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Willi Bredel - Maschinenfabrik N.& K. (1930)
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Der Oberkalkulator blamiert sich.

Am nächsten Tag verteilten die Funktionäre der Sozialdemokratie ihre Betriebszeitung „Die Betriebswacht". Es war ein gedrucktes Blatt, das für sämtliche Betriebe der Stadt galt. Während der Arbeitszeit gingen Olbracht und Schmachel in der Dreherei umher und verteilten sie.
„Hier!" sagte Olbracht und reichte Melmster eine hin.
„Danke!"
„Da steht aber der Name drunter - das ist nix Anonymes!" „Der Inhalt wird es wohl erlauben!" erwiderte Melmster. „Eben weil es Wahrheit ist!"
„Vielleicht auch, weil es dem Unternehmer nicht weh tut! Ich werde ja sehen!"
Wichtig gingen die beiden von Drehbank zu Drehbank. Ihr Benehmen sagte: Seht, so sind wir, so vor aller Welt verteilen wir unsere Zeitung! - Sie schienen sich auf die stillschweigende Duldung des Unternehmers noch ungeheuer viel einzubilden. Dass dies seine bestimmten politischen Gründe hatte, die sie vor der gesamten Arbeiterschaft hätten verächtlich machen müssen, kam ihnen nicht in den Sinn. -
„Hest all lesen, wat dor binn steit?" fragte der Rotkopf.
„Junge, Junge, all's gegen uns!" Melmster las: Kommunistische Schuftigkeiten! - Das Sowjetparadies! - Der Weinkeller im Zentralgebäude der KPD! - Kommunistische Spaltungsarbeiten in den Gewerkschaften! - Ein bekehrter Weltrevolutionär! - Die Blutschuld der Komintern an den Chinesenmassakern! - und zum Schluss: Wählt nur sozialdemokratische freigewerkschaftliche Kollegen in den Arbeiterrat und die Vertrauensmännerkörperschaften!
Melmster und der Rotkopf lachten wie toll. Olbracht war ganz verwundert.
„Ihr habt euch wohl vergriffen? Das ist wohl von der Antibolschewistischen Liga zusammengestellt?"
„Das sind euch wohl unangenehme Tatsachen?"
„Mensch, mach dich nicht lächerlich! - Aber wo ist denn euer Kampf gegen das Unternehmertum? - wo gegen die
Missstände im Betrieb? - wo für höhere Löhne? - wo für verkürzte Arbeitszeit? - Solche Dinger verteilt nur jeden Tag, vor dem Erfolg wird euch noch grausen. Und du wunderst dich, dass das Unternehmertum euch stillschweigend, sogar freudig gewähren lässt!" Olbracht schwieg hartnäckig.
„Hast du etwas vom Ablauf des Tarifs und unseren Lohnforderungen gelesen?" fragte der Rotkopf, der eifrig die „Betriebswacht" studierte.
„Und etwas aus den Betrieben oder gegen die kapitalistischen Halsabschneider? Warum heißt das Ding überhaupt ,Betriebswacht'?"
„Frag Olbracht!" lachte Melmster.
„Nur Hetze - alles Kommunistenhetze! Da will ich mal einige ,Freunde' ärgern!" rief er und lief davon.
Olbracht las jetzt selbst erst das Blatt, und Melmster sah, dass er mit Bleckmann und Wiesenbach zusammenstand und ärgerlich über den Inhalt der „Betriebswacht" tuschelte. Die beiden stimmten ihm zu. Ihnen war beim Lesen dieser tollen Hetze selbst nicht wohl zumute.
Es gab aber auch Witzbolde im Betrieb. In der Latrine über der Pissrinne war auch diese „Betriebszeitung" angeheftet, und darüber stand: „Betriebsnachtwächter - Kümmere dich nicht um deinen Kohldampf, Prolet, schon den Unternehmer, aber hau den Kommunisten!"
„Nun wird auch bei Ihnen rationalisiert!" kam Meister Westmann zu Melmster. „Waren nicht die Seitenflansche mit den Messingbuchsen Ihre erste Arbeit?"
„Allerdings!"
„Das wird in Zukunft Ihre Spezialität werden, die Sie auf neuer rationalisierter Basis fertigstellen sollen! Welche Zeit haben Sie noch dafür bekommen?"
„Ich weiß nicht genau, sechzehn oder achtzehn Stunden!"
„O nee! Ich hab hier die Abrechnung! Vierzehneinhalb Stunden! Gearbeitet haben Sie sechzehn Stunden! Jetzt muss es in zehn Stunden geschafft werden!"
„Ist die ganze Rationalisierung nur eine Heruntersetzung der Zeit?"
„Nicht nur!" erwiderte Meister Westmann lächelnd, „Sie bohren die Flansche, die Buchsen werden in der Automatenbank gemacht und von den Jungens eingeschlagen. Dann nehmen Sie die Flansche auf einen Federdorn und drehen sie fertig. Siebeneinhalb Stunden erhalten Sie dafür."
„Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, das ist unmöglich!"
„Es ist alles genau auskalkuliert! Sie bekommen eine Vorrichtung, an der Sie mit zwei Stählen zugleich arbeiten können!"
„Soll ich mich gleich umstellen?"
„Ja, fangen Sie gleich die Flansche zu bohren an!"
Der Rotkopf bekam ähnliche Anweisungen. Er sollte fortan Spindeln drehen, seine Bank zog am besten zylindrisch. Die Aussicht stimmte ihn ganz zufrieden, denn es war laufende Arbeit. Aber die Zeit, erklärte er, habe ein Verrückter oder ein Schneider ausgetüftelt.
Mit Hochdruck wurde jetzt im Betrieb rationalisiert. Bereits am Nachmittag hatte Melmster die berohrten Flansche wieder zurück. Er richtete nur den Federdorn aus und begann die Stähle an der neuen Vorrichtung auszuprobieren.
Da näherte sich auch schon der Oberkalkulator mit seinen Kalkulationsgehilfen. Sie gruppierten sich um Melmsters Bank und wollten ihr an Tabellen zurecht addiertes und multipliziertes Wunderwerk praktisch erprobt sehen.
Melmster nahm sich bei Anwesenheit dieser Akkordteufel selbst ein feierliches Versprechen ab, ruhig und überlegt zu bleiben, keine Hetzpsychose aufkommen zu lassen.
Er rechnete noch die Entfernung der beiden Stähle aus, als der eine Kalkulator auch schon die erste Belehrung vom Stapel ließ.
„Nehmen Sie doch ein genaues Zwischenstück!" „Haben Sie eins?" Schweigen.
Damit war die Unterhaltung fürs erste wieder beendet. Dann ließ er die Bank laufen. Mindestens acht Augenpaare verfolgten den Arbeitsvorgang. Beide Stähle setzten zugleich an. Melmster kurbelte vorsichtig. Die Stähle schnitten gut.
Der erste Flansch war zwei Millimeter zu stark. Melmster gab dem Stahl einen kleinen Schlag. Sein durch die dauernde Dreherei entwickeltes Gefühl für die Arbeit bestimmte die Schnelligkeit der Umdrehungen und des Kurbeins. So wurden einige Flansche fertig. Zwei Kalkulatoren rechneten ununterbrochen. Einige flüsterten. Es schien etwas nicht zu stimmen.
„Lassen Sie einen Gang schneller laufen, und kurbeln Sie auch ruhig schneller, die Flächen brauchen nicht direkt blank zu werden."
„Das hält der Stahl nicht aus!" widersprach Melmster. „Natürlich hält er das aus!" Melmster wusste genau, wie schwach der Federdorn war und dass der Stahl nicht haken durfte, sonst schlug der Dorn, darum sagte er standhaft: „Das ist unmöglich!"
„Es gibt nichts Unmögliches!" belehrte ihn der „Ober". „Ich will Ihnen das zeigen."
Melmster ging bereitwilligst zur Seite. „Ja, so dürfen Sie die Stähle nicht schleifen!" Er spannte die Stähle aus und ging sie schleifen.
Olbracht grinste über Melmsters Demütigung. Der „Ober" kam mit den Stählen zurück, spannte sie ein, nahm das Maß und warf den Riemen einen Gang schneller.
Melmster sah, dass der hintere Stahl viel zu niedrig eingespannt war - so musste er unterhaken -, er sagte aber nichts.
Der „Ober" drehte. Seine Gehilfen sahen ihm aufmerksam und bewundernd zu.
„Notieren Sie die Zeit!" rief er siegesgewiss und kurbelte drauflos. Fast hatte er die Flächen herunter, da rutschte der hintere Stahl unter den Flansch. Es knackte, der Stahl würgte sich ins Material, holperte über den Federdorn und verbog die leichten Federflügel. Erschreckt riss der „Ober" den eingeklemmten Stahl zurück. Er war völlig abgeschliffen, und der demolierte Federdorn schlug wie ein Lämmerschwanz.
Die Kalkulatoren standen mit aufgerissenen Mäulern dabei, hilf- und fassungslos. Der „Ober" hatte einen zum Platzen knallroten Kopf. Melmster aber erglühte bis oben hin vor Schadenfreude. „Nein, so etwas!" kam der „Ober" endlich wieder zu sich. „Der Stahl steht zu tief, nicht wahr?" wandte er sich an Melmster.
Der zuckte die Schultern.
Von den Herumstehenden war einer noch verlegener als der andere.
„Also, drehen Sie die Dinger fertig - wir werden ja sehen, wie Sie mit der Zeit auskommen!"
„Das heißt, ich muss mir erst einen neuen Federdorn drehen!"
„Ja. Ja!" nickte der „Ober", und mit langen Gesichtern schob der ganze Tross ab. Melmster jubelte. Sieg auf der ganzen Linie. Der erste Angriff war abgeschlagen.
Dann kam Meister Westmann angetrippelt und sah sich kopfschüttelnd die Bescherung an.


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