Aufgeschoben — aber nicht aufgehoben!
Eine gespannte Erwartung lag über den Arbeitern, die dichtgedrängt im großen Saal bei Horning den Ausführungen Melmsters lauschten. Der Kampf der dreihundert hatte die größte Steigerung erreicht, hatte Zusammenstöße mit der Polizei und einen Toten gekostet. Was war jetzt zu tun?
Melmster stand am Vorstandstisch und zeigte in seiner klaren, ruhigen Art die Ursachen des Streiks, das elende Verhalten der Gewerkschaftsbürokratie auf und enthüllte die Hintergründe des Polizeiterrors.
Es war eine unruhige und aufgeregte Versammlung. Zahlreiche Zwischenrufe wurden gemacht. Einige wollten auf die Straße und nicht in einer Versammlung die kostbare Zeit vertrödeln. Andere wollten eine Verprügelung aller Streikbrecher organisieren. Oft schrie alles erregt durcheinander.
Wenn sich die Stürme der Entrüstung gelegt hatten, fuhr Melmster in seinem Bericht fort. Eingehend zeigte er den Arbeitern anhand der erlebten Beispiele die politische Rolle der Reformisten und der Gewerkschaftsbürokratie und erklärte die Motive ihrer Handlungen aus ihrer Schicksalsverbundenheit mit der bürgerlichen Gesellschaft. Am Schluss seiner Ausführungen machte er die Versammlung mit den Dingen bekannt, die ihm Dora Timm geschrieben hatte.
„Ich habe Nachricht bekommen", sprach er unter atemloser Stille, „dass die Betriebsleitung im Einvernehmen mit der Gewerkschaftsbürokratie und der von einem Sozialdemokraten geleiteten Polizeibehörde unter allen Umständen den Betrieb aufrechterhalten will. Dies ,unter allen Umständen' ist für unsere Klassenfeinde ein blutiger Begriff. ,Unter allen Umständen' heißt nicht nur polizeiliche Unterdrückung und Einkerkerung, sondern blutige Niederschlagung der kämpfenden Arbeiter mit allen Mitteln!"
„Die Bluthunde!" kreischte einer mit entsetzlich greller Stimme, dass es jedem durch und durch ging. Die Ruhe im Saal wurde hinterher noch unheimlicher.
„Noch ist der Zeitpunkt nicht erreicht", rief Melmster jetzt mit erhobener Stimme, „wo wir Arbeiter auf allen Fronten zum revolutionären Angriff auf die kapitalistische Klassenherrschaft losstürmen. Aber der Zeitpunkt wird kommen, der Zeitpunkt muss kommen, und jeder Kollege, der nicht das Ende des alten John nehmen will, der dieses unerträgliche Dasein für sich und seine Kinder nicht verewigen helfen will, muss kämpfen mit allen revolutionären Arbeitern in einer Klassenfront. Das ist die Lehre dieses Streiks, das ist seine Mahnung an jeden Arbeiter hier im Saal, ob er nun Mitglied der Kommunistischen Partei, parteilos oder Mitglied der Sozialdemokratie ist!"
Eine flüsternde Unruhe ging durch den Saal, als Melmster endete.
Ein Platzarbeiter erhob sich und bat ums Wort. Er sprach über Sowjetrussland und die Hetze gegen diesen ersten Staat der werktätigen Klasse. Dann las er aus einer bürgerlichen Zeitschrift Zahlen über den Lebensstandard der dortigen Arbeiter vor.
„Wir haben noch viel einzuholen, wenn wir an die Leistungen und Erfolge der russischen Arbeitsbrüder herankommen wollen!" schloss er.
Abschließend nahm Melmster noch einmal das Wort.
„Die Streikleitung hat Mitteilung erhalten, dass die Betriebsleitung nur zirka neunzig Kollegen wieder einstellen will und den übrigen die Entlassungspapiere zuschicken wird. Diejenigen nun, die eine Aufforderung bekommen, die Arbeit wieder aufzunehmen, müssen dies tun. Sie haben aber die Pflicht, die revolutionäre Arbeit im Betrieb weiterzuführen. Auch der ,Rote Greifer' muss weiter erscheinen. Kollegen, sechzehn Tage gegen den Dreimächteblock Unternehmertum - Reformismus - Polizei zu kämpfen und tagelang den organisierten Streikbruch zu verhindern ist eine unvergleichliche Leistung. Es ist uns gelungen, während des Kampfes die Reformisten im Betrieb gründlich zu entlarven und einem gemeingefährlichen Betriebsspitzel das schmutzige Handwerk zu legen. Zahlreiche Arbeiter sind, angeekelt von der niederträchtigen, verräterischen Politik der Kühne,
Schmachel und Fahs und der reformistischen Metallarbeiterbürokratie, in die Front des Klassenkampfes gestoßen und haben sich der RGO angeschlossen. Von den dreihundert streikenden Kollegen hat jeder einzelne seine volle Pflicht getan. Nach dem Streik wird die revolutionäre Arbeit im Betrieb nicht aufhören. Die Streikleitung hat bereits diesbezügliche Zusicherung erhalten.
Auch nach der Niederdrückung unseres Kampfes durch die ungeheure Übermacht muss jeder Kollege seine revolutionäre Pflicht auf einem anderen Frontabschnitt im Klassenkampf weiter erfüllen. Todfeindschaft der Barbarei der kapitalistischen Klassenherrschaft! Todfeindschaft der arbeiterfeindlichen reformistischen Bürokratie! Es lebe der Kampf um die Herrschaft der Arbeiterklasse und den Sieg des Sozialismus!"
Brausend stimmten die Arbeiter Melmster zu. Wie ein Mann erhob sich die Versammlung.
Mit lauter Stimme rief Melmster in den Saal: „Dann erkläre ich im Auftrag der Streikleitung den Streik der Belegschaft der Maschinenfabrik von N. & K. für beendet!"
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