XXXV
Lotte war mit bei dem Sturm auf die Zeche. Sie hatte, seit Ausbruch des Streiks, jede Stunde ausgenutzt, um die Frauen zu sammeln, und rannte müde von Versammlung zu Versammlung. Montag kam sie spät heim. Sie zog ihre Kleider nicht aus, warf sich, so wie sie gekommen, übers Bett und schlief mit schweren, stöhnenden Atemzügen.
Es regnete ununterbrochen. Der Regen klopfte gegen die Fenster.
Lotte glaubte, einer der Kumpels hätte geklopft, und rief: »Ja, warte, ich komm!« Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, sprang aus dem Bett und ging ans Fenster. Ihre Hand schob die Gardine beiseite: »Wer ist dort?«
Keine Antwort.
Nur rabenschwarze Nacht. In den Gossen rauschte der Regen, »'s ist, scheint's, noch früh!« sagte Lotte, legte sich wieder und schlief von neuem ein.
Jemand klopfte mit seinem Fingerknöchel gegen die Scheibe und rief: »Lotte, es wird Zeit!«
Das war Scheck. Es sollten vor Beginn der Arbeit für die Streikbrecher Flugblätter in die Häuser gebracht werden.
Lotte sprang auf: »Ich komm schon!«
Der Schmutz knatschte in ihren schlechten Schuhen. Sie wickelte sich fest in das Tuch ein, das sie des Regens wegen mitgenommen hatte, und schritt tapfer neben dem stummen Scheck den dreckigen Feldweg daher. Der Regen klatschte nur so herab, durchnässte sie bis auf die Haut.
»Macht nichts«, sagte die Lotte, als Scheck sie besorgt ansah. Sie sagte nicht, dass sie fror.
Sie klopften an die Türen der Kumpels. »Auf, nach der Zeche hin! Streikposten stehen!«
Dann brachten sie die Flugblätter in die Häuser, wo sie Streikbrecher oder Zaghafte vermuteten. Hier und dort wurde noch einer zum Streikpostenstehen herausgeklopft.
Als Lotte und Scheck mit ihrer Arbeit fertig waren, schlichen sie mit einigen Kumpels zwischen einzelnen Polizeiposten hindurch und stellten sich unweit der Zeche im Dunkel der Bäume auf. Vereinzelt huschten die Streikbrecher vorüber. Sie wurden angehalten und beredet.
Ein Schatten drückte sich im Dunkel vorüber.
»He, du!« Lotte hatte ihn auch schon am Rock. »Wo willst du hin?«
Ein Fauststoß traf Lottes Brust. Sie taumelte gegen den Eisenzaun, besann sich aber schnell, riss unter ihrem Tuch einen Gegenstand hervor und schlug zu. Der Mann schrie auf und rannte zur Straße zurück.
»Das war wieder der alte Saufkerl, der Dinta!« erzählte Lotte den Kumpels, die in ihrer Nähe Streikposten standen und hinzukamen.
Dinta kam mit einem Polizisten im Laufschritt an.
Lotte warf den Gegenstand über den Zaun und blieb stehen. Dinta zeigte auf sie. »Ein Eisenstück hat sie!«
»Blöder Hund!« sagte Lotte und hatte Lust, ihm ins Gesicht zu hauen. Der Polizist griff nach ihren Händen. »Was machen Sie hier?«
Lotte schob ihn zurück. »Ich will ein bisschen frische Luft haben!«
»Sie haben den Mann mit einem Eisenstück geschlagen. Wo haben Sie das Eisenstück?«
»Der Kerl ist besoffen!« antwortete Lotte.
»Los, Sie gehen mit zur Wache!« sagte der Polizist und zerrte sie am Arm fort.
»Hoppla, mein Junge, immer gemütlich!« sagte Lotte und kratzte ihn mit ihren scharfen Nägeln.
Der Polizist pfiff. Ein zweiter Polizist rannte herbei. Zu zweit brachten sie Lotte zur Wache.
Lotte wurde durchsucht. Man fand nichts. Dinta war mit nach der Wache gefolgt und beteuerte: »Sie hat mich mit einem Eisenstück geschlagen!«
»Ich hau dir eins in die versoffene Fresse, dann hast du ein Eisenstück, du Streikbrecher!«
»Hast mir den Kopf aufgehauen!« wütete Dinta.
»Du bist besoffen, rennst im Dunkel gegen die Zäune, wegen deiner Kurasch!«
Dinta stieß ihr vor Wut ins Gesicht. Lotto schlug mit der geballten Faust zurück. Drei-, viermal, blitzschnell hintereinander. Die Polizisten mussten die beiden auseinanderreißen, so hatte sich Lotte in den Dinta verkrallt.
»Wart, du rote Sau! Ich rechne mit dir noch ab!« drohte Dinta.
»Und ich mit dir!« erwiderte Lotte.
Lotte blieb bis Mittag auf der Wache. Sie hockte auf der Pritsche und horchte auf den Regen, der draußen herunter prasselte. Sie schlief ein, glaubte einen Fingerknöchel zu honen, fuhr auf - warte, ich komm schon! -, sie wurde vollends wach, sah die Schutzleute und wusste, dass kein Kumpel sie gerufen hatte.
Nachmittags wurde sie freigelassen und suchte sofort den Scheck auf. »Alles in Ordnung?«
»Man hat uns wieder von der Zeche runter getrieben!« erzählte Scheck.
Nachmittags eine Versammlung. Abends eine Versammlung bis spät in die Nacht hinein. Ein Kurier hatte einen Packen Flugblätter gebracht, die sollten schon früh am nächsten Morgen in die Häuser.
Abends gegen zehn Uhr saß Dinta mit einigen angetrunkenen Burschen bei Schleihmann. Sie berieten flüsternd.
»Weißt du bestimmt, dass niemand bei ihr ist?« fragte einer der Burschen.
»Sie ist bestimmt allein!« flüsterte Dinta. »Ihr Nachbar, der Rogger, der stört uns nicht. Und sollte er sich melden, dann haut ihm auch 'n paar drauf!«
»Abgemacht!« sagte einer der Kerle und erhob sich schwankend.
»Im Notfalle halt ich einfach drauf!« sagte ein zweiter und lachte roh.
Dinta gab noch einige Runden aus, und sie verließen die Schenke.
Ein Kumpel, der mit in der Wirtschaft saß, hatte Dinta und seinen Freunden zugehört, machte sich darüber seine Gedanken. Er wusste nur nicht, um wen es sich handelte, weil kein Name genannt worden war. Unwillkürlich fiel ihm die Lotte ein. Er begab sich zu ihr und erzählte ihr das eben Gehörte.
Lotte lachte. »Der wird sich hüten! Das wagt er nicht, hierherzukommen!«
Trotzdem war sie wachsamer und nahm ein Küchenmesser zu sich, um sich im Notfalle wehren zu können. Sie lag wie in der vergangenen Nacht angekleidet auf ihrem Bett, lauschte hinaus, bis die Müdigkeit sie übermannte.
Es klopfte gegen ihr Fenster. Sie dachte, es wäre der Scheck, stand auf und horchte hinaus. Nichts. Sie legte sich wieder hin.
»He, Lotte!«
Lotte schüttelte den schweren Schlaf von sich und reckte sich. Sie wollte ans Fenster. Ein harter Schlag knallte gegen die Holzumrahmung. Scheibenstücke spritzten ihr ins Gesicht. Lotte begriff und duckte sich blitzschnell. Ein schwerer Stein krachte durch die Scheiben gegen die Wand. Noch ein zweiter Stein und noch ein dritter Stein. Lotte kroch auf Händen und Knien bis zum Fenster hin. Sie tastete unter das Kopfkissen, umspannte mit der kräftigen Hand das Messer und wartete.
Draußen hörte sie hastiges, halblautes Sprechen. Sie erkannte Dinta.
»Los, klettert hinein!« hörte sie.
Lotte hielt den Atem an, denn es scharrte unter ihrem Fenster. Sie schob sich rechts hinüber an die Wand und richtete sich auf. Das Scharren wurde stärker, ihr Herz wollte
vor Aufregung aus der Brust springen, sie sah, wie sich ein Kopf durch das Fenster schob, holte mit dem Messer aus und stieß zu. Der Mann am Fenster ächzte, und sie sah, wie er zurückfiel.
»Die Hure hat ihn gestochen!« hörte sie noch und gleich darauf das Geschrei der Rogger, die von ihrem nächtlichen Geschäft aus der Stadt kam.
Auch in den übrigen Buden erscholl Lärm, und Lotte, die halb ohnmächtig am Fenster zusammengesunken war, erhob sich zitternd und sah, wie einige Männer, quer über das Gelände an der Schlackenhalde fortrannten.
Frau Rogger betrat tödlich erschrocken Lottes Stube. »Was war denn hier los?«
»Der Dinta, der Hund!« erklärte Lotte.
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