XI.
Der Sturm hatte sich gelegt, als der Tag heraufkam. Das Meer war noch nicht spiegelglatt, aber die großen Wellen waren untergetaucht, und überall, wo sie verschwunden waren, drehte sich das Wasser in tiefen, quirlenden Wirbeln.
Langsam erschien der erste Schimmer der Sonne. Der graue Himmel färbte sich, dann wurden die ersten Schaumkämme farbig, spitzten die leichte Färbung in kleinen, funkelnden Bläschen hoch und trugen sie näher.
Der Himmel wurde gelb. Gelb wurde auch das Wasser. Die goldigen Schaumkämme spritzten schon bis in die Nähe des Schiffes, tanzten hoch und schlugen Ellipsen und Kreise,
Leuchtender quoll die Färbung, Sie wurde Glut, schmolz an der Brandstätte Himmel und Wasser zusammen und lohte auf wie eine flackernde Fackel. Die kleinen Wolken entzündeten sich daran, wurden purpurn und brausten weiter, als müssten sie die halbe Welt verbrennen.
Selbst in das Wasser stürzten sie sich, brannten ihre Glut in die Schaumkämme, machten sie purpurn, wie sie selber waren, und setzten ihnen glitzernde und flimmernde Kronen auf.
Da tauchte die Sonne ganz aus der Nacht. Eine Flamme! Eine große, glühende Scheibe! Eine Feuerkugel! Ein einziges, tiefes, lohendes Gold! Licht!
Wilder hoben sich die Wellen, spritzten in die Sonne hinein, umtänzelten die zuckenden Strahlen, zogen sie in die Tiefe, spielten mit ihnen, balgten sich und versuchten sie zuzudecken. Aber die Sonne stieg stetig höher, leuchtete heller, warf Wellen und Wogen wieder zurück und durchbrannte und zerglühte sie.
Das Wasser wurde dadurch ruhiger. Es beugte sich vor der Sonne, bildete weite durchsichtige Flecken, stieg nur noch vereinzelt hoch und glättete sich zuletzt ganz.
Wie ein großer, goldiger Spiegel erfüllte es nun den ungeheuren Raum, und die kleinen, mit ihren gelben Kronen bespitzten Wellenkämme tanzten in Süden und Norden, in Osten und Westen einen feierlichen Feuer- und Flammentanz darauf.
Die Menschen auf dem Schiff schienen noch alle zu schlafen. Wenigstens hier hinten war niemand zu sehen. Erst als sich die Sonne schon wieder in kleinen Wolkenfetzen versteckte, klapperten Schritte, tönten lauter und polterten in die Höhe. Es war der Heilige.
Er kam herauf, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Sein Gesicht war weiß und verschlafen, und seine Haare standen nach allen Seiten wie Igelstacheln. Bekleidet war er nur mit einem unförmigen, dicken Mantel. Darunter hatte er nichts weiter als seine Unterkleidung. Gelb und zottlich sah sie unter dem Mantel hervor.
Er lächelte, als er das gelbe Meer erblickte, ging mit kleinen schwankenden Schritten an das Geländer und sah hinein. Dann lief er weiter nach hinten, stellte sich in eine geschützte Ecke und sah mit kleinen Augen über das Wasser. Sein Gesicht, das der scharfe Morgenwind gerötet hatte, wurde versonnen und verzückt. Er betete leise und hob in kurzen Abständen seine Hände.
Der nächste, der heraufkam, war der dicke Holländer. Zuerst sah man nur einen großen braunen Schal und einen stachligen Schopf. Dazwischen saß rot und ein wenig verquollen seine zu klein geratene, verwachsene Stupsnase.
Er war noch müder und zerschlagener als der Heilige, blieb auf der Treppe einige Mal stehen und schnaufte Luft in die Lungen. Mühsam keuchte er höher.
Das goldene, ruhige Meer betrachtete er wie einen schlechten Spuk. Er lüftete seinen Schal ein wenig, dass man nun auch seine stachliehen Backen und seine nächtliche Verquollenheit sehen konnte, spitzte die Lippen und spuckte hinein.
Dass sich der Spuk dadurch nicht legte, machte ihn bedenklicher. Er trat zurück, um nach Osten und Westen zu sehen. Als er aber überall diese brennenden Wellen erblickte, schüttelte er erschrocken den Kopf, begab sich mehr nach der Mitte des Schiffes und blieb an einem eisernen Pfosten wie angewurzelt stehen.
Der Däne und der Belgier stampften herauf. Sie waren glatt geschoren und gewaschen.
Der Däne tanzte kindlich hin und her, als er das geglättete Meer sah. „Mensch!" schrie er den Belgier an, das ist wie ein Wunder. Der große Frieden nach dem Sturm. Alles wird viel gleichmäßiger, viel ausgeglichener, viel schöner, wenn der ganze Dreck einmal von unten nach oben gestürzt wurde und die Erde Kopf stand!"
Der Belgier verzog sein Gesicht. Er schien den Dänen nicht zu verstehen. „Hast du das Meer noch nie so glatt gesehen?" fragte er.
„Sieh nur!" sprach aber der Rothaarige schon weiter, „wie wir jetzt vorwärtsschnellen! Wie wir dahinfliegen! Nichts ist mehr da, was uns aufhalten könnte!"
Der Belgier versuchte, auf den Dänen einzugehen. „Bis zum nächsten Sturm!" knurrte er eine Tonlage tiefer und hing sein Gesicht philosophisch nach unten.
„Und ist es nicht überhaupt großartig, so ein Meer!" überschrie ihn der Däne wieder, der sich auf das Geländer gestützt hatte und seinen Kopf dem Wind entgegenhielt. „In allen vier Richtungen Wasser. Nichts als gleichmäßiges, ruhiges Wasser. Und du fährst hinein. Immer vorwärts. Tage und Wochen. Kommst dem Ziel stündlich näher!"
„Ach!" schrie er nach einer kurzen Pause lauter, „in das Leben müsste man einmal so hineinfahren können. In den ganzen Schlamm der Städte und der Menschen. In ihre lumpige Ordnung. In ihre fauligen Gesellschaften, So mitten durch die ganze Menschheit. Und so mit allen Winden, mit allen Wassern, mit allen Motoren! Kamerad! Ich hinge mich morgen vor Freude auf, wenn ich es heute könnte!"
Der Belgier sah den Begeisterten spöttisch an. „Toller Hund!" knurrte er dann, „an dem ersten Schutzmann wirst du dir den Kopf einstoßen!"
Der Franzose und der Russe kamen vorbei. Sie hielten sich aneinander fest und schwankten zum Geländer. Langsam gingen sie an ihm weiter.
In der Heckrundung blieb der Russe stehen. Er reckte seinen Kopf so hoch aus dem schäbigen Rockkragen, dass der Hals wie ein dünner Strich darunter stand. Mit beiden Lungenflügeln zog er Luft ein.
„Das Wasser ist groß", sagte er feierlich und ließ sich wieder auf die Füße fallen. „Man sieht nirgends das Ende!"
Der hüstelnde Franzose, dem der scharfe Wind die gelben Backen etwas rötete, drehte sich nach ihm um. „In Marseille ist das Wasser blauer", flüsterte er leise. „Der Wind wärmer. Wir saßen alle Abende am Kai und sahen hinein."
Der Russe nickte zu den Worten des Hüstelnden. „Freund, „sagte er dann und schob sich an den Franzosen heran, „sieh, es ist, als ob ich über unser Land sehe. Russland ist auch wie ein Meer. Ohne Ende!"
„O!" rief er plötzlich lauter, „wir hatten einen alten Schäfer, der sagte: Russland ist ein großes Becken. Keiner kann es ganz umschreiten. Es reicht von Mitternacht zu Mitternacht. Wir aber sind das Wasser darin. Ein gewaltiges Wasser! Nur ein träges Wasser. Ein faules Wasser. Es müsste einmal ein Sturm kommen. Wir müssten aufgewirbelt werden. Hoch! — denn es stinkt schon!"
„Ha!" schrie der Franzose und blitzte den Russen an, „der Sturm ist ja gekommen! Das Wasser ist höher gestiegen! Und ich hoffe, es steigt noch höher. Es stürzt noch herüber zu uns. Europa stinkt schlimmer!"
Er hatte zu laut gesprochen. Ein Hustenanfall stieß sich aus seiner Brust. Der Russe fasste ihn an der Schulter
und versuchte, ihn zu stützen. Der Franzose wehrte aber ab.
„Russe!" sprach er schon weiter, und der Schaum kam zwischen seine Zähne, „dann ist bei uns Sturm! Dann rechnen wir ab. Dann hängen wir die, die bis heute uns gehangen haben! Hei! soll das ein lustiges Hängen und Totschlagen werden!"
Der Russe sah den Keuchenden groß an und versuchte zu lächeln. Bevor er aber etwas antworten konnte, sprach ein anderer dazwischen.
Es war der Heilige. Er hatte, an einem Pfosten lehnend, das Gespräch der beiden gehört. Mit einem langen Schritt trat er vor und sah den Franzosen mit weit aufgerissenen, feurigen Augen an. „Nur Gott hat das Recht zu richten!" sagte er dumpf und streng.
Der Russe war vor dieser Stimme und vor dieser ganzen unheimlichen Gestalt ein Stück zurückgetreten. Der Franzose hüstelte aber nur trocken auf, meckerte dann leise und sah in das glühende Gesicht des Heiligen hinein.
„Freund!" rief er ihn an, „ich bin nicht zu erschrecken. Außerdem pfeife ich auf deinen Gott und auf seine Rechte. Gerichtet haben, so lange die Erde besteht, immer nur die Menschen, und wir wären alle Prügel der Welt wert, wenn wir auf dieses Recht bei unserer Abrechnung verzichten würden!"
Sie maßen sich einen Augenblick, Die Augen des Heiligen wurden schon kleiner. Er trat zurück. Seine mageren Schulterknochen drückten sich wieder an den Pfosten.
Zwischen dem Geländer der Treppe tauchte der Korrekte auf. Er schien verschüchtert, sah noch proprer und gebürsteter als am vergangenen Tage aus und bemühte sich, nirgends anzustoßen.
Langsam stieg er zu dem Dänen und dem Belgier hinüber, neigte sein durch den Schnaps verquollenes Gesicht und sagte: „Guten Morgen!"
Der Belgier nickte zurück. „Hallo!" lachte er auf, „du siehst ja aus wie ein verkaterter Kranich!"
Der Korrekte wurde rot und ging weiter. Hinter dem Tagesraum stieß er auf den Holländer. Der hatte seinen Pfosten noch nicht verlassen, saß darauf, die Beine an den Leib gezogen, den Mantel über die Ohren geschlagen, und außer den großen, wulstigen Händen waren nur seine stachlichen Haare zu sehen.
„Guten Morgen", sagte der Korrekte wieder und blieb vor dem Vermummten stehen. Als sich aber die kleine Nase aus dem Mantelkragen schob und aus dem Vermummten der Dicke wurde, wollte der Korrekte eilig weiter gehen. Der gestrige Abend stieg ihm ins Hirn.
Der Dicke ließ ihn aber nicht los. Er war froh, dass sich einer seiner Verlassenheit annahm.
„Dja!" sagte er und versuchte, mit den ersten Worten ihre vergangene Nebenbuhlerschaft aus der Welt zu schaffen, „es ist eine Schande, dass wir uns wegen eines Weibes so angestellt haben!"
Der Korrekte, der dem Frieden noch nicht traute und auch nicht wusste, wo der Dicke hinsteuern wollte, nickte brav: „Ja."
Der Dicke polterte weiter. „Und ich glaube gar, „sagte er, „der eckige Engländer, dieser zusammengedroschene Hund, hat sie noch bekommen!"
„Sollte man aber wegen eines Weibsbilds, das sich mit so einem Kerl in ein Bett legt, die Finger ein zweites Mal rühren?" gurgelte er rascher- „Sollte man das?" Er schob sein Gesicht dem Korrekten bis unter die Nase und starrte ihn an.
„Nein! Nein!" antwortete der Korrekte und trat einen Schritt zurück. „Ich habe es mir selber schon gedacht. Sie hat keinen Anstand. Man beschmutzt sich mit ihr."
„Sie hat auch sonst nichts!" sagte der Dicke fröhlicher und grinste vor sich hin. „Weder hinten noch vorn. Die Mägde in Alberta und Columbia sind runder. Überhaupt!" fuhr er fort, „es ist nichts auf dem verdammten Kahn, an dem man seine Freude haben könnte!"
„Die Jüdin", wandte der Korrekte ein und sah den Dicken plötzlich blinzelnd an.
„Die ist so fett, dass man ihn ihr ersaufen würde", lachte der Dicke auf.
„Und die Betschwester?" fragte der Korrekte weiter.
„Pst!" zischte der Dicke nur und sah an dem Korrekten vorüber. Die heilige Dame ging gerade vorbei.
Sie sah spitz und angegriffen aus. Sie wirkte auch nicht so heilig wie sonst. Der Knoten auf ihrem Hinterkopf war lose zusammengebunden, und die Hand mit dem Buch, die gestern fromm auf ihrer Brust gelegen hatte, baumelte lässig nach unten.
Einer der dicken holländischen Matrosen, der Stricke einrollte, stieß sie in die Seite. Sie kicherte auf und schwankte ein wenig. Als sie aber das Gesicht des Dicken sah, das groß und erstaunt auf ihr ruhte, straffte sie sich zusammen und schwankte weiter.
Der Dicke ließ die Augen nicht von ihr. Solange sie au sehen war, blieb er stehen und lächelte. Als sie hinter dem Steuerhaus verschwand, wurde sein Gesicht aber kümmerlich und blass. Sollte er ihr folgen? Er stellte seine Nase, die etwas tröpfelte, nach oben, ja, sein ganzer Körper richtete sich auf, und er wandelte, den Korrekten mit einem sanften Ruck zur Seite schiebend, hinter ihr her.
Von unten dröhnte das Lachen des Krummen. Der Lange zog sich vor ihm durch die Luke. Zuerst erschien sein schmaler Kopf. Langsam kamen die anderen Körperteile.
Er machte sein Marabugesicht. Er war bleich und steif, und seine kraklichen Beine konnten nur kleine Schritte machen. Der Krumme sah ausgeschlafener und frischer aus. Er stieß den Langen fortwährend mit seiner Faust in die Rippen und freute sich, wenn die große Gestalt wie ein Mastbaum hin- und hertaumelte.
Das ruhige, noch immer goldene Meer entzückte die beiden. Dem Krummen öffnete sich der Mund, und er sah mit kleinen, zusammengekniffenen Augen nach allen Seiten. Der Lange stützte sich auf das Geländer und sah auch in das Wasser.
„Henry!" sagte der Krumme und schnupperte dabei mit seiner Nase, „das Wasser ist so klar wie das Wasser um England!"
Der Lange, der die Arme streckte und seinen Kopf wie eine Tauchente immer wieder in die frische Luft stemmte, hielt in seinen Bewegungen inne. „O!" knurrte er sonderbar, und sein Gesicht schob sich breit, „denkst du auf einmal an England?"
Der Krumme sah sich erstaunt um und stieß den Langen erneut in die Seite. „Ais ob ich nicht täglich an England dächte!" brummte er.
„So", sagte der Lange gedehnt. Er wollte noch mehr sagen, aber er ließ die anderen Worte hinter den Zähnen.
„John!" begann er nach einer Weile wieder, und er sprach jetzt beinahe zärtlich, „wir kommen also wirklich noch einmal zurück nach Carlisle!"
Dem Krummen verschoben sich die zusammengekniffenen Augen zu runden Löchern. „Warum nicht?" fragte er.
Der Lange antwortete nicht. „Carlisle!" wiederholte er leise. „Carlisle."
Der Krumme, der ihn plötzlich verstand, sprach das Wort mit. Er schnellte dabei seine dicke Zunge durch alle Mundwinkel, verdrehte die Pupillen und schnalzte mit den Lippen, als schmecke er den Ort bereits.
Der Amerikaner trat zu ihnen herüber. Er sah sauber aus und geputzt. Der ganze Mensch glänzte wie seine Brillengläser.
„Das ist ein Tag", sagte er laut und lächelte den Langen an. Der Lange lächelte zurück.
Als der Amerikaner den Krummen besehen hatte, wurde sein Lächeln zu einem Grinsen. „Er folgt also wieder", sagte er leise.
Der Lange beachtete den Zuruf aber nicht. Er drehte dem Amerikaner den Rücken zu und sah wieder auf das Wasser.
„Mister!" sprach ihn der Bebrillte nun an und bog sich gleichfalls dem Wasser zu, „eure Geschichte von gestern liegt mir noch in den Ohren. Es ist mir erst in der Nacht aufgegangen. Es war ja die Totenrede für die ganze obere Klasse?"
Der Engländer wusste nicht gleich, was er antworten sollte. Die Frage kam zu schnell. „O, „beeilte er sich dann zu sagen, „zweifelt ihr an meiner Litanei? Denkt ihr, ich habe euch belogen?"
Der Amerikaner schüttelte den Kopf. „Nein, „sagte er, „mir will es nur noch nicht in das Hirn. Mir fehlen die Beispiele."
Der Engländer lachte. „Das ist jeder von uns. Auch ich!"
Der Amerikaner sah ihn verwundert an und rieb sich die Handflächen. „Warum?" fragte er.
„Hu!" näselte der Lange, der sich wieder in der Gewalt hatte und legte sich weit über das Geländer, „meine Beichte ist zu lang, und sie könnte dich langweilen. Ich will dir aber etwas anderes erzählen!
Es war im letzten Sommer. Wir wohnten in Harrisberg, in einem kleinen Nest, und hatten zu sechs eine Hütte. Was — Hütte, einen Stein- und Bretterhaufen, in dem wir kaum die Beine ausstrecken konnten. Die fünf waren alte Steinbrucharbeiter aus allen Weltteilen, Kerle, so braun wie die Erde und so verwettert wie alte Eichen, aber dabei kameradschaftlich, als hätten sie schon vor ihrem Erdenleben zusammengehockt, Bett und Essen miteinander geteilt und geschwisterlich nebeneinander gelegen. Ich schneite in sie hinein, wie manchmal ein schwarzes Schaf unter weiße fällt, versuchte, mich ihnen anzupassen, aber ich kam doch keinen Augenblick aus meiner Haut!
Soll ich dir das näher erzählen?" Der Lange hielt einen Augenblick inne. „Nun, ich will es versuchen. Es gab in dem Hüttenloch einen Eckplatz, bis zu dem es weder windete noch regnete. Jeder schlief eine Woche dort. Erst ein alter Irländer und dann ein schmächtiger Neapolitaner. Später die beiden Spanier und zuletzt ein Schwede, von dem man kaum noch das Alter bestimmen konnte. Als ich in ihre Genossenschaft eingereiht wurde, bekam ich den vierten Platz. Und ich bekam ihn, ohne dass sich jemand darüber äußerte oder aufregte. Ich gehörte zu ihnen und sollte auch alle ihre Vergünstigungen haben!
Sieh," fuhr er fort und versuchte, ein klägliches Gesicht zu machen, „als ich aber die Wärme dieses Platzes spürte und seine Behaglichkeit, wollte ich am Schluss der Woche nicht wieder heraus, erreichte es auch, dass ich zwei Tage länger darin blieb, und erst am dritten schob man mich zur Seite. Wieder ohne Krach und ohne Aufregung. Einfach so, wie man einen Dreckhaufen aus einer Ecke schiebt!
Das war noch nicht das Schlimmste!" Der Lange machte eine Pause und dachte einen Augenblick nach. „Der alte Schwede ging nie mit hinaus in den Steinbruch, er blieb in der Hütte und kochte. Eines Tages, als uns das Regenwetter bis auf die Haut einweichte, schlug ich Krach. Schließlich könnte auch einmal ein anderer im Loch bleiben und nicht immer dieser ,olle' Schwede. Die vier Kameraden sahen sich an, nickten sich zu, ohne ein Wort zu sagen, und am nächsten Tag stand ich am Kochtopf. Verdammt, war das eine Kocherei. Der alte Herd rußte die ganze Bude ein, dass ich vor Rauch kaum noch sah, und das, was ich am Mittag den fünf anderen vorsetzte, war alles andere, nur kein Essen für Steinhauer. Sie ließen mich aber trotzdem noch sieben Tage weiter manschen und rauchen, und erst am achten zogen sie mich aus meiner Höhle, die ich jeden Tag mehr verfluchte, und ich war froh, als ich wieder hinter den Steinen landete. Später hörte ich dann, dass sie auch erst wochenweise gekocht hatten; als sie merkten, dass es der Schwede am besten konnte, hatten sie es ihm gern und für immer überlassen!
Das dritte Mal" der Lange zog sein klägliches Gesicht noch länger, „fiel ich aus dem gemeinsamen Rahmen, als ich über die Art des Lohnzahlens und des Einkaufens den Schnabel aufriss. Jeden Freitag kam ein Angestellter aus Harrisburg und brachte uns den Lohn. Er zahlte ihn immer im Ganzen dem alten Schweden aus, und am Samstagnachmittag ritt erst der alte Schwede mit dem Geld ein paar Schluchten weiter, kaufte für die nächste Woche ein, und was übrig blieb, wurde dann am Sonntag verteilt!
Das heißt," sagte der Engländer und lächelte, „jeder, der seinen Teil haben wollte, bekam ihn, aber der, der ihn forderte, war immer nur ich, denn die anderen ließen ihr Geld dem Schweden, wenigstens so lange, bis sie es dringend brauchten oder sich von der Gesellschaft lösten und wieder in ihr Heimatland trotteten!
Ich spukte also eines Tages und wollte mein Geld schon am Freitag ganz haben. Sie maulten weder über meine Forderung noch zog einer ein Gesicht, ich bekam mein Geld und konnte damit tun, was ich wollte. Ich ritt stolz wie ein Freibeuter damit zum Händler, kaufte selber ein, belud den gemieteten Esel vorn und hinten mit meinem Reichtum und kehrte genau so stolz in die gemeinsame Höhle zurück.
Nun, ich will nicht viel davon erzählen, wie kläglich ich schon nach der ersten Woche zu Kreuze kroch. Der Händler hatte mich erstens über die Ohren gehauen, wie man es mit jedem Grünhorn macht, das außer der Reihe bockt und seine eigenen Wege gehen will, dann wurden das Grünzeug und die Früchte, die ich gekauft hatte, schon am dritten Tage faul und welk, und bis ich richtig hinter den Schaden kam, stank auch das Fleisch. Am fünften Tage war ich ganz ohne Nahrung, und wenn mir die guten Kerle am sechsten Tage nicht aus ihrem Topf zugeschöpft hätten, wäre ich wohl am siebenten liegen geblieben und säße heute nicht auf diesem Kahn!
Halt“, sprach er nach einer längeren Pause weiter und machte ein pfiffiges Gesicht, „noch eine meiner Schandtaten fällt mir ein. Du sollst sie hören.
Jeden Monat einmal kam ein schwarzes Weib zu uns. Sie war nicht schlecht von Statur, fett, überall lief sie etwas aus, aber sonst war sie sauber und einladend. Sie machte die Runde in allen Hütten, war an jedem Sechsten in unserm Stall und an jedem Zwölften früh war sie wieder verschwunden. Auch mit ihr war alles geregelt. Erst schlief der Irländer mit ihr und dann der Neapolitaner, später teilten sich die Spanier in sie, und als Fünfter war ich zugelassen. Ich fand die Art erst gräulich, besonders als ich merkte, wie ruhig sich das alles vollzog und wie Jeder auf seine Nacht wartete, ohne den anderen zu stören. Diese Gemeinsamkeit ekelte mich sogar, besonders als ich hörte, dass die Schwarze noch in drei anderen Hütten ihre Beischläfer hatte. Aber was sollte ich tun. Es war nichts anderes da, und die beinahe feierliche und gemeinsame Art der Befriedigung schien mir nach und nach anständiger und besser als die Orgien, die ich früher in unseren Junggesellenhäusern erlebt und mit verbrochen hatte.
Aber der Mensch soll nie für sich prophezeien. Die lange Trennung von der anderen Weiblichkeit erregte langsam ein Liebesgefühl für die schwarze Schöne in meiner noch schwärzeren Seele, und ich lauerte auf sie und auf die Nacht mit ihr wie der bravste und treueste Bräutigam in Carlisle auf seine Braut. Man ließ es auch zu, dass ich mich manchmal schon am Tage mit ihr einließ, wo sie eigentlich unsere Wäsche zu waschen hatte und sonst kleine Verrichtungen tat. Als ich mich aber einmal auch nachts außer der Reihe zu ihr legen wollte und sie meine Braut nannte, ja — mich noch zu anderen und verrückteren Bekenntnissen verstieg, wurde es den guten Burschen zu bunt. Sie setzten mich für eine ganze Nacht vor die Tür, gaben mir nicht einmal meine Decken heraus, und ich konnte über meine Dummheiten nachdenken. Diese Prozedur kränkte aber mein Ehrgefühl so, dass ich am andern Morgen meine Brocken zusammensuchte, dem alten Schweden, der mir aus irgendeiner Neigung besonders gewogen war, heimlich die Hand drückte, und noch am selben Tage das Weite suchte!
Das, Mister, „sagte der Lange und drückte abschließend sein Gesicht zusammen, dass es breit und unschön wurde, „ist meine Geschichte. Genügt sie dir oder glaubst du weiter, dass meine Totenrede zu früh gehalten wurde, und die Klasse, deren Überläufer sich nicht einmal in der neuen Welt zurechtfinden, sich noch ändern und vermenschlichen kann?"
Der Amerikaner fand nicht gleich eine Antwort und versuchte zu lächeln.
Der Lange deutete das falsch.
„Mister“, sprach er schneller, „die Geschichte ist ernster als sie klingt. Mir sitzt das alles wie ein Keulenschlag im Rücken. Was sollen wir in der neuen Gesellschaft, die sich bilden muss und die sich bilden wird, wenn sich die Menschheit nicht auffressen soll. Wir sind die Wölfe in ihrer Herde, die Hindernisse in ihrem Strom, denn unser ganzes Leben besteht nur aus Egoismus, aus Verlangen nach Besitz, aus Verlangen nach persönlicher Befriedigung, und das alles klebt uns in Hirn und Leibern wie Fleisch — ist hineingewachsen, ist hineingeboren, ist hineingezüchtet!"
„O“, fiel der Amerikaner eilig ein, „ich glaube es schon."
Der Lange machte ein finsteres Gesicht und wollte weitersprechen. Da sah er, dass die Jüdin vor ihm stand. Sie hatte schon länger diesen Platz eingenommen, schaukelte sich leicht hin und her und sah mit blitzenden Augen auf seinen Mund. Der Lange brach kurz ab.
Die Jüdin wich nicht von der Stelle. Sie lächelte ihm sogar zu und trippelte näher. Bedrohlich hob sich ihre Dickleibigkeit seiner Länge entgegen.
„Sprich weiter!" sagte sie, und ihr Gesicht neigte sich zum Gruß ein Stück nach vorn und wurde freundlich. Der Lange schien aber die Sprache verloren zu haben.
Auch der Amerikaner war von der Vertraulichkeit der Dickleibigen verblüfft. Erst stemmte er sich an das eiserne Geländer und starrte die Frau von allen Seiten an, Als sie den Langen stärker bedrohte, verbeugte er sich aber plötzlich, machte noch einen zweiten, tieferen Kratzfuß und trat zurück.
„Habe ich gestört?" fragte die Dickleibige und sah dem Amerikaner erstaunt nach. Der Engländer blickte in dieselbe Richtung. Als er sein Gesicht wieder zurückdrehte, war es bedrohlich zusammengezogen. Er sah die Jüdin grimmig und knurrend an.
„Sie war gut, deine Rede!" sagte die Frau, die den Zorn des Langen spürte. Da das den Langen aber nicht besänftigte, schüttelte sie sich, dass das violette Kleid, dessen Hänger wie Stricke auf den fleischigen Schultern lagen, tiefer fiel. Groß und wie zwei überreife Melonen sahen die Brüste aus den Hemdspitzen.
Der Engländer, der Zeit gefunden hatte, sich hinter sein Marabugesicht zu verstecken, war aber auch gegen diesen Überfall gewappnet. „Madam!" sagte er nur, und seine gelb werdenden Pupillen sahen durch die Frau hindurch, „Sie sind hier nicht in Ihrer Kabine, Bedecken Sie sich wieder!" |
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