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Kurt Kläber – Passagiere der III. Klasse (1927)
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VII.

Auf dem Gang stand die Stewardess. Als sie die Betschwester kommen sah, ging sie ihr entgegen. „Guten Abend, Miss Grüngel", sagte sie freundlich.
Die Miss Grüngel lächelte säuerlich. „Guten Abend",
antwortete sie.
Der Hofmeister watschelte aus der Küche und wünschte auch einen guten Abend. Er tätschelte die Betschwester dabei unter das Kinn. „Wie geht es?" fragte er.
Die Betschwester lächelte freundlicher. „Nicht gut. Die Geschäfte werden auf jeder Fahrt schlechter."
Der Hofmeister drückte ein Auge zu und blinzelte die Frau abschätzend an. „Du wirst den Jungen zu alt" meckerte er und fasste sie derber unter das Kinn.
So", sagte die Frau spitz und entwand sich seiner fleischigen Hand. Sie sah ihn giftig an. „Kommen Sie", zischte sie dann zu der Stewardess. Sie fassten sich unter und gingen in eine Kabine.
Der Dicke, der der Betschwester gefolgt war und neben dem Hofmeister stand, stierte den Frauen mit großen Augen nach. „Fort!" sagte er leise, als sich die Tür hinter ihnen schloss.
Dem Hofmeister, der den Mann nicht gesehen hatte, blieb vor Verwunderung der Mund offen, „Männeken!" sagte er dann, machte ein ernstes Gesicht und stieß den Starrenden mit seinem Bauch in die Seite, die stehen nicht auf deinem Kostzettel!"
Der Dicke hörte es kaum. Er stierte weiter auf die geschlossene Tür und schlich sogar näher. „Fort!" wiederholte er, drehte nun aber langsam um, lief schief und etwas schwankend zu dem Kantinenhalter und ließ sich einen Schnaps geben.
Allmählich fanden sich alle vor diesem Schalter ein. Erst kam die Französin und hinter ihr der Korrekte, „Whisky", sagte die Frau und schnalzte mit der Zunge.
Der Korrekte ließ zwei Gläser kommen. Er hob das seine hoch und sah über die gelbe Flüssigkeit der Frau ins Gesicht. Die Französin hatte ihr Glas schon in den Mund gegossen, sie blinzelte mit den Augen und zeigte spitz ihre Zunge.
Sie tranken ein zweites Glas und ein drittes. Der Korrekte verbeugte sich immer aufs Neue, bevor er das seine ansetzte. Die Französin, der die Augen überliefen, tätschelte ihm dafür die Backen. Sie tänzelte um ihn herum und nannte ihn einen guten Jungen.
Der Krumme kam und schob sich dick und gewaltsam zwischen sie. Er besah sich erst den Korrekten und ließ dabei sein Gesicht zu einer Grimasse zusammenfallen, dann drehte er sich zu der Französin, bläkte die Zähne und knurrte Schimpfworte.
Die Frau witterte Gefahr. Sie griff zu dem fünften und sechsten Glas, die der Korrekte bestellt hatte, hob sie hoch, lispelte „Dickerchen" und „Freundchen", stupste das eine dem Krummen unter die Nase, rief „Prost!" und trank ihm zu.
Der Krumme war besänftigt. Er schlug die Frau auf den Rücken, bestellte auch Schnaps und die Frau trank mit ihm weiter. Sie kicherte nach dem sechsten Glas schon wie eine Betrunkene, stieß kleine Triller aus und wand sich wie eine Katze,
Der Krumme rückte ihr immer näher. Er machte Augen, als wollte er sie verschlingen, kniff sie in die Backen und fasste sie um die Brüste, „Weibchen", gluckste er dabei und drückte sein Gesicht an das ihre.
Sie wehrte ihn leicht ab. Sie fuhr ihm aber genau so zärtlich unter die Arme, kitzelte ihn, zog ihn an Ohren und Haaren und nannte ihn flüsternd: „Alterchen". Wenn der Krumme nach unten sah oder in die Kantine schielte, versuchte sie, gleichzeitig den Korrekten wieder anzulocken, winkte ihm mit den Händen und zwinkerte ihm zu.
Der kam aber nicht. Er war zu ängstlich, und so musste er mit seinem steifen und eingefrorenen Gesicht zusehen, wie der Krumme wilder wurde, die Frau gröber und sinnlicher abtastete und sie langsam in eine Ecke schob.
Der Franzose und der Geduckte drängten sich zu dem Ausschank. Auch der Amerikaner und der Schotte.
Der Franzose sprach die Frau, die sich bei seinem Eintritt mühsam von dem Krummen gelöst hatte, an. „Du fährst nach Frankreich?" fragte er.
„Nach Boulogne!" antwortete sie fröhlich und nickte
„Ich fahre nach Marseille“, sagte er — und nach einem leichten Hustenanfall — „darauf müssen wir trinken!"
Per Krumme stemmte sich vor. „Sie trinkt mit mir", rief er laut und versuchte, den Franzosen zur Seite zu schieben
Der wurde ärgerlich und stemmte sich dagegen. „Sie ist eine Landsmännin von mir", zischte er. Er wollte noch mehr sagen, aber ein Hustenanfall warf ihn beinahe zu Boden.
Der Krumme drängte trotzdem stärker gegen ihn. Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt und sah aus wie eine fletschende Bulldogge. Der Hustende konnte sich seiner kaum erwehren. Er lehnte sich gegen eine Wand und schloss die Augen,
Der Geduckte, der wie eine Spinne um die beiden herumkroch, kam ihm eilig zu Hilfe. Er packte den Krummen um den Hals und zog ihn an sich, drehte ihm dann die Luft ab, und er tat das so derb, dass das fette Kinn und der schiefe Kopf des Krummen erst rot und später bläulich wurden, und aus dem weitgeöffneten Rachen nur noch krächzende Laute kamen.
Da stützte sich der Franzose eilig wieder auf, fasste nach den Händen des Geduckten und versuchte, sie herabzuziehen, „Nicht", sagte er und unterdrückte mühsam einen netten Hustenanfall. „Nicht! Wir sind doch Kameraden, Arbeiter. Wir wollen lieber trinken!"
Der Geduckte ließ den Krummen auch gleich los. Erst spuckte der und reckte seinen Hals. Als er dann herumschnellte, um den Geduckten zu packen, stand aber der Franzose schon zwischen ihnen. „Kamerad“, sagte er noch mühsamer und fasste den Wütenden leicht an der Schulter, „ein Glas für dich und eins für das Frauenzimmer. Sei friedlich. Wir können unsere Kräfte besser gebrauchen als zum gegenseitigen Totschlagen!"
Die Frau, die ängstlich zum Ausschank zurückgewichen war und wieder nüchterner schien, kam schon mit den Gläsern angelaufen. Sie stieß den rumorenden Krummen leicht in die Seite, beugte ihren Kopf so tief, dass sie in seine nach unten starrenden Augen sehen konnte und kicherte ihn an.
Den Krummen musste das mehr beruhigen als die Worte des Hustenden. Wenigstens glätteten sich seine Stirn und das wütende Gesicht; er öffnete sogar den Mund, um ihn der Frau aufzudrücken. Die Französin schob ihm aber schnell das Glas entgegen, kippte es in den offenen Mund hinein und trank schnell das andere Glas selber.
Der Krumme trank noch ein zweites Glas mit dem Franzosen. Der lehnte wieder an der Wand und mühte sich weiter zu sprechen. „Kamerad“, wiederholte er, „wir dürfen uns wirklich nicht gegenseitig an die Kehle fahren. An der unsrigen sitzen schon zu viel andere, die uns die Luft abschneiden."
„Sieh mich an", fuhr er leiser fort. „Ich bin 35 Jahre und habe schon die Schwindsucht am Hals. Ich bin Glasbläser. Die Luft war zu heiß, Zwölf Stunden Arbeit sind auch zu viel. Aber was willst du machen? Ich habe Frau und Kinder in Marseille. Sie haben Hunger!"
„Jetzt", krächzte er auf, „wage ich seit zehn Jahren das erste Mal heimzufahren. Ich bin Syndikalist. Ich sollte Soldat werden. Schießt ein Arbeiter auf seine Brüder? Ich bin desertiert!"
„Und", begann er das vierte Mal, und sein Gesicht verzog sich schmerzlich, „ich wage die Fahrt nur, weil die Ärzte sagen, dass mir die Luft und das Gebläse in diesem Winter ganz ausgehen. Werden sie einen Sterbenden einsperren?" Er wurde weinerlich. „Bei ihnen ist alles möglich. Nun, wenn ich vorher die Frau und Marseille noch einmal sehen kann, ist es mir gleich."
Der Franzose musste einen Augenblick schweigen, der Husten kam durch das lange Reden wie eine Explosion über ihn. Der dürre Körper schüttelte sich, bog sich fast auf den Boden, und als sich der Hustende wieder aufrichtete, hatte er Speiche! und Blut auf den gelben Lippen. Er sprach trotzdem weiter.
„Kamerad!" flüsterte er und neigte sich ganz nah zu dem Krummen, „es stirbt und geht alles zu Ende. Bei mir siehst du es. Bei unsern Feinden aber auch. Es geschieht etwas in der Welt. Ich spüre es überall. Ich glaube, die nach uns kommen, müssen die Freiheit nicht mehr in der Fremde suchen!"
Der Krumme wurde gerührt von der Vertraulichkeit des anderen. Er nahm ihn fest bei den Schultern und drückte ihn gegen seine Brust. „Ja", schrie er prahlerisch und hob eines der Gläser: „Die Proleten erwachen! Es geht vorwärts! Es geht vorwärts in Pittsburgh, wo ich war, und sicher auch in Carlisle und in Marseille. Es setzt sogar schon Prügel!"
„Kamerad!" schrie er noch lauter, „du hast auch sonst Recht. Wir müssen einiger sein. Wir müssen unsere Kräfte besser gebrauchen. Alle Hiebe sollen von nun an die Dicken kriegen!"
Der Geduckte und der Däne waren nach oben gegangen. Der Schotte und der Dicke folgten ihnen. Es wurde aber nicht leerer vor dem Ausschank, die anderen traten aus dem Eßraum.
Der Heilige lief nur an den Trinkenden vorüber. Er war in sich gekehrt und schien auch in sich zu sehen. Sein Gesicht sah aus, als wäre es eine leere weiße Scheibe.
Der Belgier trat näher und trank. Der Däne, der mit dem Russen herankam, trank mit. „Auf Russland", sagte der Däne und hob sein Glas. Der Russe lächelte und goss den Schnaps hinunter,
„Bist du ein Bolschewik?" fragte der Belgier, der sein Glas ausgetrunken hatte.
Der Russe lächelte wieder. „Ich bestelle Feld. Ich hatte auch in Amerika einen Acker. Was soll ich sein? Ich bin ein Bauer."
Der Belgier machte große Augen und sah den Russen erstaunt an. „Du bist ein sonderbarer Kauz, „sagte er, „fährst zu den Bolschewisten und weißt gar nicht, was der Bolschewismus ist."
Der Russe blinzelte und zeigte dem Belgier die Zähne. „Ich hatte nichts. Ich musste den ganzen Tag für den Herrn arbeiten. Ich wurde verprügelt. Der Alte schreibt: Der Bauer ist frei geworden. Wir haben Feld. Genügt das nicht? Wer dem Bauer in Russland Feld gibt, ist gut!"
Als letzter kam der lange Engländer an den Ausschank. Er war am Tisch sitzen geblieben, um zu warten, bis die Jüdin aus dem Raum ging. Sie ging aber nicht. Wenigstens nicht vor ihm. Endlich hatte er sich aufgerafft und war zuerst gegangen.
Sie kam gleich hinter ihm her, sah ihn bei jeder Gelegenheit ernst und ruhig ins Gesicht und trat auch mit ihm an den Ausschank,
„Schnaps", näselte der Lange und ließ sich ein Glas geben.
und trank es aus. Sie trank noch ein zweites und ein drittes, ließ dann den Langen stehen und trippelte nach der Treppe.
Der Lange, den das überraschte, blickte ihr nach. Die kleinen Füße, die er zum ersten Male sah, und das Schwenken ihres Hinterteils zogen ihn an, Er fasste Mut und folgte ihr.
Auf der Treppe holte er sie ein. Er drängte sich neben sie und bog seinen Kopf auf ihren Nacken, „Was ich von dir will“, sagte er, als setzte er nur das Gespräch vom Nachmittag fort und rieb sich an ihr, „was ich von dir will? Das!" Und er versuchte seinen langen Arm um sie zu schlingen. Da sie es zuließ, wurde er stürmischer, fasste sie fester und drückte sie an sich.
An dem Ausschank wurde es noch einmal laut. Der Krumme und der Franzose wollten mit dem Russen trinken.
„Du fährst also hinüber in das Land der Freiheit", hüstelte der Schwindsüchtige. „Dass wir das noch erleben! Mein Vater war Kommunarde. Er bekam einen Schuss und flüchtete nach Marseille- Er wurde auch nie wieder ganz gesund. ,Jean, sagte er trotzdem, ,es hat den meisten von
uns den Hals gekostet, aber es war doch unsere größte
Zeit!"'
Ja, diese Russen", sagte der Däne. „Sie haben dahinten gesessen, und wir haben nur über sie gelacht. Auf einmal stehen sie auf, stürzen ihren ganzen Staat, und nun lachen sie über uns."
Der Belgier widersprach. „Was ist das besonderes?" zischte er. „Sind sie Europäer? Sie sind Russen, und Russland ist nicht Europa. Was würde aus Europa, wenn wir über Nacht die Ordnung stürzten!"
Der Franzose sah ihn sonderbar an, und sein gelbes Gesicht rötete sich etwas. „Ja“, sagte er, wir haben alle Angst. Aber nicht vor der Ordnung oder vor dem, was kommt, wenn wir sie gestürzt haben, sondern vor uns selber. Wir kennen uns. Darum erkennen wir auch die Ordnung an!
Aber," fuhr er leiser fort — das Sprechen machte ihm wieder Mühe —, „wir kennen wirklich nur uns. Auch Europa ist noch nicht faul. Der Bauer ist gesund, wo er um den Boden kämpft, und in den Städten wohnt noch dasselbe junge Proletariat wie zur Zeit der Kommune!
Was sind wir?" sagte er lauter und sah dem Belgier und dem Krummen in die Augen. „Wir sind abgenutzt! Wir sind müde und all geworden und haben uns schon an die. Ordnung gewöhnt und brauchen sie auch. Die Jungen", rief er so lauf, wie er noch sprechen konnte, „sind aber stark, sind unverbraucht, müssen diese Ordnung nicht haben, und wenn wir nichts mehr können, so sollten wir wenigstens den Mut aufbringen, an ihre Stärke und Gesundheit zu glauben!"

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