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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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III.

Nach dem Essen schlürften alle hinaus. An der Tür gab es ein Gedränge. Der dicke Holländer und der Krumme wollten gleichzeitig mit der Französin durch den schmalen Spalt. Der Krumme blieb Sieger. Er schob den Dicken wie einen schweren Sack an die Wand. Der Frau drückte er aber nur schnell die Apfelsine in die Hand, lächelte sie einen Augenblick mit seiner groben Verzerrtheit an und trat dann wieder zurück.
Hinter der Tür stockte der Vormarsch erneut. Keiner wusste, wo er hingehen sollte. Einige drängten nach oben. Das Schiff war aber überall noch kalt, wenigstens in der dritten Klasse. Alles stürzte darum nach den Kabinen. Auch die Kabinen waren nur angeheizt. Schimpfend warfen sich die Männer auf die Betten.
In der ersten Kabine lagen die beiden Brüder. Der Korrekte hatte seinen Kragen abgebunden und die Manschetten abgezogen. Die kleinen Halbschuhe schob er unter das Stahlgestell. Der Geduckte hatte nur seine Jacke abgestreift und sie unter den Kopf gelegt. Seine Stiefel lagen auf dem Bettzeug. Er versuchte zu schlafen.
„Bernd!" rief der Korrekte, der sich halb aufgerichtet hatte und seinen Bruder mit einem ärgerlichen Gesicht betrachtete, „du bist hier nicht auf der Landstraße!"
Der öffnete kaum die Lippen. „Kleiner!" knurrte er, „halt dein Maul!"
Der Kleine machte große Augen. „Bernd!" sagte er lauter, „vergiss nie, dass du ein Aufgelesener bist. Um dich ist anständige Gesellschaft!"
Diesmal stemmte sich der Große hoch. „Anständige Gesellschaft", grunzte er, und aus seinen ledernen Backen kam ein heiseres Meckern. „Quatsch! Vielleicht der kugelige Deutsche oder der runde Holländer? Keiner ist schwerer als 1000 Dollar, Außerdem tue ich, was ich will!"
Sie sahen sich an. Dem Kleinen stieg Zorn in den Kopf. „Bernd!" rief er das dritte Mal und hob seine Stimme, „willst du mir die Schande machen? Das Schiff ist keine 50-Cent-Herberge!"
Der Große meckerte noch lauter. „Wirst du feierlich, Kleiner?" antwortete er. „Spar dir das. Außerdem ist dein vornehmes Schiff kälter als jede Feldscheune."
Das Gesicht des Korrekten wurde ernst. Er verbiss aber seine Antwort. Der Große hatte sich auch schon wieder zurückplumpsen lassen, holte tief Luft und schien einzuschlafen.
Nebenan lagen die beiden Engländer und der dicke Holländer. Die Kabine hatte ein Fenster. Gelbes Licht fiel herein und bildete einen hellen, auslaufenden Tupfen. Der Krumme lächelte noch. Er lag auf dem Rücken, hatte die Beine abgezogen, zwei graue Decken über den Körper geworfen und sah nach oben.
Über ihn war brummend der Holländer gekrochen. Er schnarchte schon. Laut und dröhnend gurgelte er dumpfe Tone aus seinen aufgeblasenen Backen und zog die ausgestoßene Luft saugend und schnaubend wieder in sich ein.
Der Lange, der ihm gegenüberlag und mit steifem, zurückgebogenem Rücken an einem eisernen Bettpfosten lehnte, feilte an seinen Fingernägeln, Er betrachtete sie mit herunterhängender Unterlippe, bog sie nach allen Seiten und schien bekümmert.
Der Krumme drehte sich auf die Seite und sah ihm zu. Er spitzte immer seine Lippen, als wollte er etwas sagen. Endlich brachte er es heraus. „Henry!" zischte er leise durch seine großen Zahnlücken zu dem Langen hinüber, „sie ist doch ein verdammt schönes Weib, diese Französin!"
Der Lange sah auf. Er zog seine hängende Lippe nach oben und lächelte säuerlich. Sie fiel aber gleich wieder bekümmerter nach unten, und er feilte schneller über die schwarzen Kuppen seiner Finger.
Henry!" zischte der Krumme weiter und streckte seinen fetten Hals so weit als es möglich war zu dem Langen hinüber, du hast sie doch angefasst: Ist sie kräftig? Hat sie Brüste?"
Der Lange sah länger auf. Sein Gesicht war nach oben gezogen, und seine Augen glänzten. „John!" sagte er mit näselnder Stimme, „in sechs oder sieben Tagen bist du in Carlisle. Du solltest an Charlain denken."
„Satan!" knirschte der Krumme kurz und stierte dem Langen bösartig in die Augen. Der Lange hielt den Blick aus. Langsam zog der Krumme den Kopf zurück, wälzte sich wieder auf den Rücken und sah ernster nach oben.
In der dritten Kabine ging es lauter zu. Der Däne und der Amerikaner saßen aufgerichtet in den Kissen. Sie schimpften noch über das schlechte Essen und über die Kälte.
So eine Bande!" schrie der Belgier aus dem oberen Bett, „sie behandeln uns ja schlechter als das Vieh!"
„Sie behandeln uns wie Arbeiter!" sagte der Däne,
„0", schrie der Belgier lauter, „also deswegen die Kälte und der stinkige Fisch!"
„Ja“, brummte der Däne, „wir sollen auch in dem Kahn nicht vergessen, dass wir Arbeiter sind!"
Der Amerikaner, der seine Brille abgesetzt hatte, und dessen Augen nun groß und verschleiert aus dem bartlosen Gesicht sahen, wurde feierlich. „Die Erde ist ein Gefängnis", sagte er hart. „Und wir sind die Gefangenen."
„Verdammt!" kreischte der Belgier und hing seinen schwarzbehaarten Kopf bis über die Mitte des Raumes, wir wollen aber keine Gefangenen sein, und das sage ich euch, wir werden auch keine Gefangenen bleiben!"
Der Amerikaner setzte seine Brille wieder auf und sah den Belgier eine Weile an. Er reichte ihm dann seine Hand. „Ich komme aus dem Süden", sagte er langsam. „Ich bin Anarchist!"
„So", brummte der Belgier zurück, betrachtete den Bebrillten auch, zog zuerst seine Lippen etwas bedenklich nach oben, drückte die Hand aber doch. „Wir sind also Genossen", sagte er.
In der vierten Kabine, einem Kasten mit schiefen Wänden, herrschte die gleiche Erregung, Der Deutsche war wieder mutig geworden. Er hatte sich noch nicht hingelegt, trippelte aufgeregt auf seinen dicken Wurstelbeinen hin und her und sog an seiner Zigarre.
„Wirklich!" stöhnte er und blähte sich auf, „ich habe 105 Dollar bezahlt und will ein gutes Essen und auch Heizung. Ich bin ein amerikanischer Bürger. Ich habe eine Schreinerei in Baltimore, und ich will nicht wie jeder Tagedieb behandelt werden!"
Der Schotte, der sich gleichfalls nicht gelegt hatte und auf seiner Bettkante hockte, war noch wütender. Er sagte aber nichts. Er trommelte nur mit seinen riesigen Fäusten auf das Bett, als schlüge er einen Generalmarsch, und manchmal pfiff er einen gellenden, hohen Ton.
Ü ber ihm lag der dünne Franzose. Er hatte sich in seinen Mantel gehüllt und hustete jämmerlich. „Es ist kalt", keuchte er und krümmte sich zusammen.
Wenn er sich durch die Erschütterungen des Hustens hochstemmen musste, erschien jedes Mal sein Gesicht. Es war noch blässer als am Tisch, und die Augen saßen darin wie Feuerräder, rot und fiebrig.
Der Deutsche blieb stehen und sah ihn an. Er blickte nach dem schmalen Mund, auf dem sich rote Bläschen bildeten, und beobachtete die Backen, die einmal gelb und Die Frauenkabinen lagen seitlicher. Rechts führte ein Gang zu ihnen. Man musste an der Kabine des Hofmeisters vorbei.
In der ersten hauste die Französin. Sie hatte sich eine gelbe Strickjacke mit roten Tupfen umgehängt, hielt die geschälte Apfelsine in ihren Händen und kaute daran.
Sie wurde noch possierlicher. Sie dachte an den Krummen, an seinen zusammengedrückten Kopf und die großen Tränensäcke unter den Augen. Sie schüttelte sich und lachte doch wieder darüber, versuchte sein Gesicht nachzumachen und kicherte dabei hellauf.
Die Betschwester, die auf dem höheren Bett thronte, schien die kichernde Französin nicht zu hören. Sie hatte ihren oberen Rock hochgezogen und saß auf den roten und grünen Streifen wie auf einer Gebetsdecke.
Sie blätterte aufgeregt in ihrem kleinen Buch. Sie nickte bei jeder Seite steif mit dem Kopf nach unten, so dass ihr grauer Knoten wie der Schopf einer Haubenlerche immer auf und nieder wippte.
Nachdem die Französin nach langem Fingerabschlecken in ihr Bett hineingekrochen war und sich nun wie ein Maulwurf in ihre Decken wühlte, spitzte die blätternde Betschwester aber plötzlich die Ohren. Sie legte leise das Buch zur Seite, spitzte auch noch ihren Mund, dass sie aussah wie eine horchende Mausemutter, beugte sich aus ihrem Bett und schielte mit ihren glasigen Augen nach unten. Wirklich — das Frauenzimmer schlief.
Noch leiser tastete sie nach einer sackartigen Stofftasche, die sie über sich hinter einem Balken verborgen hatte, nahm eine große Tüte heraus, schüttete kleine gezuckerte Plätzchen auf ihren Rock und aß von ihnen. Sie tat das alles so heimlich, als wäre es etwas Sündhaftes. Stopfte das Gebäck in ihre Backentaschen, und jedes Mal, wenn sich draußen auf dem Gang etwas regte, horchte sie auf, fasste nach ihrem Buch und versuchte wieder ihr ernsthaftes, heiliges Gesicht zu machen.
Im Nebenraum wohnte die Jüdin. Sie war wie ein Sack auf ihrem Lager zusammengefallen. Unförmig wölbten einmal weiß wurden. „Mann, „sagte er und nickte dem Franzosen vertraulich zu, „dein Blasebalg ist ja nicht mehr in Ordnung."
Der Franzose sah ihn groß an, und sein Gesicht wurde noch blasser. „Ich weiß es“, keuchte er, „wenn er nur noch halten wollte. Wenigstens bis Marseille, Ich will nach Marseille."
In der letzten Mannerkabine war es still. Im oberen Bett saß der Heilige. Er sah durch das runde Auge auf das Wasser. Sein Gesicht war noch kindlicher. Sein Mund war ein wenig geöffnet, als wäre er erstaunt.
Draußen rollten in langen Sprüngen die Wellen an. Sie waren erst tiefgrün und nur als kreiselnde Flecken im Wasser verborgen. Dann sprangen sie auf, wurden zu kleinen Ungeheuern, weißgelb, schaumig. Wenn sie vom Fenster in das Wasser zurückklatschten, sah man in der Ferne noch einen Streifen Land.
Der Heilige hockte sich etwas zurück. Sein Gesicht schloss sich. Er sah auch nicht mehr hinaus. Schief hielt er jetzt seinen Kopf nach unten gesenkt, blickte auf seine dürren gelben Hände und schien nachzudenken. Sein ganzer Körper zitterte. Aber er blieb so sitzen, beugte seinen Kopf noch tiefer und bewegte die Mundwinkel. Er tat es genau so ernsthaft wie bei Tische und so, als spräche er Gebete.
Unter ihm im Bett lag ein kleiner, dürrer Russe. Er hatte bei Tische kaum gesprochen, nur manchmal sein unrasiertes, gelbes Gesicht, auf dem die Haare sich nach oben stemmten, wie bei einem Igel die Stacheln, gehoben und gelauscht. Er war unter die Decke gekrochen und schlief. Von seinem Gesicht sah man knapp die rechte Hälfte. Die war von einer großen Narbe durchzogen, die bei jedem Atemzug rot aufglühte, aber sonst klein und unscheinbar wie der ganze Mensch. Gleich über der Nase büschelte sich der Schopf, Die Stirn war ganz überwachsen.
sich ihre Schenkel nach oben, und ihr Gesicht sah im Schlafen noch breiter und rundlicher aus. Nur der große Mund war zierlich zusammengezogen. Er wölbte sich spitz, und wenn sich die Luft aus der unförmigen Brust fauchend nach oben stieß, wurde sie zwischen diesen gewölbten Lippen ein hoher, gellender Ton.
In allen Kabinen wurde nun geschlafen. Wenigstens hörte man keine Stimmen mehr, und außer dem Fauchen und Blasen der menschlichen Lungen schlitterte nur das Drehen der großen Schrauben und das Stampfen der Kolben durch das Schiff.

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