Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
http://nemesis.marxists.org

ERSTER TEIL

I

Abends zehn Uhr fuhren die Kumpels der Nachmittagsschicht heraus. Müde in den Knochen. Die Augen entzündet von dem Flackerlicht der Lampe und dem scharfen Kohlenstaub.
Die Februarkälte ließ sie in ihren dünnen, schweißdurchnässten Lumpen erschauern. Trotzdem rannten die meisten zur »Pinnbude«, um zu sehen, wie viel Kohle aus ihrer Strebe über Tage gefördert worden war.
Über manche Gesichter huschte ein Schein Freude, wieder einmal dem Kohlengrab heil entgangen zu sein. Zwischen der überstandenen und der nächsten Förderschicht lagen sechzehn Stunden. Sechzehn Stunden den Tag zu atmen ist, mag das Leben auch noch so hundselend sein, immerhin besser als unten in der Grube.
Noch rollte und krachte es auf der Hängebank, die, niedrig, nach Wagenschmiere und dem fauligen Sumpfwasser stinkend, das von den Körben heruntergoss, von trüben Lampen erleuchtet war.
Zerfetztes Zeug an, schoben kohleverschmutzte Brückenschlepper an den Förderwagen, die sie noch entleeren mussten, bevor sie Schicht machen durften. Der Brückenaufseher, dem es nicht schnell genug ging, lärmte und fluchte hinterher. Durch die löchrigen Fenster blies stoßweise der Wind und wirbelte den Pulverstaub auf. An der Eisentreppe hatten sich ein Mittagsteiger und ein aus der Grube kommender Kumpel.
»Hau ihn!« riefen vorbeieilende Schlepper.
Das Gesicht des Steigers blähte sich vor Zorn. Man hörte: »Wenn Sie sich keine größere Mühe geben, dann bestraf ich Sic, alle!«
»Kleb ihm eins, Ignatz!« schrie jemand aus dem Förderkorb.
Ein Fahrsteiger kam laut vor sich her schimpfend in großen Sätzen heran, trieb ungeduldig die Kumpels, die dem Förderkorb entstiegen, zur Eile. Fasste einen der Hauer am Rock. »Kommen Sic mit zurück, Bruch aufräumen!«
Der Hauer zögerte.
»Los!« schrie ihn der Fahrsteiger an.
Der Förderkorb sauste mit den beiden ab. Nach wenigen Minuten schoss ein anderer Kasten aus dem gähnenden Loch, wippte schwer über dem Anschlag. »Mist!« zürnte ein Kumpel, der dem Förderkorb, triefend von Schachtdreck, entstiegen war, und soff durstig den Rest der Brühe aus seiner Blechtoite.
Balasz kroch hinter ihm heraus, schüttelte sich und wandte sich der Treppe zu, die zur Waschkaue führte.
In dem staubigen Umkleideraum drückte ihm der lange Dränger einen Packen Flugblätter in die Hände. »Eil dich, verteil sie, bevor die Kumpels weg sind!«
Die RGO hatte eigene Leute zur Betriebsrätewahl aufgestellt. Dors Reger, der bisherige Obmann, hatte es mit den Kumpels gründlich verdorben. Nicht eine Belegschaftsversammlung hatte stattgefunden, obwohl jeder die Treiberei nach Kohle übersatt hatte. Es verging nicht ein Tag, an dem nicht einer oder mehrere mit Verletzungen hinausgebracht wurden.
Balasz hatte sich unter der Brause schnell gereinigt und stellte sich an dem kleinen Pförtchen vor der Markenbude hin. Die Blätter wurden ihm förmlich aus den Händen gerissen.
Die Kumpels, die an ihm vorbeikamen, waren ausgemergelt. Ohne Blut in den Gesichtern. Ihre Bewegungen schlaff. Wie eine Schar, die aus einem Massengrab aufgestanden war. Sogar Krämer, der sich vor einem Jahr noch rühmen konnte, der Wohlgenährteste der Belegschaft zu sein, dem war der Rock zu groß geworden, und seine ehemals vollen Backen hingen ihm wie leere, schlappe Beutel herab. Seine Beine knickten beim Gehen auffallend in den Knien. Die Jagd nach Kohle in der Grube fraß auch seine strotzende Gesundheit, die er vom Lande mitgebracht hatte.
Nur noch wenige Mann kamen in größeren Abständen, nickten Balasz zu und nahmen ein Blatt.
Balasz wartete, bis der letzte den Zechenplatz verlassen hatte, steckte die erstarrten Hände in die Taschen und machte sich auf den Heimweg.
Mit beschleunigten Schritten holte er einen Trupp Kumpels ein, die sich über einen Unfall unterhielten, dem Krämer beigewohnt hatte. Ein Kohlenbrocken, der aus einer Rutsche angesaust kam, hatte dem Lader die Brust eingedrückt. Der Verunglückte war ein junger Bursche, kaum zwanzig Jahre alt, und der einzige Ernährer seiner Eltern und dreier arbeitsloser Geschwister.
»Gibt dat diesmal wat mit eurer Wahl?« fragte Krämer Balasz, der sich den Kumpels angeschlossen hatte.
»Ich denk, ja!« nickte Balasz zuversichtlich.
»Wenn euch dat Schwein nich weer 'n Strich durch die Rechnung mäkt!« Krämer meinte Böß, den Betriebsführer.
»Nicht ausgeschlossen!« sagte Balasz. »Der Alte ist scharf hinter uns her!«
»Dann passt nur god op!« brummte Krämer. »Geht die Geschichte ok diet Johr noch mol scheip, dann könn wie näkstens nur de Bux nom Pütt schicken!« Er bog in die Wirtschaft, die rechts am Eingang zur Kolonie lag. »Kommst met rin?« fragte er Balasz. Balasz ging mit hinein.
Krämer ließ sich in seine Blechtoite einen Schoppen füllen, den er, vor dem Ausschankschalter stehend, leertrank.
Kreibel schrieb an. Die Kumpels, die kein Geld hatten, tranken auf Pump. Die Wärme der Schenke regte immer neue Gespräche an...
Die Straßen der Kolonie lagen schon im Dunkeln, als Balasz nach Hause ging. Die Kumpels, die ihn schätzten und wussten, dass et: wegen seiner Gesinnung bei Böß nicht gut angeschrieben war, hatten ihn so lange aufgehalten. Jeder hatte etwas zu fragen, konnte wenigstens vor ihm seinem Herzen Luft machen.
Aus allen Gesprächen war die tiefste Verstimmung und Ratlosigkeit herauszuhören, gegen den Obmann insbesondere, der sechs Jahre lang darauf bedacht war, den Betrieb vor Erschütterungen zu bewahren, und nur dann radikal wurde, wenn es zu einer neuen Wahl an der Zeit war.
In der Franzstraße brannte noch in einer Wohnung Licht. Dort wohnte die Marie Plaschewski. Ihr Mann wurde vor einem Jahr in der Grube krank, musste feiern und wurde wegen Arbeitsmangel entlassen.
Plaschewski hatte durch Fürsprache erst vor kurzem auswärts in einer Erdarbeiterkolonne Beschäftigung bekommen.
Balasz hörte im Vorbeigehen Sprechen in der Wohnung und meinte, Maries Mann wäre heimgekommen.
»Pst!« zischte jemand aus einem gegenüberliegenden Haus.
Er blickte hin und erkannte die dicke Ragnitzki. Sie winkte ihn heran und flüsterte aufgeregt, doch froh, jemand gefunden zu haben, dem sie ihr Geheimnis mitteilen konnte: »Der Brand ist bei der Marie!«
Brand war der Wohnungsverwalter der Zeche.
Balasz sah ungläubig auf, machte eine abweisende Handbewegung und wollte weitergehen.
»Mein Gott, es is wahr, was ich Ihnen erzähl!« behauptete die Dicke eindringlich. »Er geht doch schon immer hin!«
»Faules Geschwätz!« brummte Balasz. Es war ihm peinlich, von Marie, die er seit Jugend her kannte, so etwas zu hören.
Frau Ragnitzki begann, um ihn zu überzeugen, von ihren Beobachtungen zu erzählen, da ging drüben das Licht aus. »Siehste!« zischelte sie. »Das Licht hat sie ausgedreht! Wollen Sie warten? In einer Viertelstunde ist er draußen.« Sic lachte gedämpft.
Balasz verspürte Abscheu. Er wandte sich um und schritt seiner Behausung zu.
Marie war nicht die einzige, die auf solche Art ihre Wohnung in der Kolonie zu erhalten suchte. Leider! In der Not griffen die Menschen zu jedem Mittel. Diebstahl, Totschlag, Selbstmord, Hurerei. Vor dem Umzug in die Pestbuden, die man den Ausgeräumten gab, zitterten alle.
Ein hässlicher Ausweg, dachte er. Wenn aber eine zur Dirne herabgesunken war, dann entrüsteten sich am meisten diejenigen, die ihr dazu verholfen hatten.
Balasz lag lange wach im Bett und grübelte. Die Förderschicht, die er hinter sich hatte, war schwer gewesen. Die Schrammen auf seinem Rücken und die Schnitte in seinen Händen, die fallende Kohle hineingerissen hatte, brannten. Welche Wohltat, die Augen schließen zu können!
Nebenan im Bett hörte er die tiefen Atemzüge seiner Frau. Sie nähte, stopfte und flickte den ganzen Tag. Veränderte alte, abgetragene Sachen, damit die Kleinen nicht verlumpt umherliefen. Von dem Verdienst, den er heimbrachte, konnte nichts Neues angeschafft werden.
Für die Nutznießer seiner harten Arbeit, für die Herren der Zeche, hatte er seine Jugend in der Grube begraben, hatte sich Jahre im Krieg durch wüste, blutbesudelte Schützengräben hetzen lassen, hindurch hungern müssen. Jetzt forderten sie von ihm Mehrleistung. Und immer erbärmlicher wurde der Lohn.
Morgen wieder in der Erde. Er wälzte sich und stöhnte im Schlaf, der trotz aller Müdigkeit spät zu ihm kam.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur