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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XIV.

Das Mittagessen verlief ziemlich einsilbig. Es gab eine schwabbliche, unerkennbare Suppe, die nur die Jüdin und der Geduckte schlürften. Danach eine Zusammenstellung von gelben Rüben und harten Kartoffeln. Hinterher kam eine seltsame Nachspeise. Es war roter, gelber und brauner Pudding ineinander gemischt, und aus den schillernden Farben ragten halbe Waffeln und Semmelbrocken.
„Hu!" fauchte der Krumme, der sich ein paar Löffel auf den Teller nahm, „das sind die Überbleibsel aus der ersten Klasse!"
Der Schotte schob ihm die ganze Schüssel zu. „Friss ruhig weiter“, knurrte er, „es ist schon vorgekaut. Du wirst dir also den Magen nicht selber verderben."
Auch der Deutsche nahm sich ein paar Löffel. Sogar der Russe und der Franzose. Der Erste, der die Schüssel wieder zurückschob, war der Belgier, und der Däne gab ihr einen Stoß, dass sie bis hinunter zu der Betschwester fuhr.
„Zieht es nur hinter!" keifte der Däne noch bissig, dem das Blut in das Gesicht geschossen war. „Es ist euch ja sicher gleich, wer sein Maul schon in dem Trog hatte!"
Selbst der Belgier maulte. „Das wird immer besser", sagte er, „und wenn das so weiter geht, bin ich, bis ich nach Antwerpen komme, dünner als ein Hering!"
Unten am Tisch ließen sie sich aber trotzdem den Pudding schmecken. Die Betschwester löffelte sich den ganzen Teller voll und fischte besonders nach den Waffeln,
Der dicke Holländer packte sich auch einen Berg vor die Nase. Als er sah, mit welcher Gier die Betschwester die kleinen Waffeln auf der Zunge zerdrückte, fischte er die seinen aus dem bunten Brei, zog sie sorgsam auf beiden Seiten durch die geschlossenen Lippen und schob sie der Frau zu.
Die Jüdin, der es genau so schmeckte, füllte sich schon zum zweiten Male den Teller. Als sie sah, dass sich der Lange nichts nahm, griff sie nach seinem Teller und füllte ihn mit. Sie stieß ihn dem Mann mit einem leichten Blinzeln zu. Dem Langen grauste es. Er stand eilig auf und lief mit großen Schritten hinaus.
Der Belgier und der Däne folgten ihm. Danach stand die Französin auf. Sie schob ihren Stuhl zurück, und ihre Arme fielen danach schwer nach unten. Sie war müde.
Der Deutsche, der die Frau während des ganzen Essens beobachtet hatte, sprang zur gleichen Zeit in die Höhe. Sein Teller war noch gefüllt. Er lief aber doch hinter ihr her.
Der Krumme, der sich nach dem eiligen Aufbruch des Langen hin und her gedreht hatte, erhob sich nun auch. Er starrte der Französin nach und fletschte mit den Zähnen. Den Deutschen, der ihm an der Tür zwischen»die Beine lief, warf er mit einem kräftigen Stoß auf die Seite.
Die Französin ging mit schlendernden, kleinen Schritten in ihre Kabine. Der Krumme polterte ihr laut und dröhnend nach. Vor der Kabine stieß er aber noch einmal auf den Deutschen.
Der hatte sich aufgerafft und war dem Krummen nachgelaufen. Jetzt packte er ihn bei den Händen und wollte ihn von der Tür zurückziehen. Seine wurstigen Finger konnten die gestrafften Arme des Krummen kaum umspannen.
„Fettwanst!" schrie der Krumme belustigt und bläkte den Deutschen mit seinem zusammengedrückten, jetzt spöttischem Gesicht an, „willst du auch zu der Frau! Du kannst ja nicht einmal über deinen Bauch sehen!"
Der Deutsche, der schon zornig war, wurde noch zorniger. Er stemmte sich mit seiner ganzen Dickleibigkeit gegen den Krummen und versuchte, ihn nach hinten zu drängen. „Sie ist mein, die Frau!" zischte er dazu durch die Zähne. Ich habe ihr einen Dollar gegeben!"
Auf den Krummen machte das gar keinen Eindruck. Als der Deutsche immer wilder drängte, fasste er sogar nach ihm. Er hob das zappelnde Männlein in die Höhe und stürzte es etwas unsanft gegen die nächste Wand.
Er kam aber auch nicht zu der Französin. Vor ihm stand plötzlich die alte Stewardess und sah ihn mit grauen, blitzenden Augen an.
„Schämt euch!" plärrte sie mit einer kleinen, fistelnden Stimme los. „Ihr solltet mit euren Dummheiten doch wenigstens warten, bis es dunkel ist!"
Der Krumme fuhr erschrocken zurück. Er zog sein Gesicht bis in den Rockkragen und trollte sich in seine Kabine. Der Deutsche, der sich mühsam wieder aufgerappelt hatte, war nicht so gefügig. Er drückte sich gegen die gelben Bretter und blieb dickfellig stehen. „Ich habe ihr doch einen Dollar bezahlt!" wiederholte er.
Der Stewardess imponierte das genau so wenig wie dem Krummen. Sie drehte den Deutschen um, fasste ihn wie einen Arrestanten an der Schulter und stieß ihn mit leichten Knuffen vorwärts. Vor dem Eßraum ließ sie ihn stehen.
Hier erhoben sich gerade die letzten Essenden und stiegen die Treppe hinauf nach dem Deck. Der Korrekte, der auch auf die Französin brannte, aber den eiligen Abgang der Frau nicht bemerkt hatte, wartete an der Treppe und ließ die anderen vorausgehen. Er suchte die Frau,
Als er sie nirgends hörte und sah, lauschte er an den Kabinen. Er ging den kleinen Gang hinunter, in dem eben noch die beiden anderen Liebhaber gestanden hatten, und lauschte da weiter. Er tat es mit ängstlichen, vorsichtigen Schritten. Seine Brust hob und senkte sich. Er sah aus, als wolle er stehlen.
Der Geduckte, der als letzter den Speisesaal verlassen hatte, kicherte leise auf, als er seinen Bruder so schleichen sah. Er lief ihm wie ein Spürhund nach. Als der Korrekte vor der richtigen Tür stand und sie wie ein Tier beschnupperte, kicherte er lauter und sprang eilig näher.
Der Ertappte hörte es und versuchte sich umzuwenden. Bevor er sich drehen konnte, hatte ihn der Geduckte aber schon am Genick. Er riss mit der anderen Hand die Kabine auf, stopfte den Schlotternden wie einen Sack hinein und warf die Kabine wieder zu.
Die Französin lag auf ihrem Bett. Sie rieb sich verwundert die Augen, als sie den Korrekten so plötzlich vor sich sah.
Der Korrekte schlotterte weiter. Ihm war nicht wohl. Er hatte zwar seinen Bruder als den Attentäter erkannt, aber er war so erschüttert, auf einmal und so schnell in der Kabine dieser Frau zu stehen, dass er sich über alle Berge wünschte.
Das Gesicht der Französin, das sich allmählich zu einem Lächeln verzog, machte ihn allerdings ruhiger. Er sperrte seinen durch den Schreck offen stehenden Mund eilig zu und lächelte mit.
Die Französin richtete sich nun halb auf und betrachtete den Korrekten genauer. Sie rückte sogar etwas an das Kopfende ihres eisernen Bettgestells, damit sich der Korrekte neben sie setzen konnte.
Der Korrekte verstand das auch. Sein Gesicht lief aus dem Lächeln in ein kindliches Grinsen. Er schob erst verschüchtert seine Hand auf das Bettgestell; als er aber sah, dass die Frau ihr Lächeln behielt, schob er schnell sein Hinterteil nach und setzte sich neben sie. Sein Gesicht war unbeholfen, Sein Körper schlotterte wieder. Er saß ihr ja auch schon so nahe, dass er sie berühren konnte.
Ich heiße Jens Burmeister", sagte er leise, um mit der Frau ein Gespräch anzufangen.
Jens Burmeister!" sagte ihm die Frau nach. Ihr Mund stand halb offen. Sie gähnte.
„Ja", sagte er freudiger, als er seinen Namen von ihr hörte, „und ich bin Holländer!"
Die Französin nickte diesmal nur.
Es war nun eine Weile still. Der Korrekte wusste nicht mehr, was er sprechen sollte. Da die Französin auf seine letzten Worte mit nichts weiter als mit einem Nicken geantwortet hatte, war außerdem sein Mut wieder gesunken.
Der Gelbe ist wohl dein Bruder?" begann nun die Französin und rückte ihm zu gleicher Zeit näher.
Ja!" antwortete der Korrekte eilig. „Er ist aber ein schlimmer und schlechter Bruder!"
Er setzte sich nach dieser Antwort erst zurecht. „Ich war neun Jahre“, sprach er schneller weiter, und er war erfreut, etwas gefunden zu haben, über das er mit der Frau sprechen konnte, „da war er vierzehn. Er war immer sehr jähzornig. Ich wollte einmal nicht mit ihm spielen, da hat er mich einen halben Tag und eine halbe Nacht in unsern Ziegenstall eingeschlossen. Er hatte mir vorher gesagt, wenn ich einen Laut von mir geben würde, bevor er mich heraushole, so wolle er mich mit dem Kopf nach unten aufhängen. Das war einer seiner liebsten Späße, die er mit mir trieb, und ich hatte große Angst davor. Ich habe auch bis zum Morgen ausgehalten, trotzdem die Mutter die ganze Nacht nach mir schrie und der Vater schon im Kanal nach mir suchen lassen wollte.
Später wurde er Anführer einer kleinen Bande. Sie stahlen nichts. Sie hatten nur eine kleine Höhle in den Büschen, in denen sie wie die Wilden hausten und kochten. Einmal wurden sie darin überrascht. Noch dazu von unserem Pastor. Sie bemalten sich gerade, Braun, rot. Die Brust und die Beine. Sie waren Indianer. Sie hatten ein Mädchen mit in ihrer Höhle. Die Enkelin von der Mutter Wittischen. Das Mädchen bemalte sich auch“,
Der Korrekte machte eine Pause. Die Französin, die sich zu ihm gewendet hatte und ihn ansah, lachte laut auf. Dem Korrekten trieb das das Blut in den Kopf. Er wurde rot.
„O!" sprach er stotternd, „sie haben sich wirklich nur bemalt. Sie haben auch sonst nichts Schlechtes getan. Ich war selber einige Male mit dabei. Der Pastor hat die Geschichte trotzdem bis vor das Gericht gebracht. Bernd", der Korrekte stieß den Namen mit einer leichten Zärtlichkeit aus, „und noch zwei größere Jungen sind dem Gendarm aber auf der Fahrt nach Arnsheim, wo sie zuerst hingebracht werden sollten, davongelaufen. Niemand wusste, wo sie sich hingewandt hatten. Von Bernd dachte man, er wäre nach Rotterdam oder nach Antwerpen. Er wollte ja schon längst auf ein Schiff!"
Der Korrekte machte eine längere Pause. Er erhob in der Zeit seine Hand und wollte sie der Frau auf die Schulter legen. Er ließ sie nach einem kurzen Zögern ängstlich wieder fallen.
„Zwölf Jahre hörten wir nichts von ihm!" erzählte er weiter. „Auf einmal kam eine Karte. ,Ich bin in Mexiko und reise gerade nach Chikago.' Er hatte in Chikago auch die Adresse eines Metzgers angegeben. Dorthin sollten wir ihm einen Gruß senden.
Dreimal hat ihm dann der Vater geschrieben, er solle doch herüberkommen. Einmal sandten wir auch das Fahrgeld. Als er aber auch im vorigen Herbst nicht kam, schickte man mich hinüber nach Amerika. Ich sollte ihn aufsuchen und ihn einfach herüberschleppen. Ich habe ihn sieben Monate lang gesucht. Das heißt, der Metzger in Chikago nannte mir verschiedene Plätze, wo ich ihn finden könnte. Ich bin in dieser Zeit bis hinunter nach St. Louis gefahren. Endlich fand ich ihn in einer Wäscherei am Mississippi. Er wohnte mit einer Schwarzen zusammen und wollte gerade wieder nach Mexiko. Wie einen Sträfling habe ich ihn auf das Schiff schaffen müssen!"
„Ihr fahrt nun zurück nach Holland?" fragte die Französin, als der Korrekte schwieg. Sie bog dabei ihr Gesicht bis dicht vor die Augen des jungen Mannes.
„Nach Beugen!" antwortete der Korrekte schnell, den die Annäherung etwas erschrocken hatte. „Wir haben dort eine Käserei. Sie ist uns über den Kopf gewachsen. Bernd soll deswegen das Land übernehmen."
„Nach Beugen!" sagte ihm die Französin leise nach. Ihre Augen wurden klein, spitz züngelte ihre Zunge, danach wölbte sie die Lippen.
Ja!" sagte der Korrekte noch, „der Vater wird immer älter. Ich bin schon der Buchhalter. Wenn ich heirate, übergibt er mir das ganze Geschäft!"
Die Französin hörte ihm aber schon nicht mehr zu. Sie hatte die Augen geschlossen und stieß heißen Atem aus Nase und Mund.
Auch der Korrekte veränderte sich. Er wurde straffer. Er hatte gesagt, was er wusste. Sein mutiges Erzählen hatte ihn außerdem gehoben. Was sollte er nun noch tun? Er konnte wohl zärtlicher werden.
Er tat es sehr vorsichtig. Er hob seinen Arm das zweite Mal und legte ihn diesmal der Frau um den Hals. Dann tastete er diesen Hals ab. Langsam. Immer nur in der Breite eines Fingers,
Der Französin behagte das. Sie bog ihren Kopf nach hinten und räkelte sich wie eine Katze, Sie bog auch ihren Leib. Sie fasste den Korrekten dabei an seiner tastenden Hand und zog sie nach vorn.
Der Korrekte schob ihr diese Hand zitternd zwischen die Brüste. Er berührte sie, er fasste auf die kleinen Brustwarzen, er keuchte dazu und war ängstlicher als ein Anfänger,
Als er die Frau aber fester umfassen wollte und seine Augen wie vor etwas Ungeheuerlichem zusammenpresste, öffnete sich plötzlich die Tür.
Der Korrekte war so erschrocken, als wenn er bei einem Diebstahl ertappt worden wäre. Er brach fast zusammen. Dann schnellte er sich hoch. Sein Kopf war so rot wie der Kamm eines Puters,
Die Augen öffnend, sah er das gelbe Gesicht der Betschwester vor sich. Sie hatte ihr Buch an den Leib gepresst und machte ihr spitzes Mausegesicht. Sie war aber sonst weder überrascht noch verlegen.
Als der Korrekte aus der Kabine stürzte, kletterte sie schon in ihren eisernen Himmel. Sie kicherte etwas. Ihr bunter Unterrock flatterte wie eine Fahne.

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