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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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XXIX.

Es war noch nicht sechs, da lief der Steward schon durch die Gänge und läutete. „Aufstehen!" rief er. „Wir sind in Southampton!"
Der Lange sprang auf. Er rüttelte den schnarchenden Krummen wach und zog sich an. Danach stieg er nach oben.
Wirklich! Das war die Küste von England! Rechts der Felsen und Wiesenblock war die Insel Wight. Links lag die Einfahrt zum Southamptoner Hafen, und was sich da hinten aus Nebel und Wasserdunst hob, war der Schornstein und Masten-Igel Southampton selber.
An dem verankerten Schiff lag auch schon der kleine Kutter, der sie nach der Stadt hinüberfahren sollte. Die Matrosen luden Koffer und Kisten hinein, und aus dem Kutter lud man dafür Gemüse und Obst.
„Ihr geht wirklich?" sagte der Franzose, der bereits seit einer halben Stunde auf dem Deck hin- und herging.
Der Lange nickte,
Der Belgier und der Däne ließen sich sehen. Sie hatten kleine Augen und schwankten noch.
„Das ist also England!" sagte der Däne, und er streckte sein aufgeschwommenes Gesicht über die Reling.
Ja, und eine seiner stachlichsten Ecken!" sagte der Franzose. „Dort!" er zeigte über das Wasser, „und dort! Das sind alles Forts und große und kleine Kanonen!"
Der Däne legte die Hand über die Augen. „Sie sehen aus wie Warzen!" sagte er.
Der Krumme stolperte zu den Männern. Er hatte die Augen noch zu, die übergestreiften Hosen hielt er mit den Händen, und auf seinem eingedrückten Kopf standen die Haare so steif wie Drahtborsten.
„Fährst du schon fort?" schrie er heiser und stürzte sich auf den Langen.
Der Franzose und der Belgier lachten. „Nein!" sagte der Lange. „Wasch dich nur erst!"
Der Krumme beruhigte sich. Er ließ sich von dem Belgier die Hosen festknüpfen und stolperte zurück.
Der nächste, der heraufkam, war der Schotte. Er hatte sich eine große gelbe Schleife umgebunden, trug einen schwarzen Rock und sah so feierlich aus wie ein Hochzeiter. „Donnerwetter!" schrie der Geduckte, der hinter ihm hergeschlichen war, „ist die Braut schon in der Nähe?"
Der Schotte kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Halt das Maul!" sagte er.
Selbst die Frauen kamen die Treppe heraufgeklettert. Die Französin war gelb, und unter ihren Augen hingen bläuliche Tränensäcke. Sie hatte sich nur einen grünlichen Mantel umgeworfen, und die Haare hingen ihr, eilig zusammengebunden, hinten im Hals.
Die Jüdin sah frischer aus. Auch angezogener. Auf ihrem großen Kopf saß ein umgeschlagener Filzhut, und an seinen Rändern baumelten rote Rosen.
„Du fährst fort?" fragte sie und trat zu dem Langen.
Der Lange, der nach dem Land starrte, drehte sich erschrocken um, als er die Stimme der Frau hörte.
„Sicher nach London?" fragte die Frau schon weiter
Der Lange schielte ängstlich nach den andern Männern. Erst als er sah, dass sich keiner um ihn kümmerte, antwortete er bissig und zischend: „Ja, nach London!"
„O!" die Jüdin schob sich näher zu ihm heran und sagte, ohne die Stimme zu dämpfen, „warum bist du nicht noch einmal gekommen? Ich habe die ganze Nacht auf dich gewartet!"
Dem Langen klappte der Mund nach unten, und er wurde so steif und weiß wie ein Wachslicht. Geh!" zischte er dann giftig und stieß sie auf die Seite.
Der Krumme kam zum zweiten Mal. Er hatte jetzt ein rot und grün getüpfeltes Tuch um den Hals, und um Brust und Bauch schlotterte ihm ein zu großer, altväterlicher Tuchrock. Hinter ihm kamen eilig der Deutsche und der Amerikaner.
Eine Glocke schlug an. Die Matrosen schoben die Laufplanken von dem Schiff zu dem Kutter, und ein hagerer Offizier jagte um das ganze Deck und schrie krächzend: „Einsteigen!"
Die Männer fielen sich noch einmal um den Hals.
„Auf Wiedersehen!" sagte der Franzose, und er patschte dem Schotten zärtlich auf die Schulter.
„Auf Wiedersehen!" antwortete der Schotte. Er winkte den andern mit dem Hut und balancierte als Erster über die Laufplanke.
Der Zweite war der Lange. Er machte große, eilige Schritte. Die Jüdin, die ihn nicht verlassen wollte, lief ihm mit kleinen, schnellen Schritten nach.
„Du!" schrie der Geduckte, der es sah, und packte den Langen am Rockschoß. „Deine dicke Liebste will mit!"
Der Lange drehte sein zorniges, spitzes Gesicht nach dem Geduckten und zerrte sich los.
Aber auch die Jüdin wurde aufgehalten. „Halt!" sagte einer der Matrosen und spannte seine Arme auseinander. „Du fährst doch mit bis Rotterdam!"
Der Krumme verabschiedete sich am längsten. Sogar der Deutsche nahm ihn in seine Arme, „Lass es dir gut gehen, du verdammter Sozialist!" sagte er. Sie hielten sich an den Köpfen und rieben sich Backen und Nasen.
Der Französin näherte er sich zuletzt.
„Weinst du nicht, dass ich fortgehe?" flüsterte er und drückte sich die Frau an die Brust.
Nein!" lachte die Französin und machte sich wieder frei.
Er drückte die Augen zusammen und zog einen Fluntsch. „Ich glaube, du bist nicht einmal traurig!" sagte er.
„Schafskopf!" antwortete die Französin. Sie lachte lauter und stieß ihn auf die Laufplanke. „Du solltest jetzt lieber an deine Frau denken!"

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