Der Betriebsobmann mit der Kastratenstimme.
Karl Kühne, der Betriebsratsobmann, war ein hünenhafter Kerl. 1,90 Meter mochte er groß sein, und der eiförmige kleine Kopf saß auf breiten, fastwaagerechten Schultern. Er schien sich bei seinen körperlichen Ausmaßen und seiner Funktion auch außerordentlich wichtig vorzukommen, denn er bewegte sich langsam und gravitätisch. Er war Anreißer, und seine Anreißplatte stand gleich hinter der Meisterbude zwischen den Maschinen. Ein großes Gussgehäuse stand hier, und der Riese bearbeitete mit Winkel, Maß und Reißnadel die angekreideten Stellen. Dabei war ihm seine außergewöhnliche Körpergröße so hinderlich, dass er meistens in geduckter Stellung vor seinem Arbeitsstück stand.
„Kollege, hast du die Zeichnung E sechsunddreißigvierund-zwanzig?"
Melmster suchte eine Zeichnung, die hier liegen sollte.
„Sieh mal nach, dort unter den andern!" piepste der Riese mit einer fisteldünnen Stimme, dass Melmster ihn förmlich entsetzt anstarrte. Der riesengroße Mensch schien zu begreifen, was in dem andern vorging, wurde rot und beugte sich noch tiefer über seine Arbeit. Melmster aber stellte fest, dass er außer dieser Altjungfernstimme auch noch große, helle, aber etwas einfältige Augen hatte.
Er fand seine Zeichnung, sagte es und wollte gehen, da rief ihn der piepsende Riese zurück.
„Kollege, wo hast du zuletzt gearbeitet?"
„Ich bin als Reparaturdreher zur See gefahren."
„Du bist ja schon ziemlich lange im Verband!"
„Ich war in der Arbeiterjugendbewegung", war Melmsters ganze Antwort.
„Kommst du mit der Zeit zurecht?"
„Sie scheint nicht an der Drehbank, sondern nach Tabellen errechnet zu sein. Die Arbeit selbst ist nicht so aufregend!"
Melmster beobachtete, wie der Betriebsrat ihn fortgesetzt groß und stur ansah. Er tat so väterlich gütig und so intelligent wie möglich und wollte Autorität erobern, er war doch Betriebsratsobmann, und da er im Zweifel war, ob der „Neue" es überhaupt schon wusste, konnte er es sich nicht verkneifen, es so scheinbar nebenbei zu bemerken.
„Ich weiß bereits", sagte Melmster gleichgültig, und der Riese zuckte ordentlich zusammen...
„Sie haben an den Flanschen neunzehn Stunden gearbeitet", kam Meister Westmann mit dem Akkordzettel zu Melmster, „das wird wohl nicht stimmen I"
„Doch, ich bin erst heute etwas nach zehn Uhr fertig geworden."
„Na, Menschenskind, dann haben Sie ja nichts verdient. Haben Sie nicht die Bank eingerichtet, als Sie sie übernahmen?"
„Jawohl!"
„Also schreiben wir vier Stunden Bankeinrichten, dann haben Sie doch wenigstens etwas!"
Melmster wusste nun, wie hier die Akkordpreise gehalten wurden. Im Kalkulationsbüro hieß es jetzt, sogar die Neueingetretenen verrechnen bei der ersten Arbeit schon zehn Prozent.
In den Nachmittagsstunden war an den letzten Drehbänken eine Brüllerei, die den Lärm der Maschinen übertönte. Besonders der Dreher mit dem Bebelspitzbart fuchtelte erregt mit den Armen in der Luft.
„Das ist Schmachel, der sich mit dem Kommunisten unterhält", grinste Olbracht.
„Wer ist denn der Kommunist?"
„Der Junge dort mit der gespaltenen Nase. - Der Drittvorletzte!"
„Aber warum brüllt denn der andere so?"
„Das ist Politik", grinste Olbracht gemein. Politik, dachte Melmster und wurde daraus nicht schlau.
Der Spitzbart brüllte weiter, bis der Meister kam, dann fuchtelte er diesem mit den Händen vorm Gesicht herum und schien sich gar nicht beruhigen zu können.
Melmster hatte konische Zahnräder zu bearbeiten. Es war ekelhaftes, sandiges Material, kein Stahl war scharf zu halten. Auf einem Gang langsamer ging es dann schließlich leidlich. Sinnend sah Melmster, wie sich der lange, dünne Bohrstahl federnd ins Material arbeitete. Plötzlich wurde ihm der Sinn der Brüllerei klar. Die schlagen also Lärm, damit alles auf den Kommunisten aufmerksam wird und dieser dann bei der nächsten Gelegenheit seine Papiere erhalten kann. Und alles bewusst und überlegt. Eine Gemeinheit. -
Als Melmster nach Feierabend glücklich ein Waschbecken ergattert hatte und sich wusch, trat der Hobler Hans an ihn heran und sagte: „Ich geh mit dir längs!"
„Weißt du", sagte er dann, als sie auf dem Wege zum Versammlungslokal waren, „wir haben eine Sympathisierende (er sagte es immer statt Sympathisierende) im Kalkulationsbüro.
Eine frühere Jugendbeweglerin. Sie macht auch die Protokolle der Verhandlungen des Arbeiterrats mit der Firma und hat uns schon manchen Tipp gegeben. Wir kennen jedes Wort, das oben gesprochen wird." „Das ist ja glänzend I"
„Aber wir können nie richtigen Gebrauch davon machen, sonst ist sie natürlich kompromittiert. Es ist gewissermaßen nur zur Information!"
„Wissen alle davon?"
„Nee, nur Kerge und Drohn!"
„Das braucht auch weiter keiner zu wissen!" Inzwischen waren sie durch einige Straßen gegangen.
„Hier an der Ecke ist es", sagte dann Hans.
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