Er hätte...
Kaum ratterten am andern Morgen die Maschinen in den Hallen, da hielten sie auch schon wieder. Die Dreher vermuteten eine Betriebsstörung und suchten erfreut ihre Sitzplätze an der Fensterfront auf. An einer steigenden Unruhe in der Fabrik erkannten jedoch alle, dass die Störung andere Ursachen hatte. Arbeiter liefen durch die Halle. Unter dem einen Laufkran sammelten sich immer mehr Arbeiter und sahen zum Kran hinauf. Einige waren
von der Galerie über die Eisenbalken balanciert, denn der Kranführer Georg war ins Getriebe gekommen.
Unten an den Leitschnüren stand totenbleich und wie erstarrt der zweite Kranführer, der den Kran wahrscheinlich benutzen wollte, ohne dass er wusste, dass sein Kollege oben das Getriebe schmierte.
Immer mehr Arbeiter strömten herbei. Auch die Meister kamen aus ihrem Glashaus. Ein Junge lief ins Kontor. Er sollte nach einem Krankenwagen telefonieren. Aber von den Büroangestellten war noch keiner da. Nun lief er durch das große Tor zum Pförtner.
Inzwischen hatten einige beherzte Kollegen den eingeklemmten Kranführer befreit. Er war bewusstlos, und eine Hand hing wie tot, schlaff und weiß herunter. Bei Kopf und Füßen wurde er nun vorsichtig von zwei Arbeitern über den schmalen Eisenbalken getragen. Alles starrte mit offenen Mäulern hinauf. Ein Fehltritt, und die beiden schlugen mit dem Verletzten auf die untenstehenden Maschinen. Es war trotz der Ansammlung unterm Kran grabesstill. Auf der Galerie standen einige Schlosser und hoben den Verletzten über das Geländer. Dann wurde es auch unten wieder lebendiger. Überall wurde gleich diskutiert, wer schuld habe.
„Er hätte die Leitschnüre zusammenknoten müssen, damit der andere aufmerksam wurde!" „Er hätte überhaupt den Motor abstellen sollen!" „Kräne sollten nur in der Frühstücks- oder Mittagszeit geschmiert werden!" „Er hat selber schuld, er ist zu leichtsinnig gewesen!" „Nicht er, sondern die Antreiberei hier ist schuld, es kann denen da ja nie schnell genug gehen!"
Alle Auffassungen wurden vertreten. Der Kranführer Emil hörte zu, sprach aber selbst kein Wort; er, ein kräftiger, knochiger Mann, lehnte noch immer bleich und vom Schreck wie gelähmt am Pfeiler.
Melmster traf mit Olbracht an der Galerietreppe zusammen, und sie gingen gemeinsam an ihre Bänke. „Das Bein scheint mehrere Male gebrochen zu sein - der
Kerl war auch zu unvernünftig! Wenn die Invalidität genau nachforscht, steht es mies mit ihm!"
„Warum werden die Kräne nicht vor Arbeitsbeginn oder nach Feierabend geschmiert?" fragte Melmster.
Olbracht machte eine Bewegung mit Daumen und Zeigefinger, was soviel heißen sollte wie „Geld! - Geld!", und lächelte.
„Dann wissen wir ja also, wo die Schuld zu suchen ist."
Allmählich hatten alle wieder ihren Arbeitsplatz aufgesucht. Die Motoren wurden angestellt. Drehbänke und Bohrmaschinen liefen, und alles war wieder bei der Arbeit.
Dann aber kam das Krankenauto in den Fabrikhof gefahren. Auf einer Bahre wurde der Kranführer hinausgetragen. Er lag wie tot. Alles rannte an die Fenster, wischte sich ein Blickloch sauber und sah zu, wie der Verunglückte vorsichtig ins Auto geschoben wurde. Der Motor sprang an, und sanft und lautlos fuhr das Auto zum Fabriktor.
Als letzter stand der Kranführer Emil an der weitgeöffneten Seitentür und sah noch, wie der humpelnde Pförtner das Fabriktor schloss.
„Unfälle passieren ja täglich", Olbracht schnäuzte sich, „aber das war ein schwerer!"
Dann schien der Vorfall vergessen zu sein, auch in der Frühstückspause sprach keiner weiter davon.
Melmster quälte sich mit seinen konischen Zahnrädern ab. Während sich der Stahl in ein Zahnrad wühlte, sortierte er die übrigen nach der Güte des Materials. Einige waren so versandet, dass sie nicht zu bearbeiten waren. Als Meister Westmann vorbeikam, zeigte er sie ihm.
„Sehen Sie, langsam muss ich laufen lassen, sonst rutscht der Stahl weg!"
„Hundsmiserabler Guss!" Meister Westmann betrachtete die Sandstellen.
„Dabei komm ich mit der Zeit natürlich nicht annähernd aus!"
„Schreiben Sie das extra und reservieren Sie einen für den Kalkulator!"
Ein etwas rundliches Mädel mit üppigem rotblondem Bubikopf schritt in ihrem weißen Bürokittel forsch durch die Maschinenhalle.
Ob sie das ist? dachte Melmster und sah ihr nach.
Der Kittel war eng an den Körper geschnürt, und sie wiegte sich in den Hüften.
Wie unbewusst blickte er in die Richtung, wo der Hobler Hans arbeitete. Der schien sich nach ihm den Hals zu verrenken. Als sich die Blicke begegneten, nickte Hans mit dem Kopf. Melmster nickte wieder. Also sie war es.
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