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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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VI

Die Betriebsrätewahl hatte stattgefunden. Böß hatte die Leute der Belegschaftsliste entlassen.
Dors Reger, der Obmann, unternahm nichts gegen die Entlassung, weil er befürchtete, dass die Belegschaftsliste ihm die Stimmen fortholen würde. Er rechtfertigte sich vor den Kumpels damit, dass er gegen eine Kündigung wegen Betriebseinschränkung nichts unternehmen könnte, weil er dazu keine gesetzliche Handhabe hätte. Dors Reger hielt sich streng an das Betriebsrätegesetz.
Nur Dränger, der nicht auf der Liste stand, weil er erst vor wenigen Monaten auf Zeche »Hoffnung« in Arbeit getreten war und nach dem Gesetz kein Anrecht auf die Kandidatur hatte, blieb verschont.
Die vierzehn Entlassenen reichten beim Arbeitsgericht eine Klage ein. Sie wurde abgewiesen, weil die Kündigung gesetzlich rechtmäßig vonstatten gegangen war.
Balasz hatte vier Kinder. Die Arbeitslosenunterstützung war gering. Die Miete für die Koloniewohnung musste gezahlt werden. Das Geld reichte nicht aus. Er bekam eine Räumungsklage, wurde zur Räumung der Wohnung verurteilt. Der Wohnungsverwalter erbot sich, ihm einen Notraum in der Ludwigsgasse bereitzustellen. Es waren entsetzliche Löcher, die Wände quer gerissen, stickig und eng...
Es war Lohntag auf der Zeche. Die Kumpels fuhren aus der Grube, säuberten sich unter den Brausen und eilten zu den Büroschaltern, um ihre Abschlagscheine und Lohnbücher zu holen. Die Gedingeregelung durch die »Fliegenden Kolonnen« hatten es zuwege gebracht, dass die Lohnbücher größtenteils das »Bleibt schuldig« zeigten und auf den Abschlagscheinen recht geringe Summen standen. Wenn sich einer aus den »Fliegenden Kolonnen« sehen ließ, ging es von allen Seiten los: »He, Schrapper, hast wieder einen Blauen verdient?«
Auch Jaschinski bekam es zu hören. Er schlich zum Schalter, nahm seine achtzig Mark Abschlag und den Restlohn, verbarg das Geld ängstlich vor den empörten Blicken der andern Kumpels, und mit gesenktem Kopf verließ er das Gebäude. Das Geld machte ihm keine Freude. Nicht einen Kumpel hatte er, der ihn freundlich ansprach. Das kränkte und demütigte ihn.
In der Wirtschaft Kreibel war Hochbetrieb. Die Kumpels gingen hinein, zahlten ihre Schulden und tranken sich einen an auf den Dreck.
Auch Jaschinski begab sich hinein. Er ließ sich an der Theke einen einschütten, trank ihn unter dem Gespött der anderen Kumpels aus und verschwand sofort wieder.
Dränger traf ihn unterwegs. Jaschinski klopfte in Verlegenheit, ohne aufzusehen, seine Pfeife aus.
Dränger rief ihn an. »Na, Jaschinski, hast dir's überlegt?«
»Ich möcht schon raus, aber die Alte, weißt du...« In Jaschinskis Gesicht erschien der alte hilflose Ausdruck. »Und dann hab ich auch Angst, von wegen der Kündigung!«
»Mensch, du haust dich durch die Wühlerei noch zum Krüppel«, sagte Dränger und blieb stehen. »Weißt du, was wir heute für Geld gekriegt haben?« und er nannte Jaschinski die Abschläge und Restlöhne einiger Kumpels.
»Ich möcht gern aus dem verdammten Pütt raus«, klagte Jaschinski. »Wo krieg ich aber Arbeit?«
»Es nützt dir keine Flucht«, sagte Dränger, »du musst dich entschließen, mit den andern Kumpels wieder in Ordnung zu kommen, deren Meinung du kennst!«
»Ich möcht ja schon, aber ich kann nicht aus der Kolonne!«
»Ich sag es dir, du kommst schon raus, wenn dich Böß nicht mehr nötig hat!« sagte Dränger, der einsah, dass Jaschinski keinen eigenen Willen besaß.
Die Kumpels der sechsten Rutsche lehnten sich wegen der schlechten Flözverhältnisse und des herabgesetzten Wagenlohns auf.
»Wir wollen mal sehn, ob es hier wirklich so schlimm ist!« sagte Schacke zu den Hauern. »Wenn ich hier die Kolonne hineintue, werden Sie staunen, was hier für eine Kohle rauskommt!«
Die »Fliegende Kolonne« kam hinein. Hoi! hieß es kohle raus!
Drei Förderschichten über Soll. Die Kolonne wurde herausgetan, und die alte Kameradschaft kam wieder in die Rutsche hinein.
»Sehn Sic«, triumphierte Schacke, »spielend leicht haben wir unsere Kohle gekriegt!«
»Warum haben Sie denn die Leute nicht drin gelassen?« fragten die Kumpels.
»Damit ihr faulenzen könnt?« sagte Schacke. »Das fällt mir nicht ein!«
Es war ein einziger Bruch, das ganze Kohlenfeld. Man konnte sich ohne Lebensgefahr nicht vor die Arbeit wagen. Überall bröckelte es und musste erst gründlich ausgebaut werden, wenn es ohne Unfälle abgehen sollte.
Schacke saß den Hauern auf, lag lange in den Kohlenörtern und passte auf, was die Hauer machten. Es kam ihm zu wenig Kohle. Er verlangte, dass erst Kohle rausgehauen werden sollte; dann könnten die Hauer noch genug bauen.
»Schluss!« sagte ein Kumpel und schleuderte seine Lufthacke fort. Das hatte Schacke gehört. Der Hauer musste sofort die Rutsche verlassen.
Die andern stellten aus Protest die Förderung ein. Ein robuster Lehrhauer geriet in Zorn. »Und wenn Sie nicht gleich aus dem Loch gehen, dann passiert noch was«, sagte er zu Schacke, der sie durchaus zum Fördern zwingen wollte.
Schacke zog es vor, aus der Rutsche zu kriechen. Die Entschlossenheit der Kumpels machte ihn unsicher.
Während der nächsten Förderschicht versuchte er es im Guten: »Leute, ich kann doch nicht anders, als was man mir bestimmt. Los, fördert endlich eure Kohle, sonst muss ich euch alle dem Alten melden!«
Der Hauer förderten wohl, jedoch nur das, was sie konnten. Schacke holte zum zweiten Mal die »Fliegende Kolonne« herbei. Jaschinski kroch in das ihm zugewiesene Kohlenloch hinein. Sckacke legte sich neben ihn hin. »Dran, Jaschinski, zeigen Sie denen mal, was Sie können!«
Jaschinski bemerkte, dass ihn der Steiger schief ansah, und verschwieg das, was er sagen wollte.
Die Wühlerei begann von neuem, Schacke trieb hartnäckig, weil die Kolonne auch nicht mehr so recht von der Stelle kommen konnte. In jeder Schicht ereignete sich etwas, was die Förderung behinderte. Die Rutschen rissen auseinander. Der Motor versagte, weil man das Schmieren unterließ. Die Leitungsrohre wurden undicht, mussten geflickt werden. Immer kam etwas vor, und Schacke bekam Tobsuchtsanfälle.
Er stieß bei allen Kumpels auf den heftigsten Widerstand, sobald er von ihnen die durch die »Kolonne« festgesetzte Leistung verlangte. Einige Kumpels zerschlugen verzweifelt mit dem schweren Hammer ihre Maschine, um nicht fördern zu brauchen. Alle verlangten entschieden, dass die Raubbauarbeit der »Fliegenden Kolonnen« eingestellt werde.
Dies bekam Böß zu hören. Er ließ die Hauer feststellen, die den Protest angeregt hatten, und kündigte ihnen.
Schacke bekam trotzdem seine Förderung nicht und musste die »Fliegende Kolonne« in der sechsten Rutsche belassen. Das Fördersoll, das nach ihrem Tempo errechnet worden war, wurde ihnen nun selbst zur Qual. Als die Leute der »Kolonne« merkten, dass sie in der Rutsche verbleiben sollten, verdrückte sich einer nach dem andern und nahm einen Krankenschein. Trotz Bitten und Protesten bei Schacke gab es für die »Kolonne« keine andere Arbeit mehr.
Nun war es mit dem guten Lohn zu Ende. Hatten sie während ihrer flotten Zeit sechzig, siebzig und neunzig Mark Vorschüsse erhalten, bekamen sie nun, weil  die
Rutsche sechs am schlechtesten im Gedinge stand, vierzig, dreißig und nicht selten nur zwanzig Mark Abschlag.
»Mein Gott, Mann, was fällt dir denn auf einmal ein?« fragte Frau Jaschinski ihren Mann voll Schrecken. »Was bringst du mir denn für ein Geld nach Haus?«
»'s ist aus«, sagte Jaschinski, »wir sind jetzt in einer festen Arbeit!« Er war in den letzten Tagen immer mehr zusammengeschmolzen; denn in der Rutsche sechs war es sehr heiß, und er musste dran, wenn er nicht mit trockenem Brot zur Schicht gehen wollte.
Er zerbrach sich den Schädel darüber, wie er nur aus der schlechten Arbeit herauskommen könnte, und versuchte es noch einmal mit Briefen an seine Bekannten. Einige Kumpels schrieben zurück. Die Briefe brachten ihn zur Raserei, er zerfetzte sie und warf sie in den Kohlenkasten.
Das Ferkel, noch keine hundert Pfund schwer, musste verkauft werden. Das Geld, das Jaschinski verdiente, reichte nicht aus; denn sie hatten ja an ihrer Küche abzuzahlen, das waren dreißig Mark im Monat. Auch die Ziege musste dran glauben.
Jaschinski tröstete sich mit den Kaninchen, die er sich auf den Rat eines Kumpels zugelegt hatte. Das Mutterkaninchen hatte ein paarmal Junge geworfen. Die kleinen Dinger sprangen so lustig umher und entschädigten ihn für den Ärger, den er im Pütt hatte. Er gedachte eine Riesenzucht anzulegen und schwärmte von einer Kaninchenfarm, die er später bauen wollte. Aber er musste bald ein Kaninchen nach dem anderen für Frau Jaschinskis Kochtopf hergeben, weil sie gezwungen war, sich mit dem Geld mehr und mehr einzuschränken.
Die gute Butter, der gute Bohnenkaffee, den er während seiner Arbeit in der »Fliegenden Kolonne« mit in den Pütt bekommen hatte, fielen fort; auch der Wurstbelag. Frau Jaschinski kaufte Margarine und »Gemischten«, später nur noch »Kornfrank« für die Kaffeepulle, der im Pütt eine ganz ekelhafte Brühe wurde. Das Essen wurde immer fleischloser, der Lohn schlechter und die Arbeit verrückter.
Jaschinski fluchte noch schrecklicher, als die Kumpels geflucht hatten, denen er früher die Arbeit und die Löhne hatte verderben helfen.

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