er weiter. „In Dänemark", sagte er, „schwärmten wir Sozialisten von der französischen Republik, in der die Arbeiter beinahe jedes Jahr auf den Barrikaden stehen, wie die Gebratenen in der Hölle vom Himmelreich, und in Amerika sprachen die Genossen von dem Staat der Gleichheit und Brüderlichkeit in denselben Tönen!"
Der Geduckte meckerte und zeigte sein zerschlagenes Auge, „Und stimmt das nicht?" spottete er, „Dir haben sie den Schädel zerschlagen und mir das Auge. Dem Heiligen ist der Magen eingedrückt worden und dem Belgier der Brustkasten!"
Der Russe, der noch hinter dem Dänen hockte, lachte auch, „Ja!" sagte er, „sie haben uns alle gleich behandelt!"
Der Däne vertrug den Spott nicht. „Und warum dürfen wir überhaupt so behandelt werden?" fragte er bissig und drückte seine Hände fester auf die schmerzende Beule „Weil wir Jammerlappen und Lumpen gar keine bessere Behandlung wert sind!"
„Ist man in anderen Ländern freundlicher zu dir gewesen?" fragte der Belgier spöttisch.
„Das ist es ja!" kreischte der Däne auf. „Überall tritt man auf den Arbeiter! Wir sind die Hunde und das Vieh, das sich alles gefallen lässt, und die andern trampeln uns zusammen, als wären wir Dreck und Kot!"
„Sachte! Sachte!" sagte der Belgier. „Als ob wir nicht auch manchmal zuschlügen!"
Der Däne wurde bitter. „Ja! Manchmal!" wiederholte er. „Aber immer zu wenig, und wenn wir das reiche Pack einmal von unserm Buckel abgeschüttelt haben und im besten Zuschlagen sind, werden wir gutmütig und hören wieder auf!"
„Wie lange willst du sie denn schlagen?" fragte der Belgier.
„So lange, bis ihnen die Lust, auf uns herumzusteigen, für immer vergangen ist. Was tun sie denn, nachdem wir sie geschlagen haben?" rief er dem Belgier leiser zu, „Erst quälen sie und jammern, versprechen uns Gleichheit und alle sieben Himmel, und wenn wir den Knüttel wieder eingesteckt haben und als brave, dumme Hammel zu unserer Arbeit zurückgekehrt sind, sitzen sie schneller auf ihren alten Sitzen über uns als wir sie heruntergeworfen haben, und das Trampeln und Treten ist schlimmer als früher!"
Der Geduckte stimmte dem Dänen zu, „In Atlanta!" sagte er, „bin ich selber einmal mit unter solchen Dummen gewesen, und unsere Gutmütigkeit ist uns so brav und doppelt zurückgezahlt worden, dass ich noch heute mein Hinterteil spüre! He!" er zog seinen Kopf ein und blinzelte den Dänen und den Belgier an, „die Geschichte ist aber wert, dass ich sie euch erzähle!"
Er erneuerte erst den Lappen, den er um das zerschlagene Auge gebunden hatte, „Ich arbeitete an einem Bau!" begann er dann, „und da es damals wenig zu bauen gab, hatten die Bauführer vor, uns einen ganzen Dollar vom Lohn abzuziehen!
Zuerst ging die Sache auch ganz programmmäßig. Die Brüder sagten uns ihren Teil, und wir sagten ihnen den unsrigen, stellten am gleichen Tage die Arbeit ein und gingen auf die Straße. Nun wäre es, wenn die Geschichte
den richtigen Verlauf genommen hätte, darauf angekommen, wer es am längsten ohne Arbeit aushält. Die Kerle von Baumeistern oder wir. Ihnen schien das aber zu kostspielig, und sie trommelten auf einigen Baumwoll- und Zuckerplantagen Schwarze zusammen und fingen mit denen die Arbeit an!"
„Habt ihr die Neger nicht einfach verdroschen?" sagte der Belgier.
„Nein! Wenn wir sie verdroschen hätten oder mit Steinen beworfen, so hätten die Baumeister die Milizen geholt, wir wären auseinanderkartätscht worden, und der Streik wäre zu Ende gewesen. ,Kameraden!' sagte darum auch ein Ire, ein prächtiger Kerl, der die ganze Geschichte übersah, ,was können die Neger dafür, dass man sie auf unsere Baustätten geholt hat und sie arbeiten lässt? Das beste ist, wir lassen sie weiter Steine schleppen und Balken tragen und versuchen einmal etwas anderes!'
Wir wussten zuerst nicht, was der Kerl tun wollte. Als
wir aber am gleichen Abend in die Vorstadt marschieren mussten, wo die Bauführer täglich zusammen kamen und in einer kleinen Kneipe über den Streik berieten, dämmert« es uns. Wir spuckten in die Hände und schnitten uns einige Stecken, marschierten schneller, und wir konnten sie alle packen, wenn auch einige durch die Fenster sprangen und sich in Sicherheit bringen wollten!
Das war eine lustigere Hauerei als die mit den Spitzbärten!" prahlte der Geduckte. „Die Kerle schlotterten wie die Espen. Wir stellten sie in einer Reihe auf, und jeder bekam ein oder zwei Schläge über die straffgezogene Hose. Sie schrieen Feuer und Mordio, und dabei waren sie gleich so gefügig, dass sie feierlich versprachen, die Schwarzen wieder fortzuschicken, und wir sollten auch unseren Dollar behalten!"
Der Geduckte schlug sich vor den Kopf. „Und wir Hammel!" sagte er, „waren so siegessicher, dass wir ihre Versprechungen für bare Münze hielten! Ja, wir setzten uns sogar sofort an die Bänke, an denen die Bauführer gesessen hatten, und feierten diesen Sieg. Der Wirt musste den ganzen Whisky bringen, den er in seinem Hause hatte, und wir tranken, bis wir unter die Tische fielen!
Teufel!" kreischte er auf und schüttelte sich, „war das ein Erwachen! Den meisten von uns wurde ein Eimer Lauge über den Kopf gegossen, und als sie die Augen öffneten, sahen sie, dass sie im Hof der Mutter Sicher lagen, und ein paar uniformierte Spitzbuben legten dicht neben ihnen Ruten in Essig!
An dem Tag wurde uns beigebracht, dass man mit Verprügeln nicht schon aufhören muss, wenn der Geprügelte schreit. Ja, dass man, wenn man seinen Mitmenschen etwas beibringen will, was ihnen sonst nicht in den Verstand gehen würde, sich lieber die Ohren mit Watte verstopfen soll, als Erbarmen zu zeigen! Denn Schläge wirken erst, spotteten diese Staatsprügler, wenn der Geschlagene mit seinem Geschrei aufhört und überhaupt keinen Ton mehr von sich gibt!"
Bist du wenigstens klüger geworden durch die Prügel?" fragte der Däne.
So klug," antwortete der Geduckte, „dass ich das Vagabundieren angefangen habe und lieber der Arbeit, dem Streik und den Ordnungsprüglern aus dem Wege gehe. Und", er lachte, „wenn ich wirklich einmal wieder auf diese Blase gestoßen bin, wie heute, so habe ich so zugeschlagen, wie sie es mich gelehrt haben!"
Der Däne stöhnte auf. Wenn es nur jeder so machte!" sagte er.
„Vagabundieren?" fragte der Belgier spitz.
„Nein!" antwortete der Däne, „zuzuschlagen, wie wir selber geschlagen werden!
Was nützt es denn," sagte er nach einer längeren Pause, in der er die anderen alle angesehen hatte, „wenn wir bloß unsere Fäuste zeigen und sie danach wieder in die Tasche stecken. Wir bleiben unter der Fuchtel bis an unser Ende!"
Der Belgier lachte. „Du denkst also, wenn wir die große Trompete blasen, wenn wir selber die Fuchtel schwingen und mit einem Knüttel herumlaufen, dann geht es uns besser?"
„Ja!" antwortete der Däne.
Der Belgier lachte lauter. „Du hast es doch gerade an deinem Franzosen gesehen!" sagte er. „Da laufen sich die Massen seit hundert Jahren die Beine ab, um gewaltsam und mit einem Prügel zu ihrer Freiheit zu kommen; sie sind allerdings schon einige Male in Versailles gewesen und haben Könige geköpft und Minister gehängt, aber ehe sie sich richtig auf das Staatspferd setzen konnten, um es nach links zu drehen, da lief es schon wieder nach rechts. So nach rechts," der Belgier machte große Augen, „dass sie heute noch einen Schwindsüchtigen, der Blut spuckt und der nicht auf seine Genossen schießen wollte, einen Deserteur nennen und ihn in Armreifen stecken!"
„Das ist es ja!" rief der Däne wütend zwischen die Worte des Belgiers und stemmte sich in die Höhe, „da haben 1790 die Pariser ihren König und den ganzen Schwanz von adligen und kirchlichen Spitzbuben vom Throne gestürzt und gefangen genommen, weil sie ihnen das Fleisch, das Mehl, das Hemd, ja, sogar die Weiber gestohlen hatten, und sie haben in ihrer Dummheit und Gutmütigkeit nur so wenige von ihnen geköpft und gehängt, dass so viel übrig geblieben sind, dass ihnen ein Jahr später diese Halunken selber Stricke drehen konnten!
Und 1871!" sagte der Däne genau so wütend, „als diese Armen und Arbeiter wieder ganz Paris und ganz Frankreich in ihren Händen hatten, waren sie noch dümmer und gutmütiger. Sie haben weder gehängt noch geköpft. Sie haben nichts weiter getan, als Manifeste über die nun anbrechende wirkliche Freiheit und Brüderlichkeit geschrieben, und als sie, tatsächlich ein paar Bürger erschießen mussten, haben sie dabei geheult und sich auf die Brust geschlagen und gesagt, sie töteten unfreiwillig, aber die revolutionäre Situation zwinge sie leider dazu!
Was hat ihnen diese Gutmütigkeit später eingebracht?" Der Däne keuchte und musste tief Luft holen, bevor er weitersprechen konnte. „Für den geköpften König sind hunderttausend Arme erschossen oder erschlagen worden, und für die andere Sippschaft hat man die ganzen Vorstädte von Paris entvölkert!
Und 1871! Von den tapferen Kommunarden sind kaum hundert übrig geblieben, und für jeden Bürger, der im Straßenkampf in ihre Flinten gelaufen ist, haben die rotkappigen Offiziere ein Dutzend Kartätschenladungen in die zusammengetriebenen Arbeiter gejagt!"
Der Däne schwieg erschöpft. Der Belgier, der Russe und der Geduckte schwiegen auch.
„Ist unsere Gutmütigkeit also besser als ein richtiges Zuschlagen?" fragte der Erschöpfte noch, nachdem er sich etwas verschnauft hatte. „Nein!" antwortete er selber und sah dabei den Belgier an, „und wenn wir nicht ein einziges Mal den Mut dazu aufbringen, kommen wir nie zu unserer Gleichheit und Brüderlichkeit!"
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