Dresen macht einen Besuch.
Am Nachmittag desselben Tages stand bereits in allen bürgerlichen Organen und in der sozialdemokratischen Tageszeitung folgendes Inserat:
Aussperrung
Seit einigen Wochen wühlen in unserer Maschinenfabrik einige kommunistische Unruhestifter, die, reichlich mit Geldmitteln versehen, eine Betriebszeitung herausgaben und immer wieder versuchten, die Belegschaft aufzuputschen und die besonnenen Arbeiter zu terrorisieren. Nun ist ihr verbrecherischer Anschlag geglückt. Ein Teil unserer Belegschaft hat den Betrieb verlassen. Die Betriebsleitung unseres Werkes fühlt sich eins mit den freigewerkschaftlichen Instanzen, die diese Treibereien auf das schärfste verurteilen und diesen Streich der kommunistischen Krakeeler einen kalten Putsch und wilden Streik nennen.
Um nun derartigen Vorkommnissen ein für allemal die Spitze abzubrechen und den besonnenen Familienvätern Lohn und Brot zu sichern, hat sich die Betriebsleitung veranlasst gesehen, sämtliche Arbeiter auszusperren und die Fabrik zu schließen.
Nach einer gründlichen Säuberung der Belegschaft von allen verbrecherischen Elementen werden wir unser Werk wieder öffnen. Alle Arbeiter, die dann wieder bei uns eingestellt werden, erhalten schriftlichen Bescheid.
Die Betriebsleitung der Maschinenfabrik Negel & Kopp
Der alte Dreher Dresen, der einundzwanzig Jahre dem freigewerkschaftlichen Deutschen Metallarbeiterverband angehörte, ging am andern Morgen zum Büro der Organisation. Die Büroräume der Gewerkschaft waren große, helle Zimmer, die kunstvoll tapezierte Wände und einen spiegelblanken Linoleumboden hatten. Hinter und zwischen den Schreibtischen standen mehrere Blumentische mit kostbaren Blumen und bizarren Kaktusgewächsen. An den großen Fenstern waren Aquarien angebaut, in denen sich Goldfische und Schleierschwänze tummelten. Der alte Dreher stellte sich an einen der vielen Schalter und wartete geduldig, bis der Kollege Gewerkschaftsfunktionär hinter dem Schalter zu ihm aufsehen und ihn nach seinen Wünschen fragen würde. Das dauerte freilich eine ganze Weile, mit einer beneidenswerten Ruhe kritzelte dieser mit dem Bleistift auf einer Kartothekkarte herum und suchte dann scheinbar etwas in einem der vielen Schubfächer des Schreibtisches. Mit der Gelassenheit und Ruhe eines regelmäßig um diese Zeit frühstückenden Menschen kaute an einem andern Tisch ein Kollege Angestellter sein Butterbrot und blätterte dabei interessiert in der neusten Nummer der „Berliner Illustrierten". Ein anderer stand in den Knien gehockt vor einem Aquarium und neckte schelmisch die Goldfische, indem er hin und wieder ans Glas klopfte und dann kicherte, wenn sich die Fische erschrecken ließen.
Dresen musste an die streikenden Kollegen denken. Hier war Frieden und Geruhsamkeit, hier musste das Wort „Kampf" ein Störenfried sein, hier war auch kein Lüftchen der Atmosphäre, die an der Drehbank und an dem Schraubstock herrschte, hier kannte man keine Stopp- und Kontrolluhren, keine Akkordhatz, keine Rationalisierung, hier stand unsichtbar über jedem Schreibtisch: „Mei Ruh' will i ham."
Der Alte wollte gerade umkehren, weil ihm der Zweck
seines Kommens plötzlich absurd vorkam, als tatsächlich der Kollege hinter dem Schalter den wartenden Dreher eines Blickes würdigte und ihn sogar nach seinen Wünschen fragte.
„Ich komm von der streikenden Belegschaft der Maschinenfabrik N. & K. und möchte den Kollegen Peters sprechen!" erwiderte ruhig der Dreher und gab sein Verbandsbuch durch den Schalter.
Zwei zusammengekniffene Augen blinzelten ihn durch die Brillengläser an. „Einen Augenblick!"
Plötzlich zuckte der Schalterbeamte jäh zurück. Er hatte sich von seinem Schreibtisch erhoben und wollte ins anliegende Zimmer gehen, als er einen kleinen Stapel Verbandsbücher etwas schief auf dem Aufsatz seines Pultes liegen sah. Sorgfältig klopfte er den Haufen Bücher zusammen und stellte ihn, mit zurückliegendem Kopf abschätzend, symmetrisch hin. Dann erst ging er befriedigt durch das Büro in einen Nebenraum.
Dresen sah sich um. Hinter ihm standen bereits vier Arbeiter. Der eine wurde schon ungeduldig und sah einige Male, leise vor sich hin fluchend, zum Schalter.
„Einen Augenblick musst du noch warten!" kam der Schalterbeamte zurück und steckte seinen Kopf durch die Schalteröffnung.
„Darauf wird man hier wohl dressiert?"
„Ich kann mich nicht zerreißen!" schrie es aus dem Schalter hervor, und zwei beleidigte und wütende Blicke trafen den Dreher.
Das erste, was dem Dreher Dresen auffiel, als er in das Zimmer des ersten Bevollmächtigten des Metallarbeiterverbandes trat, war ein riesiges Ebert-Bild in einem breiten, pechschwarzen Rahmen. Es hing dem Eingang gegenüber, und darunter saß an einem Diplomatenschreibtisch der breitschultrige Peters, aus dessen bartlosem Gesicht ein paar stahlgraue Augen hervorstachen.
„Kollege, was führt dich her? Setz dich dorthin - ja dorthin!"
Der Alte setzte sich etwas umständlich und verwirrt in einen niedrigen, gepolsterten Tuchstuhl.
„Wegen des Streiks und der Aussperrung!"
„Ja, ja - dumme Sache, Kollege, wie konntet ihr euch von den paar Jungens im Betrieb verleiten lassen und leichtfertig in einen Streik treten?"
„Ein paar Jungens?" Der Alte sah ihn ganz erstaunt an. „Elf Zwölftel der Belegschaft stimmten für Streik, Kollege Peters!"
„Ich sagte ja, ihr habt euch verleiten lassen!"
„Keiner wurde verleitet. Das ist alles Unsinn. Es blieb der Belegschaft gar nichts anderes übrig, als in den Streik zu treten, und ich bin nur gekommen, um zu erfahren, wie sich eigentlich die Leitung des Verbandes die Angelegenheit denkt!"
„Das sollte dir als altem Kollegen klar sein!" erwiderte etwas verärgert der Verbandsleiter. „Dir ist doch bekannt, dass sich unsere Organisation mit dem Unternehmerverband geeinigt hat. Der Streik bei euch widerspricht den Abmachungen, die wir nicht durchbrechen können noch wollen. Der Verband hat also mit der disziplinlosen Aktion der Belegschaft von N. & K. absolut nichts zu tun!"
„Und die Aussperrung?" fragte der alte Dreher, der den Bevollmächtigten unentwegt anstarrte.
„Ist doch nur eine automatische Folge eures wilden Streiks! - Natürlich haben wir bereits in dieser Angelegenheit mit der Firma verhandelt, aber die setzt sich aufs hohe Pferd und will nur die ihr angenehmen Arbeiter wieder einstellen."
„Ihr habt verhandelt? Davon wusste ja von uns keiner etwas!" entgegnete erstaunt der Dreher. „Nun, es war unsere Pflicht."
„Eure Pflicht?" lächelte bitter der Alte, und seine Kiefer zitterten vor Aufregung. „Eure Pflicht? Mir scheint, eure Pflicht wäre etwas anderes!"
„So, was denn?"
„Uns in unserem Kampf zu unterstützen!" schrie nun der Alte, der sich nicht mehr länger beherrschen konnte, los. „Statt dessen paktiert ihr hinter unserm Rücken mit dem Unternehmer und organisiert unsere Niederlage. Seid ihr eigentlich noch unsere Vertreter oder Unternehmeragenten?"
Der Verbandsleiter erhob sich langsam und erwiderte kaltschnäuzig: „Anpöbeleien dulde ich in diesem Zimmer nicht!"
Der Dreher hatte sich ebenfalls erhoben und starrte den ihm ruhig gegenüberstehenden Peters an. Seine Zähne schlugen hörbar aufeinander.
„Als zwanzigjährig organisierter Arbeiter würde ich vorsichtiger in meinem Urteil sein!"
„Wieso? Wieso?" brachte erregt der Dreher hervor.
„Um mir die Vorteile meiner Mitgliedschaft zu sichern."
„Was?" brüllte der andere, und er wurde blau in seinem faltigen Gesicht. „Wollt ihr mich auf die Art kaufen? Schufte seid ihr! Schufte! Betrüger und Verräter!"
Der Verbandsleiter stieß mit dem Fuß gegen die Tür, dass sie krachend aufflog. -
Am Schalter verweigerte der Gewerkschaftsangestellte dem fortwährend schimpfenden Dreher das Mitgliedsbuch und drohte mit Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Polizei.
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