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Willi Bredel - Maschinenfabrik N.& K. (1930)
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Die Polizei schießt.

Um sechs Uhr drückten sich am andern Morgen schon die ersten Streiker in den Eingängen und Terrassen der um die Fabrik liegenden Häuser herum. Es war ein windstiller, milder, aber nebliger Morgen. In den Straßen war es noch menschenleer. Die festen Schritte eines Arbeiters, der über die Kanalbrücke ging, hallten in den Straßen wider. Hin und wieder flammte Licht hinter den Fenstern der Wohnhäuser auf. Langsam kroch der alltägliche graue Morgen in diesem Proletarierviertel heran.
Melmster, der Hobler und der Rotkopf kauerten in einem Treppenflur. Ihnen gegenüber lag in der nebligen Morgendämmerung die Fabrik. Melmster fror und hatte sich ganz in einen alten Mantel verkrochen. Noch hörte man in der Ferne die Schritte des einen Arbeiters.
„Der ,Gottsucher' und der Schweißer Georg stehen drüben in der Terrasse!"
„Und noch ein Dritter!"
„Ja, am Ende des Häuserblocks kriechen auch einige herum!"
„Gut, dass es nicht kalt ist!" „Mich friert abscheulich!" „Du bist eben krank!"
Von irgendwoher schlug es halb. Es schien so, als wenn nur wenige Arbeiter inzwischen hinzugekommen wären. Es war überall still. Jetzt aber gingen schon mit dem morgendlich müden Gang mehrere Arbeiter die Straße entlang und über die Kanalbrücke. Ein junges Arbeitermädel mit schlafgeschwollenen Augen hastete am Hauseingang, in dem die drei standen, vorbei. Ein Rollwagen fuhr langsam, aber geräuschvoll in der Nebenstraße. Der Nebel wich kaum.
„Dort an der Brücke, der Schmied!" zeigte der Rotkopf mit der Hand.
Vor der Kanalbrücke war ein Torweg, hier standen mehrere Arbeiter. Der muskulöse Schmied Hennings war unter ihnen gut zu erkennen.
Im Nebenhaus bellte wütend ein Hund. Stimmengewirr erklang dazwischen. Vier bis fünf Arbeiter traten aus dem Hausflur heraus, und ein Einwohner, der mit einem Hund die Treppen herunterkam, sah sich erstaunt nach ihnen um. Wie die Minuten langsam dahinkrochen...
„Das grüne Bäckerauto!" rief der Hobler.
„Jetzt aufpassen!"
Gleich musste die Uhr drei Viertel schlagen. Würde der Pförtner wie an den Arbeitstagen sorglos das Tor öffnen? Durch den Nebel konnten die drei nur auf der andern Seite, in unmittelbarer Nähe des Fabrikeingangs, die beiden Streikposten patrouillieren sehen.
„Hörst du?"
„Was?"
„Der Pförtner!"
„Unsinn!"
„Doch!"
Ein Geräusch war zu hören, als wenn ein Schlüssel in einem großen Schloss rumorte.
„Halt! Hier wird gestreikt!" brüllte eine Stimme, und als sei es ein Signal, strömten aus den umliegenden Häusern und über die Straße zahlreiche Arbeiter auf den Fabrikeingang zu.
Der Schlosser Berlitt, der an diesem Morgen Streikposten war, stand dicht vor einem Arbeiter und verweigerte diesem den Eingang in die Fabrik. Es war der Dreher Schmachel. Mit aufgerissenen Augen starrte er die auf ihn eindringenden Arbeiter an.
„Hast du gehört, hier wird gestreikt!" Schmachel war keines Wortes mächtig. Unschlüssig stand er da und sah, als begriffe er das Ganze nicht, um sich.
„Gestreikt! Gestreikt!" schrie ihm ein Arbeiter in die Ohren.
„Ich fühle mich euch nicht verpflichtet!"
„Was? - Was? - Du Kanaille!" schrie es um ihn her.
„Du wirst es bald fühlen!" pflanzte sich ein baumlanger Schlosser vor ihm auf, „und zwar, wenn du nicht schleunigst kehrtmachst!"
In diesem Augenblick drang ein Geschrei von der Brücke herüber. „Hilfe! Hilfe!"
Von der Fabrik aus konnte man nicht viel sehen. Einige Arbeiter rannten über die Brücke. Der ganze Platz vor der Fabrik wimmelte jetzt von Arbeitern.
Plötzlich schrie lang anhaltend die Fabriksirene fünf Minuten vor sieben. Ein hundertstimmiges Gebrüll aus Arbeiterkehlen war die Antwort. In der Straße brodelte es. Die Fenster der umliegenden Häuser wurden aufgerissen, und verschlafene Gesichter sahen heraus. „Kollegen!"
Der Hobler hatte sich auf einen Absatz der Fabrikmauer geschwungen. „Kollegen! Wir wollen absolut keinen Krawall entfesseln, sondern nur die Streikbrecherlumpen verjagen und unsern Streik schützen. Sämtliche Kollegen bleiben hier als Streikschutz, aber jeder verhält sich ruhig, keiner darf sich provozieren lassen!"
Scharenweise patrouillierten die Arbeiter vor der Fabrik auf und ab. Dann heulte die Sirene sieben Uhr. Diesmal wurde die demonstrative Mahnung des Unternehmertums mit Gelächter beantwortet.
Eine Sipostreife kam und forderte die Arbeiter zum Weitergehen auf.
„Hohoo! - Hohoooo!" war die Antwort, und keiner wich. Der alte Dreher Dresen ging an die Sipos heran und erklärte, dass sie lediglich Streikposten ständen und soeben nur einige Streikbrecher verjagt hätten. Der eine ältere Wachtmeister blickte sich um, sah sich von einem Dutzend entschlossener Arbeiter umringt. Er lächelte vor Verlegenheit. Die beiden anderen erwiderten: „So, so! - Ja, ja!"
„Was war an der Brücke?" fragte Melmster.
„Der Schmied!" beantwortete der Hobler die Frage.
„Und wer?" bohrte Melmster weiter.
„Wen meinst du?" lachte Hans. „Den Goliath!"
„Den?" Melmster vergegenwärtigte sich die Ausmaße des Ex-Betriebsratsobmanns.
„Hat Hordenkeile gekriegt!" knüpfte der Hobler belustigt an Melmsters Ausspruch an. „Und hoffentlich saftig!" Melmster tat noch ganz verwundert.
„Überhaupt ist der feige wie ein altes Weib!"
„Guten Morgen, Genossen!"
„Guten Morgen!" grüßten die beiden den „Gottsucher". „Das hat doch famos geklappt, nicht wahr?"
„Das kann man wohl sagen!"
„Und wie viele gekommen sind! Auch die Lehrlinge haben wir sämtlich wieder nach Hause geschickt!"
„Die waren doch sicherlich nicht ärgerlich darüber?"
„Nein, gewiss nicht!" lachte der „Gottsucher".
„Was ist denn das?" schrie der Rotkopf und zeigte nach vorn.
In rasendem Tempo kam ein großes Polizeiauto die Straße heruntergejagt. Kurz vor der Fabrik stoppte es hart. Sämtliche Arbeiter drängten sich instinktiv zusammen. Ein paar kurze Kommandorufe, dann sprangen etwa drei Dutzend Sipos vom Wagen, und unter dem Ruf des leitenden Offiziers „Straße frei!" rückten sie gegen die Arbeiter vor.
Mit Gebrüll und Gejohle wurden sie empfangen. Nach einigen Rempeleien zogen sich die Streikenden geschlossen bis zur Kanalbrücke zurück. Die Polizisten besetzten den Fabrikeingang. Alles war eine Angelegenheit von Minuten.
Dann fuhr ein zweites Polizeiauto heran und hielt direkt vor dem Fabrikeingang. Eine Anzahl Arbeiter stiegen heraus. Als die Streikenden auf der Brücke Olbracht, Kühne und Schmachel unter den Streikbrechern erkannten, durchbrachen sie mit Geheul die Postenkette und fielen über sie her. Eine wilde Schlägerei entstand. Der Schmied Hennings brach wie ein Berserker in die Gruppe der Streikbrecher ein und schlug wie wild um sich. Der Schlosser Fahs stürzte lang zu Boden, und über ihn wälzte sich ein in sich verkrampfter Knäuel prügelnder Menschen.
Die Sipos waren im ersten Augenblick vor Erstaunen wie gelähmt, jetzt hieben sie blindlings mit ihrem Gummiknüppel nach allen Seiten hin. Aber immer mehr Arbeiter wurden in den Tumult hineingerissen.
Plötzlich kreischte ein Offizier: „Achtung, es wird geschossen!"
Einige stoben auseinander. Der Menschenknäuel löste sich. Drei Sipos rissen den Schmied hoch und wollten dessen Arme nach hinten schrauben. Der aber wehrte sich wie toll. Der eine Sipo zog einen Revolver, aber bevor er richtig anlegen konnte, taumelte er, durch einen Tritt in den Unterleib getroffen, zurück. Als sich der Revolver dabei entlud, sank plötzlich unter den zurückweichenden Arbeitern der „Gottsucher" laudos zu Boden.
Durch den Schuss waren die Polizisten selbst erschrocken.
Der Schmied riss sich los und verschwand unter den übrigen Arbeitern.
Melmster und der Hobler packten vorsichtig den „Gottsucher" und trugen ihn in das nächste Treppenhaus. Das sowieso blasse Kerlchen sah mit aufgerissenen Augen entsetzt auf Melmster. Er wimmerte leise und hielt sich mit beiden Händen den Hals.
Als Melmster die Hände um den Hals etwas zu lösen versuchte, sickerte dünnes Blut hervor. „Genosse Melmster!" flüsterte wimmernd der Tischler. „Was denn, Ahrnfeld?"
„Ich möchte doch so gern der Partei beitreten!" hauchte er. „Natürlich, das kannst du ja auch!"
Melmster lächelte gewaltsam, und das schmale Kindergesicht des Tischlers lächelte zurück. -
Auf der Straße wurde gebrüllt. In den Häusern, an den Fenstern schrieen die Frauen. Der Verkehr staute sich, und die Arbeiter, die durch diesen Lärm aus allen Straßen herbeigelockt wurden, schwollen zu Massen an.
Am Fabriktor stand die Sipoabteilung. Rundherum in dichten Scharen wogte eine Kette erregter Arbeiter.
Mit dem bekannten schrillen Signal nahte ein Krankenauto und hielt vor dem Fabrikeingang. Der Streikbrecher Fahs wurde auf eine Bahre gelegt und in das Auto geschoben. Als das Auto abfahren wollte, stürzte Melmster aus dem Treppenflur und brüllte: „Halt! Halt!"
Das Auto hielt. Vorsichtig wurde der bleiche Tischler, dessen Finger sich noch immer um den Hals krallten, ins Auto neben den Streikbrecher geschoben.
Wie eine Mauer standen die Arbeiter um die Fabrik. Ein befreiendes Geschrei erscholl, als die Streikbrecher wieder auf das Polizeiauto verladen wurden und über die Kanalbrücke, von Schmährufen der Arbeiter begleitet, davonfuhren.
Eine kleine Abteilung Sipo marschierte ins Kontor der Fabrik, die übrigen fuhren dem ersten Auto nach. -
Die Streikfront war nicht erschüttert. In der Fabrik drehte sich kein Rad. Aber Blut war geflossen. Arbeiterblut.


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