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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XVIII

Frau Ragnitzki schien es, sie befände sich in einem großen Grab, in dem sie langsam erstickte. Von ihrem Mund, dessen Unterlippe tief herunterhing, floss der Speichel. Ihre Augen waren leergebrannt und unverwandt nach dem Schacht gerichtet. Sie wartete auf die Ihren. Man hatte ihren Mann und Erich herausgebracht. Ein Hauer teilte es ihr mit. Sie nickte mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck. »Tot?«
»Nein, der Alte hat einen Arm und die Beine gebrochen. Erich hat Schwaden abgekriegt!«
Ihr starrer Körper bekam Leben. »Ich will sie sehen, lasst mich durch!« Sie brach sich Bahn durch die Menge. Ein Polizist versperrte ihr den weiteren Weg. »Ich will meinen Mann und meinen Jungen sehen!« schrie sie und schüttelte die Fäuste vor dem Gesicht des Polizisten.
»Es darf niemand auf den Zechenplatz!« Sie wurde zurückgedrängt.
Frau Ragnitzki begann zu jammern. Ihr Jammer übertrug sich auf die anderen. Und wieder vergingen Stunden.
Ein Wagen nach dem andern verließ verdeckt den Zechenplatz mit Verletzten, die nach den Krankenhäusern gebracht wurden. Hinter einem Wagen ging mit schweren Schritten Heinrich Renteleit.
Der Förderkorb brachte neue Ladung. Tot. Die Rettungsmannschaften lösten sich ab. Balasz war nicht darunter. Auch Dränger nicht. Sie waren noch in der Grube.
Der Nachmittag ging seinem Ende zu. Die Kolonie lag wie ausgestorben. Aus den offenen Fenstern drang der Gestank von verbranntem Essen.
In einer Wohnung jammerte eine Frau und sah stier auf die Leiche ihres verbrühten Kindes. Frau Jung. Er hockte am Fenster in der Küche und starrte unentwegt zum Schacht. Eine Frau, die ununterbrochen wimmerte, wurde von zwei anderen Frauen vorbeigeschleppt. Es war Frau Ragnitzki.
Jung sah es. Teilnahmslos. Seine Frau schluchzte, über ihr Kind gebeugt: »Du - du - warum musste das geschehen?« Das war nicht mehr die Stimme seiner kindlichen Frau. Eine fremde, müde Stimme voller Verzweiflung.
»Ach!« Jung heulte auf. »Wofür bin ich der Hölle entkommen?«
»Sei still, ich weine ja nicht mehr!« bettelte die müde Stimme. »Ich bin ja schon ruhig. Es ist nur so furchtbar, so unfassbar, ich will ja nicht mehr weinen!«
Im Nachbarhause kreischte ein Weib, auch in einem anderen Hause. Aus vielen Häusern kamen Schreie wie von Wahnsinnigen. Die Straße entlang schreit und stöhnt es. Kinder weinen, an die Röcke der Mütter gehängt. Kinder an Brüsten brechen in klägliches Weinen aus. Hin zur Zeche. Zurück von der Zeche. Hin und her, her und hin, bis die Nacht hereinbricht. In die Nacht hinein stöhnt und weint es aus den Häusern. Die Straße weint.
Mitternacht. Vor den Häusern hocken zusammengesunkene Gestalten. Mütter mit ihren Kindern. Ohne Schlaf. Leichenblasse Gesichter erheben sich aus der Starre, wenn jemand vom Schacht kommt.
»Wie weit sind sie?«
»Kann mehrere Tage dauern.«
»Wie viel sind raus?«
»Einhundert und einige mehr - alles Tote!«
Nach Mitternacht kam ein Förderkorb mit neuer Fracht herauf. Neben einem Toten hockte der lange Dränger. Der stille Kumpel, der auf der Bahre lag, war Balasz.
Balasz war bis zur dritten Rutsche vorgedrungen und hatte dort jemand um Hilfe rufen hören. Dränger und die anderen warnten. Balasz kroch in das zusammengebrochene Loch hinein. Die Rutsche hatte von den Schwaden weniger abbekommen. Der größte Teil der Kumpels drinnen war durch den Luftdruck und das stürzende Gestein getötet worden.
Er wühlte sich bis zu dem Verletzten hindurch und zerrte ihn unter dem Gestein fort. Es war ein schwerer Transport, denn der Hauer hatte Knochenbrüche und konnte sich selbst nicht helfen. Bis zum Umfallen erschöpft, kam Balasz mit ihm hervor. Es war nicht der letzte. In dem Loch ächzte noch jemand. Es musste höher sein.
Dränger versuchte, um Balasz zu schonen, hineinzukriechen. Sein Leib war zu stark, und er musste umkehren.
Balasz kroch noch einmal hinein. Sein schmaler Körper erlaubte es, dass er tiefer hineinkriechen konnte. Das Ächzen erscholl höher, je weiter er in den Bruch hineinkroch. Dränger warnte. Balasz hörte nicht auf die Warnung, vor ihm bettelte ein Schwerverletzter um Hilfe. Er schob sich vorwärts.
Über ihm knackte der Stein. Dreck rieselte herunter. Balasz wäre gern umgekehrt, der Verletzte vor ihm begann angesichts der nahenden Lampe zu jammern: »Hier, Kumpel, hierher.«
Dränger hörte es. Er hörte aber auch das Brechen des Gesteins. »Komm zurück!« schrie er in das Loch hinein.
Balasz hörte den sich lösenden Stein und begann zurückzukriechen. Einige Meter vor den Kumpels, die ihn voll Angst erwarteten, brach der Stein durch und begrub ihn.
Es war die bitterste Arbeit, die Dränger beim Bergen seines Freundes verrichten musste.
Nun hockte er auf dem Förderkorb und brachte den toten Kumpel hinaus.
Balasz wurde neben die vielen andern Toten in der großen Waschkaue gebettet. Dort herrschte Grabesstille. Ein großer Teil der Toten lag bis übers Gesicht vermummt; das waren die Verbrannten. Es roch entsetzlich.
Lange weiße Bündel lagen zwischen denen, die noch ihre Grubenkleidung anhatten; das waren die Zusammengeflickten.
Um zwei Uhr nachts lagen einhundertneununddreißig Leichen nebeneinandergereiht; zwei Drittel davon verbrannt.
Nur Berufene hatten Zutritt. Betriebsführer Böß wurde kreideweiß, sobald er in den Raum musste. Und er musste es oft; denn es kamen hohen Besuche und wollten die Leichen sehen. Er war froh, wenn er aus der Waschkaue war.
»Denen könn Sie kein Gedinge mehr kürzen!« hatte ihm jemand zugerufen, als er einmal aus der Waschkaue kam. Er tat so, als ob er es nicht gehört hätte.

Das Knappschaftskrankenhaus lag mitten in der Stadt. Im Zentrum von mehr als zwanzig Schachtanlagen, die dorthin ihre Kranken und die im Pütt Verunglückten brachten.
Jaschinski hatte seine Lungenentzündung überstanden und durfte, noch sehr erschöpft, jeden Tag einige Stunden aufstehen. Auf seinem Zimmer lag ein Hauer von einer Nachbarzeche namens Brauneisen, der wegen Steinstaublunge feierte.
Brauneisen führte Jaschinski auf seinen Spaziergängen im Krankenhaus umher und zeigte ihm die verschiedenen Säle und Stuben, die voll gazebepackter Menschen lagen.
In einem Zimmer fand Jaschinski einen Kumpel aus seiner Rutsche, den Gartmann. Gartmann hatte Jaschinski zuerst erkannt und angerufen, als dieser seinen Kopf zur Tür hineinsteckte.
»Fritz, komm näher. Was machst du denn hier?« rief Gartmann mit gepresster Stimme und winkte ihn heran. Jaschinski erschrak vor dem mageren Gesicht, das weiß war wie der Verband, mit dem der Kopf umwickelt war.
»Mensch, Gartmann, wie kommst du denn hierher?« fragte er bestürzt.
»Du siehst es«, ächzte Gartmann und verzog sein Gesicht im Schmerz, »einen Bruch hat's gegeben. Beide Beine haben sie mir abgesägt!«
»Beide Beine, das ist schrecklich!« entsetzte sich Jaschinski.
»Nicht wahr?« Gartmann richtete sich auf den Ellenbogen empor und sah Jaschinski mit fiebrigen Augen an. »Du sagst es richtig, das ist schrecklich, Kumpel, ich bin erst dreißig; beide Beine ab, das ist nicht nur schrecklich, es ist Wahnsinn!«
Gartmann steigerte seine Stimme und schrie: »Das ist der Irrsinn, den man mit uns vor Kohle treibt. Ich bin ja nur noch ein halber Mensch, Jaschinski, ein erbärmlicher Krüppel!«
Jaschinskis Kehle quoll zu. Es ging ihm kalt und siedeheiß durch den Leib.
»Siehste«, fuhr Gartmann fort, »so geht es, immer lag einer hinterm Rücken, hat getrieben und getrieben. Kohle raus. Ausbauen - kein Gedanke, bis du drunter liegst. Der Tod wäre mir lieber. Was tu ich nun mit den Stumpen, die mir geblieben sind? Hätte mich der Stein erschlagen, wäre ich besser dran. Wie ein Säugling, so hilflos bin ich jetzt.«
Gartmann erschütterte ein Schluchzen. Jaschinski stand vor dem Bett, noch ratloser als Gartmann.
Aus einem Nachbarbett erhob sich ein Knabengesicht, das so klein war, dass es Jaschinski mit einer Hand zudecken konnte. »Und mir haben sie hier den Arm abgesägt, schau her, Kumpel!« Der Knabe hielt Jaschinski einen bewickelten Armstumpen entgegen. »Ich hab ihn mir zwischen Wagen viermal gebrochen. Nun soll ich noch mal dran, denn die Wunde heilt nicht und eitert!«
»Sei doch froh, dass du nicht so dran bist wie ich!« quäkte ein schwarzstoppliges Gesicht aus einem dritten Bett. Zwei glühende Augen wandten sich Jaschinski zu. »Ich hab Wirbelsäulenbruch«, erzählte der Mann mit schwacher Stimme, »bleibe gelähmt, sagt der Arzt. Ich soll mich damit abfinden« - ein kurzes verzweifeltes Lachen -, »abfinden, mit achtundzwanzig Jahren, wenn man nicht leben noch krepieren kann! Alles geht unter mich, ich lieg im eigenen Dreck und kann's vor Gestank nicht aushalten! Betteln muss ich, dass man mich reinigt!«
Jaschinski schluckte und fand keine Worte. Er hätte so gern etwas Tröstendes gesagt. Es erschien ihm lächerlich, denn aus einem vierten Bett kam ein Stoßhusten und ein grässlicher Fluch. »Was erzählt ihr ihm denn alles?« schrie ein wutverzerrtes Gesicht, das nur Haut und Knochen war. »Jedem erzählt ihr immer dasselbe. Es kotzt mich schon an!«
Jaschinski entwand seine Hand der des Gartmann. »Ich komm ein andermal«, sagte er und lief wie gejagt hinaus. Er roch noch immer den faulen Kotgeruch des Zimmers, das er
verlassen hatte.
Brauneisen kam die Treppe herunter und schnaufte ohne Atem: »Komm schnell raus, auf Zeche »Hoffnung« sind schlagende Wetter ausgebrochen. Man bringt Verbrannte.«
Er zerrte Jaschinski ins Freie. Ein Sanitätswagen war vorgefahren. Tragbahren wurden von dem Wagen abgeladen. Ein paar völlig verhüllte Körper wanden sich darauf. Wieder das furchtbare Ächzen, das Jaschinski bei Gartmann so erschüttert hatte. Der Wagen war noch nicht abgeladen, ein zweiter rollte vor das Krankenhaus. Tragbahren mit Kumpels, wieder verhüllt. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Einer der Kumpels hatte sich während des Transportes losgewickelt. Das Gesicht war nur rohes Fleisch, in dem die Augen wie ein paar Glaskügelchen zitterten.
Die Verbrannten wurden sofort in das Operationszimmer getragen. Ärzte und Krankenschwestern alarmiert. Der Aufzug, der die Stockwerke miteinander verband, ging ununterbrochen wie der Förderkorb im Schacht.
Zimmer sechzehn, in dem Jaschinski lag, bekam vier frische Betten, die mit Kumpels von Zeche »Hoffnung« belegt wurden. Ihre Köpfe und Gesichter waren bis an die Nasenspitze in Verbänden eingepackt.
Unten vor dem Portal fuhren immer wieder Wagen vor.
Brauneisen, der zusah, wandte sich an Jaschinski. »Das, was wir bisher erlebt haben, das war wüst; aber was da herauskommt, das ist wie nach einer Schlacht!«
Im Operationszimmer ging es zu wie auf einem Verbandplatz während einer Offensive im Kriege. Es wurde geschnitten und genäht, verbunden und geschleppt. Tragbahre um Tragbahre, immerzu, immerzu, bis die Nacht kam. Aber die Nacht minderte die Qualen nicht. Gellendes Schreien und Jammern erscholl in allen Räumen.
Jaschinski lag, sein Gesicht in die Kissen vergraben, und hielt sich die Ohren zu. Er fieberte vor Aufregung. Schlief ermüdet ein. Schreckliche Träume rissen ihn aus dem Schlaf. Dann hörte er wieder das Winseln der Kumpels.

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