Die Klebekolonne.
Kurz vor Mitternacht brachen sie auf. Melmster war von der Streikleitung der Kolonne zugeteilt, die unter anderem auch die Fabrik bekleben sollte. Vier Arbeiter waren immer eine Kolonne. Einer trug in einer alten Einholetasche, wie sie Arbeiterfrauen zum Einkaufen benutzen, unter Zeitungspapier verdeckt, einen großen Topf Kleister. Ein anderer schleppte eine bis oben hin voll gepfropfte Aktentasche mit Flugblättern.
Es war jetzt Anfang April, und wenn auch tagsüber die Sonne schien, war der Abend noch eisig. Das war nun allerdings sehr günstig, denn die nüchternen Arbeiterstraßen waren nahezu menschenleer. Um die Ecke vom Kanal her blies der Wind, dass die Flamme im Glühstrumpf der Gaslaterne zur Seite schoss.
Melmster klapperte am ganzen Körper. Ihn fror entsetzlich. Eine bleierne Schwere lag ihm im Kopf knapp über den Augen. Aber bloß nicht schlappmachen, nur nicht krank sein. Er fühlte sich für diesen Kampf der Belegschaft stark mitverantwortlich. Würde es nicht Arbeiter geben, die dächten, er wolle sich jetzt, wo es mulmig wurde, nur drücken! Wer würde ihm restlos glauben, dass ihm hundsmiserabel zumute sei? Also bloß nicht krank sein. „Ich habe eine Idee!" Der Rotkopf, der zur Kolonne gehörte, tat furchtbar wichtig. „Wir kleben rund um die Fabrik einen geraden roten Strich Plakate. Das muss in die Augen springen und wirken!" „Nicht übel!"
„Du gehst mit deinem Kleistertopf die Fabrikmauer entlang und pinselst nur. Immer in gleicher Höhe, immer in gleicher Breite. Und wir gehen hinterdrein und klatschen ein Plakat neben das andere!"
„Und ich? Bin ich überflüssig?" fragte Melmster.
„Du schützt vor Überraschungen! Ein Pfiff genügt!"
„Vorher nehmen wir aber die Terrassen und Höfe unseres Häuserblocks, denn der rote Strich um die Fabrik wird selbst nachts mächtig auffallen."
„Fabelhaft, was!" lobte der Rotkopf selbst seinen Vorschlag. Sie trafen in den dunklen Terrassen Liebesleute, Einwohner, die spät nach Hause kamen, Passanten, die ihres Weges gingen, keiner kümmerte sich um die Plakatkleber. Und doch hieß es aufpassen. Es gab welche, die aus purem Schabernack die nächste Sipostreife den Plakatklebern auf den Hals hetzten. Man musste die Menschen, denen man begegnete, scharf beobachten, um gewissermaßen sofort aus deren Verhalten Rückschlüsse zu ziehen.
Melmster schlenderte scheinbar völlig gedankenlos und gleichgültig den Bürgersteig entlang, aber seine Sinne waren angespannt und seine Augen überall.
Währenddessen klebten die drei unermüdlich eine Torwegwand nach der anderen mit den nicht sehr großen, aber knallroten Plakaten.
War das nur ein Rad? Eine kleine, träge Funzel Licht war zu sehen. Nein - das waren drei! - Verflucht! Ein kurzer, schriller Pfiff.
Wie Schatten huschten die drei in den Torweg und von dort in die Hauseingänge. Melmster stand breitbeinig am Kantstein.
„Was pfeifen Sie denn hier mitten in der Nacht?" „Ich bin schon halb erfroren. Eine Stunde stehe ich schon hier. Ich habe meinen Hausschlüssel vergessen!"
„So was ist verflucht unangenehm!" „Das mögen Sie wohl sagen!" „Also - angenehme Nacht!"
Lachend fuhren die drei Sipos auf ihren Rädern weiter. „Danke!" sagte Melmster und lachte auch. -
Schritt für Schritt wurde der Ring Plakate um die Fabrik geklebt.
„Hier traf es den ,Gottsucher'!" flüsterte der Rotkopf.
„Ja!" erwiderte Melmster, und er dachte an den Besuch an der Drehbank, an die glasklaren Augen und die weiße, zarte Haut des „Gottsuchers", der noch wenige Minuten vor seinem Ende den richtigen Weg gefunden hatte. -
„Das gibt eine Sensation."
„Was?"
„Na, dieser rote Ring!" erwiderte gekränkt der Rotkopf. -Als wäre rund um die Fabrik mit Blut ein roter Strich gezogen, so leuchtete am andern Morgen der Plakatring. In alle Straßen schrie das grelle Rot. Keiner konnte achtlos vorübergehen. Vor den schlaftrunkenen Augen flimmerte und brannte es. Jeder sah, jeder las.
„Arbeiterblut ist geflossen!" las der Alte mit dem herabhängenden Kinn, der jeden Morgen um diese Zeit an der Fabrik vorübereilte.
„Kampf um das Stück Brot... Rationalisierung... Abwehr der willkürlichen Entlassung von oppositionellen Arbeiterräten, die mit großer Mehrheit gewählt wurden...!"
„Ja, ja!" nickte der Alte, als er weiterlas.
„Die reformistische Gewerkschaftsbürokratie paktiert mit den Unternehmern und fällt den streikenden Arbeitern in den Rücken... Wenn die Reformisten heute Streikbrecher mobilisieren, unter Polizeischutz Streikbruch betreiben und streikende Arbeiter ermorden lassen, so ist das ein Beispiel, mit welchen arbeiterfeindlichen Methoden Sozialdemokraten und die reformistische Gewerkschaftsbürokratie im Interesse des Unternehmertums gegen die Arbeiterklasse vorgehen!" Der Alte nickte und brummte etwas vor sich hin.
„Nieder... Arbeitermörder!... Reiht euch ein... Gewerkschaftsopposition... Kampf um Verkürzung der Arbeitszeit, um höheren Lohn und den revolutionären Sieg der Arbeiterklasse... Übt Solidarität!"
Mit einigen Milchflaschen unter dem Arm trat ein Sipo aus der Fabrik. Als er den roten Streifen um die Fabrik sah, machte er Stielaugen und rannte wieder zurück. Zirka acht Sipos stürzten bald darauf heraus. Der Gruppenführer bekam einen Kopf, so rot wie die Plakate.
Im Schweiße ihres Angesichts kratzten dann alle mit den Bajonetten an den Fabrikwänden herum.
Die Arbeiter, die vorübergingen, grinsten. Die Frauen aus den umliegenden Häusern lachten hell auf. Die Kinder aber, die zur Schule gingen, schrieen: „Oooh, die Sipo arbeitet!"
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