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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXIII

Der Knappschaftsarzt Doktor Bernau hatte die Hauskranken unter sich. Morgens um zehn Uhr war sein Wartezimmer voller Patienten. Obwohl sich Doktor Bernau mit allem Eifer dranhielt, sie abzufertigen, wurde der Warteraum nicht leer. Immer wieder humpelten und hüstelten frische Zugänge auf der Treppe.
Jaschinski war auch darunter. Er musste fast drei Stunden warten, bis er an die Reihe kam. Doktor Bernau hieß ihn sich ausziehen. Er untersuchte ihn peinlichst genau. »Na, meinetwegen«, sagte er am Schluss seiner Untersuchung zu Jaschinski, »wir lassen Sie noch ein paar Tage zu Hause. Vielleicht bis zum Letzten, und dann können Sie wieder arbeiten gehen!«
Bis zum ersten Oktober waren noch drei Tage. Jaschinski fühlte sich sehr schlapp und zitterte schon jetzt vor der Arbeit, die ihn im Pütt erwartete.
Drei Tage später ging er wieder zu Doktor Bernau. Der schrieb ihn gesund.
»Das weiß ich, dass Sie sich noch nicht kräftig fühlen«, sagte Doktor Bernau, »ich weiß es, das bringt jede Krankheit nach sich. Was soll ich aber erst mit denen machen, die noch kränker sind als Sie? Die Knappschaft kommt mir auf den Kopf, wenn ich Sie noch länger krankfeiern lasse.«
»Wenn es noch wenigstens acht Tage ginge!« bat Jaschinski.
»Das geht auf keinen Fall!« erklärte Doktor Bernau, »in einer Zeit, wo jeder zweite Mann einen Krankenschein hat! Ich schreib Ihnen einen Vermerk für leichtere Beschäftigung!«
Damit gab sich Jaschinski zufrieden. Wenn er leichtere Arbeit verrichten durfte, dann war es nicht so schlimm, und er würde sich wieder einarbeiten.
Jaschinski begab sich mit dem Krankenschein zum Pütt und meldete sich damit bei seinem Reviersteiger.
Bein sah ihn erstaunt an. »Leichtere Arbeit? Mann jetzt muss jeder ran!«
»Ich kann aber noch nicht vor Kohle!« sagte Jaschinski betroffen.
Bein hieß ihn einen Moment warten und ging mit dem Schein zu Böß ins Büro.
Auch Böß schüttelte den Kopf. »Das gibt's nicht. Entweder vor Kohle oder raus. Invaliden haben wir genug!«
Bein teilte das Jaschinski mit. »Sie können aber mittags Steine verpacken gehen!« sagte er nach kurzem Überlegen.
Jaschinski kam voller Sorgen nach Hause, erzählte seiner Frau, dass man für ihn keine leichte Arbeit hätte. »Beim Steineverpacken ist's ebenso schwer«, klagte er verzagt, »ich möchte am liebsten in den Sack haun!«
»Tu, was du willst!« sagte sie gleichgültig.
Jaschinski schlich den ganzen Nachmittag, bis spät in den Abend hinein, wie ein Schatten umher. Nirgends fand er Ruhe. Er ging in den kleinen Stall hinter dem Haus, saß dort auf einem Hauklotz und grübelte. Er stand auf, ging in die Küche, hockte sich ans Fenster hin, stierte teilnahmslos auf die Straße, grübelte. Stand auf, zog den Rock an, setzte sich die Mütze auf, ließ sich vorn auf der Treppe nieder, grübelte. Er wusste nicht ein noch aus. Die Furcht vor der schweren Arbeit hetzte ihn ruhelos hin und her.
Am nächsten Mittag fuhr er ein. Unten am Schacht traf er den Mittagssteiger, bei dem er sich zu melden hatte. Der schickte ihn in die neunte Rutsche. Die Rutsche förderte wieder Kohle. Im Querschlag traf er Dränger, der aus dem Revier kam.
»Gottverdammich, Fritz, biste wieder da?« sagte Dränger erfreut, »ich hätt keinen Groschen mehr um dich gewettet!«
»Ich bin noch nicht ganz in Schuss!« erwiderte Jaschinski. Er ließ sich von Dränger über das Unglück erzählen.
»Mann, kannst von Glück reden, dass du nicht mehr drin warst, als die Geschichte passierte!« sagte Dränger.
»Ja, bestimmt, ich hatte Glück!« freute sich Jaschinski.
»Alle Kumpels, die drin waren, sind tot!« erzählte Dränger.
»Wenn ich nur aushalt!« seufzte Jaschinski, der an die Steinarbeit dachte.
»Mach nur keinen Unsinn, und jag dich nicht wieder so ab!« ermahnte Dränger; sie trennten sich.
Jaschinski kam ans Steineschleppen in der Kippstrecke. Er quälte sich eine Stunde lang. Mit dem fünften Wagen kam er nicht weiter, blieb damit in der Strecke stehen und bekam ihn weder mit der Brust noch mit dem Rücken auch nur einen Meter vorwärts. Er hockte sich neben den Wagen und döste.
Ein anderer Schlepper kam. »Mensch, du kannst hier nicht schleppen«, sagte der ärgerlich, »sag doch dem Steiger, er soll dich raus tun, wenn's dir hier zu schwer ist!«
Der Steiger schickte Jaschinski, der es ihm meldete, in die Rutsche, Steine verpacken.
Jaschinski kroch in das Feld. Er versuchte mit seiner schwachen Kraft, den Steinhaufen, der sich vor dem Rutschentrichter türmte, zu bewältigen.
Die Luft im Bergeversatz war sehr heiß und machte ihm das Atmen schwer. Er war in Schweiß gebadet und klebrig von dem Steinstaub, der sich dick auf seinen nassen nackten Körper setzte.
Oben in der Strecke krachten die Wagen um. In der Rutsche sausten ununterbrochen die Steinmassen herunter. Der Steinhaufen wurde immer größer. Jaschinskis Hände waren schon längst wieder wund. Die Schippe entfiel ihnen vor Ermattung.
Die Rutsche schrammte und setzte aus, weil die Steine zu hoch aufgelaufen waren. Jaschinski warf die Schippe beiseite, stierte den Steinhaufen an und klagte: »Es hat keinen Zweck!«
Der Steiger kroch zu ihm hin, sah, was los war. »Wenn Sie wissen, dass Sie die Arbeit nicht tun können, dann hätten Sie noch feiern sollen!« brummte er ärgerlich.
»Ich kann ja nicht dafür, wenn mich der Arzt gesund schreibt«, entschuldigte sich Jaschinski.
Der Steiger schickte ihm einen zweiten Mann zur Hilfe, sagte: »Aber nur heute, morgen müssen Sic zusehen, wie Sie allein fertig werden. Ich hab keine Leute übrig!«
Von der neunten bis zur achten Sohle war ein Blindschacht durchgehauen worden. Die Förderung der oberen Teilstrecken ging durch den Blindschacht. Die Leute der dort nächstliegenden Rutschen hatten es zum Blindschacht bedeutend näher, mussten jedoch fünfzehn Eisenfahrten klettern, weil die Seilfahrt auf dem Förderkorb für Leute verboten war.
Jaschinski ging nach Schichtschluß mit den Kumpels hin. Er stieg nach ihnen die rostigen Fahrten hinunter zu der neunten Sohle. Nach den ersten drei Fahrten befiel ihn ein Zittern in den Knien, und es wurde ihm schwarz vor Augen. Erschrocken klammerte er sich mit beiden Armen um die Sprossen der Fahrten und wartete eine Weile, bis die Schwäche vorüber war.
Als Jaschinski auf dem Förderkorb saß, nahm er sich vor, die nächste Schicht nicht ohne den zweiten Mann zu arbeiten. Es war das erste verzweifelte Aufflackern eines Widerstandes in ihm.

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