VIII
Böß' Plan war gelungen. Unter Tage hockten die Hauer und Lehrhauer in den Rutschenbetrieben wie angespannt an den Maschinen. Sie durften keine Pause machen, um ihr Brot zu verzehren; Kohle musste raus. Alle Unproduktiven waren aus den Kohlenbetrieben heraus. Was vor Kohle saß, war jüngeres, frisches Hauermaterial.
Die Pferde waren fort. Maschinen rasten mit der Kohle durch die Strecken, durch den Querschlag, donnerten durch den Füllort am Schacht hin, koppelten die vollen Wagen ab und die leeren an und rasten wieder in die Reviere zurück. Neben den Zügen rannten die Bahnläufer her, die sich die Reviersteiger zur Kontrolle über die Fahrer angestellt hatten.
Im fünften Revier war es der Muralla, ein stumpfsinniger, grobschlächtiger Bursche. Muralla machte es den Maschinisten so sauer wie möglich; denn er lebte in der Einbildung, er sei ein Beamter. Er bekam einen niedrigen Schichtlohn, rannte sich hinter den Maschinen die Zunge aus dem Hals und hatte die Vergünstigung, zuweilen länger in der Grube bleiben zu dürfen und eine Überschicht zu machen.
Böß hatte unten am Schacht maschinelle Vorrichtungen eingeführt, die gestatteten, einen Teil der bisherigen Schlepper zu entlassen. Starke Eisenhebel schoben die leeren Wagen von den Förderkörben herunter und die vollen auf die Förderkörbe hinauf.
Über Tage liefen Kettenbahnen, vom Schacht zu den Rollkippen, auf der Brücke nach den Bunkern und Halden hin. Acht Stunden in einer Förderschicht rollten die Wagen ununterbrochen voll Kohle durch Strecken, Querschläge, auf die Förderkörbe, in die Kettenbahnen - ein unendlicher Zug voll Kohle.
Das Schachtgebäude dröhnte, die Brücken dröhnten, die Bunker donnerten. Fördersignale, tief und schrill, Lokomotiven, Waggon um Waggon auf Dutzenden Schienensträngen. Kohle krachte hinein. Auf die Halden, die einen großen Teil des Zechenplatzes füllten, stürzte Wagen um Wagen frischer Kohle.
Böß bewachte den Gang der Förderung mit geschäftigen Augen, denen nicht ein Mangel verborgen blieb. Seit der ersten Förderstunde stand er auf der Hängebank, gab dem Brückenaufseher Waise Anweisungen, jagte hinter den Arbeitern her: brüllte, strafte, prüfte das Maß der Förderwagen, ließ die schlechtgefüllten umkippen, die Kohlennummer feststellen, wenn Steine in der Kohle vorgefunden wurden. Böß war überall in der Förderung.
Böß' Apparat klappte vorzüglich. Obwohl er die Belegschaft in den letzten zwei Jahren von zweitausendachthundert auf eintausendsiebenhundert Mann rationalisiert hatte, war die Förderziffer nicht gefallen; im Gegenteil, sie war gestiegen. Böß war jedoch noch nicht zufrieden. Er beobachtete die Maschinen, verglich sie mit den Menschen, die unten und oben in der Förderung arbeiteten. Die Menschen gefielen ihm nicht, die Maschinen dagegen besser. Maschinen arbeiten auf einen Hebeldruck. Er hatte von ihnen keinen Widerspruch zu erwarten. Die Menschen in der Förderung widersprachen noch. Er hätte gern auch aus ihnen stumme, Rädchen in Rädchen greifende Maschinen gemacht...
Über dem ganzen Gebiet an der Ruhr liegt der Geruch von Kohle. Wo man hinblickt, sieht man Förderturm an Förderturm, Schachtanlage an Schachtanlage, deren Gelände voll Kohle. Züge um Züge voll Kohle rollen ins Land.
Vor Meinerts Wohnung liegt der Rangierbahnhof. Meinert hört jeden Tag die Züge voll Kohle vorbeischnaufen. Er selbst hat keine Kohle. Alle, die in der Ludwigsgasse wohnen, sind arbeitslose Bergleute und haben keine Kohle, obwohl sie auf Zeche »Hoffnung« jahrelang Kohle gehauen haben. Sie besitzen nicht eine Schippe voll für ihren Bedarf. Ihre Kinder kriechen auf den Eisenbahndämmen umher und kratzen den Kohlendreck zusammen, der von den Waggons fällt. Sparsam wirtschaften die Frauen mit den so erworbenen Schätzen; denn in den Buden der Ludwigsgasse ist es im Winter unheimlich kalt und ungemütlich.
Unterhalb der Kolonie, in der Nähe der alten Schlackenhalden, liegt die Müllkippe. Dorthin hasten täglich Hunderte von Männern, Frauen und Kindern, um Holz und Kohlen zu suchen.
Dreihundert Meter abseits qualmen die hohen Kohlenberge der Zeche »Hoffnung«. Man darf nicht heran, es ist verboten. Wer es wagt, wird bestraft. Böß hält zur Bewachung der Kohle Wächter und Hunde.
Meinert war das Kratzen auf der Müllkippe leid geworden. Seine Notwohnung lag unterm Dach, war feucht und voll Schwamm in den Stubenecken. Seine Kinder kränkelten fortwährend, hatten eine Farbe in den Gesichtern wie die der fahlen Tontöpfe, die mit den vertrockneten Pflanzen auf der Fensterbank standen. Die Kinder erinnerten an welke Blumen, waren wie jene ohne Sonne und Licht. Es fehlte ihnen Nahrung und Pflege.
Meinert sah täglich zu den Kohlenbergen der Zeche hinüber. Wie komm ich da heran? dachte er. Er schlich oft um die Halden herum und suchte nach einer geeigneten Stelle, wo er gelegentlich durchkriechen konnte, und besprach sich einmal mit ein paar Arbeitslosen. Sie waren damit einverstanden, hatten nur ein Bedenken: die Wächter!
»Ganz egal«, sagte Meinert, der sich's in den Kopf gesetzt hatte, einmal vernünftige Kohle zu brennen, »wir wollen's mal versuchen!«
Sie besorgten Säcke und gingen nachts, nach elf Uhr, los. Von Zeit zu Zeit lauschten sie die Umgebung ab, ob sich irgendwo ein Wächter hören ließ, und kletterten über die Mauer. Meinert schlich voran, die andern zwei ihm nach. Sie füllten ungestört die mitgebrachten Säcke voll der schönen Kohle. Meinert war dabei zumute wie einem Goldgräber, der plötzlich auf den lang ersehnten Schatz stößt.
Der Rückweg war umständlicher. Sie schleppten zu zweit die Säcke bis zu der Mauer, während der dritte aufpasste. Dann packten alle drei an und warfen die Säcke einen nach dem andern über die Mauer und kletterten selbst hinüber. Sie durften mit der Kohle nicht über die Straße gehen, sonst fiel es auf, und außerdem konnten sie von der Polizei gesehen werden. Nach einem schwierigen Weg über Felder kamen sie ungehindert nach Hause.
Sie beschlossen, am nächsten Abend noch einmal zu gehen.
Es war rabendunkel, als sie, vor Aufregung nassgeschwitzt, zum zweiten Mal über die Mauer stiegen. Sie lauschten erst und schlichen wieder zu dem Kohlenhaufen. Das Füllen der Säcke ging ungestört vonstatten. Sie schleppten wieder die Säcke zur Mauer und waren im Begriff, sie hinüberzuwerfen, da kam vom Fördermaschinenhaus her ein Hundelaut.
»Still«, flüsterte Meinert. Sie warteten ab. Der Wächter war nicht zu sehen, aber das Hundegekläff kam näher.
»Der Hund kommt!« rief einer entsetzt und sprang auf die Mauer. Meinert und der dritte wollten nicht die Säcke zurücklassen, sie versuchten, diese noch schnell über die Mauer zu werfen. In langen Sätzen kam ein großer Hund heran und fiel über Meinert her, der im letzten Moment noch die Mauer erklettern wollte.
Meinert stürzte von der Mauer zurück auf den Zechenplatz. Der Hund verbiss sich in seinen Arm.
Meinerts Begleiter hatte in der Aufregung nach einem Stück Eisen gegriffen und schlug damit auf den Hund ein. »Halt!« schrie jemand aus dem Dunkel heraus. Es war der Wächter, der im Eilschritt hinter dem Hunde herkam.
»Bleib da, oder ich hau zu!« schrie Meinerts Begleiter dem Wächter entgegen. Der Wächter stutzte, besann sich aber schnell und griff nach seiner Pistole. »Hände hoch!« rief er und legte an.
Sobald sich einer der beiden bewegte, sprang der Hund mit einem Satz zu und biss sich fest.
Auf den Pfiff des Wächters rannte noch ein zweiter Wächter herbei. Auch der hatte einen Hund und eine Pistole. »Los, mit!« befahl der erste Wächter. Meinert und der andere mussten mitgehen.
»Los!« brüllte der eine Wächter und stieß Meinert, der zögerte, ins Gesicht. »Wir geben's dir, von wegen klauen.«
Auf der Polizeiwache wurden sie verhört. »Wie oft haben Sie schon Kohle gestohlen?« vernahm sie ein Kriminalbeamter.
»Wir haben nur ein paar Stücke genommen!« »Genommen - nicht gestohlen?« Der Kriminalbeamte bebte vor Lachen. »Das Nehmen wird Sie wohl ein paar Monate kosten, Freundchen!«
Man hielt die beiden vorläufig fest.
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