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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XXVI.

Es war am hohen Nachmittag. Die Sonne brannte aus kleinen Wolkenbergen. Überall lagen ihre Strahlen in großen, gelben, kreisrunden Flecken. Wenn sich das Wasser hob, zerliefen sie.
Manchmal kamen schnelle warme Winde: Es fehlte die salzige Schärfe. Noch mehr die schwere, schleppende Nässe. Sie rochen würzig nach Erde und Fruchtbarkeit, War das schon Landwind? Der Lange, der mit dem Amerikaner am Steuer lehnte, tastete mit großen Augen den Horizont ab.
Es standen aber nur zarte, hohe Wolkenbänke im Osten. Sie waren erst rosig und wurden bläulich. Dann schimmerten sie grün, und zuletzt färbten sie sich zu einem hellen, übersonnten Violett.
„Da flutet Schlick vorbei!" rief der Amerikaner, der auf das Wasser gestarrt hatte.
„Dja!" sagte der Lange, und er hob seine Nase in den Wind. „England ist in der Nähe. Ich schmecke es schon!"
Der Krumme ging vorbei. Nach ihm kam der Geduckte, Später ließ sich die Französin sehen.
Die Männer gingen nach hinten. Der Geduckte sah auf die quirlenden Schrauben.
Der Krumme lugte auch hinunter. Wenn er sich unbeobachtet wähnte, schielte er aber nach dem Langen. Sein Gesicht wurde dann klein und listig, und die Augen saßen darin wie angeblasene Kienhölzer.
„0!" sagte der Amerikaner, als er die Französin sah, „da kommt unser Mannweib!"
„Unser Mannweib?" Der Lange drehte sich um.
Die Französin ging vorüber. Sie sah nach dem Himmel, kehrte gleich zurück und lief mit schnellen, hastigen Schritten wieder nach unten.
„Das ist doch die Frau mit der züngelnden Zunge?" sagte der Lange.
„Aber gestern war sie ein borstiger Teufel!" antwortete der Amerikaner. „Ein Höllenprediger! Ein weiblicher Kapuziner! Hast du ihre Reden und ihr Geschrei nicht mehr gehört?"
Der Engländer schüttelte den Kopf. „Nein!" sagte er.
„Du bist vorher davongelaufen!" Der Amerikaner sah dem Langen in das magere Gesicht.
„Ja!" antwortete der Engländer. Er hielt den blinzelnden Blick des Bebrillten aus. „Ich bin zu der Jüdin gegangen!" setzte er nach einer Weile hinzu.
„Zu der Jüdin!" Der Amerikaner wiederholte das Wort.
In das Gesicht des Langen schoss eine Röte. „Das erstaunt dich wohl?" fragte er.
Da der Bebrillte nicht antwortete, sprach er weiter. „Das ist der Dreck in meinem Leben, diese dicken Weiber!" zischte er bitter. „Der Unflat!" Aber wenn ich eine sehe, so muss ich ihr nachlaufen."
Der Amerikaner nickte nur. Der Lange wurde dadurch auch schweigsam. Er bog und streckte bloß seine langen, schmalen Hände, und wenn er sie zurückschnellen ließ, krampfte er sie schmerzhaft in das Fleisch.
„Ich tue das schon seit meiner Kindheit," begann er dann stockend und mit kleinen Unterbrechungen wieder, „und wenn es dabei einen Schuldigen gibt, so war es unsere dicke, schwammige Amme.
Sie war die Frau unseres Gärtners", sagte er nach einer langen Pause und so sonderbar, als spräche er zu sich selber. „Sie war so aufgedunsen und fett, dass die Jüdin nur ein Klecks neben ihr ist. Sie kam aber regelmäßig alle 13 Monate in die Wochen, und von ihrem 17. bis zu ihrem 48. Jahre hat sie 21 tote und lebendige Kinder geboren.
Sie war außerdem neben kleinen Hausmädchen, die oft wechselten, und unserer blassen, immer kränklichen Mutter das einzige weibliche Wesen, was in und um unser Haus lebte. Es ist also nicht gerade ein Wunder, wenn sie langsam in meinem Hirn die Verkörperung alles Weiblichen wurde.
Dabei tat sie nichts mit mir, was schlecht war. Sie nannte mich und meinen Bruder sogar ihre Milchkinder, und wenn sie uns später zwischen ihre riesigen Brüste drückte, so waren das nichts weiter als Liebkosungen Aber uns, richtiger mir", der Lange schloss die Augen und schüttelte sich, „war es mehr. Diese großen Brüste, die immer aus dem nie geschlossenen Hemd hervorsahen, waren etwas Unheimliches und zu gleicher Zeit etwas Lockendes, was mich jedes Mal, wenn ich sie sah, zu ihnen hintrieb. Mit fünf oder sechs Jahren lief mir bloß das Wasser im Munde zusammen, wenn ich sie umfasste. Als ich größer war, wurde der Reiz aber gefährlicher. Er wurde ein Prickeln, das über den ganzen Leib lief, manchmal wurde es so stark, dass es wie ein Brand in meinen Kopf sprang und mich bissig und wütend machte. Es konnte dann geschehen, dass ich, ärgerlich über den roten Kopf, den ich zu gleicher Zeit bekam, in diese Brüste hineinkniff, derb, auch biss. Die Frau, die immer schrill aufschrie, gab mir aber nur einen Klapps und warf mich auf die Erde. Sie hielt es für einen Jungenstreich, den sie sich trotz des Schmerzes auch stets wieder gefallen ließ."
Der Lange schwieg einen Augenblick. Er war ruhiger geworden. „Ich könnte dir noch mehr über diese Frau sagen", sprach er langsamer. „Dass sie sich jeden Morgen unter unsere große Gartenpumpe stellte und sich das Wasser über Rücken und Bauch plantschen Hess, so dass ich, der ich immer hinter der Gardine auf diese Waschung wartete, auch ihren übrigen Körper sah. Dass sie auch sonst nicht besonders heikel war und fast nie die Nacht abwartete, wenn sich ihr zaundürrer Gustave mit ihr vergnügen wollte. Ja, dass sie nicht einmal immer in ihr Zimmer zu diesen Vergnügungen gingen, so dass ich durch meine täglichen Beobachtungen nicht nur ihren ganzen Körper gesehen hatte, sondern auch, aus was allem eine Ehe oder Liebe bestand.
Da ich weder bei meinen Eltern noch bei den dürren Mädchen, die hie und da sittsam mit einem jungen Mann vor unserem Hause hin und her gingen, etwas Ähnliches sah, wurde es mir täglich klarer, dass eine Frau dick und schwabblich sein müsse, wenn sie zur Liebe oder zu solchen Belustigungen taugen sollte, und da ich schon langsam in die ersten geschlechtlichen Träume und Wallungen hineinwuchs, dachte ich mir Tag und Nacht Paarungen mit solchen dicken, unförmigen Frauen aus.
In Oxford, wo ich sechs Jahre auf der Universität gesessen habe, setzten sich diese Paarungen fort. Erst weiter nur in Träumen. Eines Tages gingen wir aber, wir waren sieben junge Studenten, in ein Bordell. Es waren zwölf Mädchen da. und eine schon ältere, dicke Mutter. Jedes Mädchen bot sich mir an, aber ich wollte durchaus mit der Alten in eine Kammer. Schließlich ging sie auch mit.
Mit 21 Jahren hatte jeder von uns ein festes Verhältnis. Eine Professorentochter. Die Tochter eines Bürgers. Manche irgendein Mädchen aus den benachbarten Landsitzen. Nur ich lief noch ohne eine weibliche Hälfte herum, Da die andern spotteten, wollte ich mir eine suchen. Es war schwer. Wo ich sie suchen sollte, waren sie alle so dünn und stirrlich wie ich selber, und wenn ich auf irgendeine dicke Magd traf und mit ihr durch die Straßen promenierte, spotteten die anderen noch mehr. Zuletzt fand ich ein Mädchen, die eigentlich auch nicht viel mehr als eine Magd war, die ich aber, nachdem ich sie in alle möglichen Fahnen gesteckt hatte, doch als Lady ausgeben konnte, Die Geschichte kam leider heraus. Zu einer Abendfeier und einem großen Ball war die Haustochter meiner Magd anwesend, und durch ihren Protest und den der anderen Töchter flogen wir beide hinaus.
Diese Geschichte", der Lange sann einen Augenblick nach und schob seine Lippen nach vorn, hatte aber ein dummes Nachspiel, Meine Vorliebe für dicke Damen und besonders mein Umgang mit Mägden war von einem befreundeten Gutsherrn, der an diesem Ball teilgenommen hatte, meinem Vater mitgeteilt worden, und der Gute hatte sich darüber so aufgeregt, dass er beschloss, mich baldigst zu verloben und gleich nach der Beendigung meines Studiums zu verheirateten.
Er führte seinen Beschluss auch durch. In den nächsten Ferien glich unser Haus einer Mädchenpension. Ich weiß nicht, wo die Nichten, Basen und die anderen jungen Damen überall zusammengesucht worden waren, und es waren so viele und so verschiedenartige, dass wohl jeder von meinen Oxforder Freunden die Seinige oder die Richtige gefunden hätte, bloß ich fand sie nicht.
Sie waren mir alle zu schmal, zu unkörperlich, zu weich, ohne jede derbe Festigkeit, ohne Brust, ohne Bauch, ohne Schenkel. Gespenster, aber keine Frauen, Ich wusste damals allerdings noch nicht, dass meine Vorliebe für das Dicke etwas Krankhaftes oder nur Persönliches war, aber ich wusste, dass ich keine von diesen dünnen Winden heiraten würde, denn schon ihre Nähe war mir unsympathisch, ekelte mich, und eines Nachts entfloh ich ihrem Schwarm und reiste für den Rest der Ferien wieder nach Oxford und zu meiner Magd.
Später, in London, im Klub und während unserer nächtlichen Orgien wurde es etwas besser. Ich bekam mich so in die Gewalt, dass ich wenigstens zusehen konnte, wenn man die Straßenmädchen Kopf stehen ließ, oder sich sonst mit ihnen belustigte. Aber ich blieb stets passiv bei ihren Späßen und ließ mich bloß zu ähnlichen Orgien hinreißen, wenn es durchaus notwendig war.
Seitdem ich Tramp, Hilfsarbeiter und Schlepper bin," der Lange lachte hohl auf, habe ich es noch besser. Die Rücksichten und Beobachtungen sind fortgefallen, und ich kann tun, was ich will. In Amerika", er ließ die Lippen hängen, und seine Backenknochen wurden sichtbar, „gibt es nur wenig Auswahl unter den Dicken, daher bin ich ziemlich schnell bei den Negerweibern gelandet."
Der Lange schwieg nach diesem letzten Geständnis, und er fasste mit den schmalen Händen, die leicht zitterten, nach der Reling. Er schloss zu gleicher Zeit die Augen. Der Amerikaner, der eigentlich etwas sagen wollte, tat dasselbe. Er schob sich außerdem auf den Langen zu. Als seine Schulter die Schulter des Engländers berührte, blieb er stehen.
Während die beiden aneinander gelehnt, in das Wasser starrten, schlich der Krumme an ihnen vorbei. Er hatte den Langen weiter lauernd beobachtet, und als er gesehen hatte, dass dieser die Augen schloss und sich wie abwesend über die Eisenstäbe beugte, war er leise herangekommen. Nun stürzte er schon schneller und sich vor Übereile beinahe überschlagend die kleine Eisentreppe hinunter, raste an der Küche vorbei, durch den Essraum und in die schmalen Gänge zu den Kabinen.
Er suchte die Französin. Er hatte sie wie der Amerikaner kommen und wieder gehen sehen, und er wollte sie, da er endlich einmal den großen Augen des Langen entronnen war, aufsuchen.
Er horchte erst an der Tür. Dann trat er sofort in die Kabine ein. Die Französin war darin. Sie saß auf ihrem Bett und baumelte mit den Beinen.
„Ich bin ihm durchgegangen!" sagte der Krumme erfreut, als er die Französin sah. Er beugte seinen eingedrückten Kopf nach unten und stieß sich wie ein witternder Bock näher an die Frau.
Dem Langen?" fragte die Französin, die gar nicht erstaunt war, als sich das Bocksgesicht neben sie setzte. „Ja, dem Langen!" wiederholte der Krumme, „Ist er dein Bruder?" fragte die Frau weiter. „Nein!" der Krumme stemmte sich erregt auf und setzte sich wieder, „mein Schwager!"
Die Französin machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ach so," sagte sie leiser, du hast ja auch zwei Kinder!"
Die Erregung des Krummen ließ einen Augenblick nach. Et blähte sich auf. „Einen William und einen Richard!" sagte er stolz.
„Ist sie so groß wie der Lange, deine Frau?" Die Französin sah den Mann fragend an.
Der Krumme öffnete einen Augenblick den Mund. „Nein!" antwortete er. Er kniff danach seine Augen zusammen und umtastete die Französin zärtlich, und während er sich näher an sie heranschob, sagte et mit gespitzten Lippen: „Sie ist so groß wie du."
Auch blond?"
" Braun!" Der Krumme fasste die Frau schon an der Schulter und versuchte, sie an sich zu ziehen.
Die Französin wollte noch mehr fragen. „Und schlank?"
presste sie hervor. Der Krumme drückte sie aber bereits
an seinen Körper. Er hob sie dann etwas in die Höhe
und warf sich mit einem glucksenden Laut über sie. —
In dieser Zeit hatte sich der Lange, dem die Annäherung des Amerikaners wohlgetan hatte, wieder etwas beruhigt, und er setzte seine unterbrochene Beichte fort.
Kamerad!" sagte er und schielte den Bebrillten mit seinen glasig gewordenen Augen an, „und das bin ich nun. Beinahe ein Schwein, und ich werde die Sucht nach diesen dicken Weibern und die dicken Weiber selber nie wieder los!"
„Ist das so schlimm?" Der Amerikaner versuchte, den Engländer anzulächeln.
„Ja!" sagte der Lange. „Mir ist es eine Qual geworden. Ich schäme mich. Ich verachte mich. Ich halte es für etwas Schlechtes und Perverses!"
„Getan hast du dagegen noch nichts?
Der Lange lachte hart auf. „Alles!" antwortete er. „Aber was kann man gegen sich tun? Ich habe mich kasteit und habe mich gepeinigt. Ich habe mich mit Gewalt und mit Geduld ändern wollen. Ich bin dabei zum Asket und zum Büßer geworden, zum Frömmler und zum Säufer. Ich habe mich auch in noch tieferem Dreck gewälzt, und ich habe versucht, mich zum Heiligen zu verklären. Was hat es aber geholfen? Nichts!
Nein!" sagte er lauter, „gegen seinen Bauch ist der Mensch machtlos, und wenn man die Askese nicht bis zur Kastrierung treibt, bleibt man ihm auf ewig Untertan."
Der Lange schwieg wieder. Seine Beichte war jetzt auch zu Ende. Außerdem blitzte im Osten au! einmal Licht auf.
„Hallo!" rief er mit plötzlich veränderter Stimme und stellte sich straff in die Höhe, „das ist ja der Leuchtturm von Sankt Katherinen!"

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