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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXIV

Die andere Schicht musste Jaschinski wieder klettern, weil alle den alten Weg über den zweiten Bremsberg scheuten, der nach der Katastrophe stillgelegt worden war.
Die jungen Leute, die hinter ihm kletterten, trieben ihn, weil ihm jeden Augenblick die Luft ausging und er mitten auf den Fahrten verschnaufen musste.
Er kletterte beiseite, ließ die Eiligen vorüber und kam mit den letzten oben in der Förderschale an.
Der Steiger hatte Wort gehalten, Jaschinski bekam keinen zweiten Mann hinzu.
Die Wühlerei begann wie bei der ersten Schicht. Die durchgeriebenen Hände mussten sich erst wieder an die schwere Schippe gewöhnen. Nach einer Stunde war Jaschinski so in Schweiß, als ob man ihn mit Wasser begossen hätte. Die Rutsche wälzte unaufhörlich Steine herunter. Er schippte immer- und immerzu. Staub verklebte ihm Augen und Kehle. Der Steinhaufen lief immer größer an, behinderte die Rutsche, die zu holpern begann und aussetzte.
Sofort wurde oben an der Kippe in der Strecke ungeduldig geklopft. Jaschinski quälte sich mit den Steinen und zerstieß sich in der Eile die Ellenbogen am Gestein, bis ihm das Blut herunterfloss. Das Klopfen oben wurde hartnäckiger, hielt so lange an, bis die Rutsche wieder in Gang war.
Nach zehn Minuten lag wieder ein großer Haufen Steine vor dem Trichter.
»Gottverdammich!« fluchte Jaschinski verzweifelt.
Rrrammm - rrrammm - rrramm schrillte die Rutsche, dass Jaschinski der Kopf zu platzen drohte, bäumte sich wie ein Riesenwurm oberhalb des Trichters und schlug gegen das mürbe hangende Gestein, bis das ganze Rutschfeld zu Bruch zu gehen schien. Die Rutsche wurde stillgelegt, bis Jaschinski die Steine fortgeworfen hatte. Er holte ein wenig Atem, hatte das Empfinden, als verbrenne er innerlich.
Schrapp - schrapp - schrapp rappelte die Rutsche von neuem los.
Jaschinski warf einen flüchtigen Blick auf die Taschenuhr, die er auf einem Holz hängen hatte. Es war erst vier Uhr nachmittags. Er hatte noch fünf Stunden zu schippen. Sein Leib klebte voll ekelhaftem Brei, seine Zunge war vor Durst geschwollen. Die Augen brannten vom Schweiß, der ihm von der Stirn hineinlief. Die Haut an den Händen riss. Das rohe Fleisch brannte.
Rrammm - rrrammm schrammte schon wieder die Rutsche.
Bamm - bamm schlug sie gegen das Hangende, bis das ganze Gestein erschauerte, und die Hölzer herum zerbrachen.
Jaschinski hockte allein, zum Sterben ermüdet, in der kreischenden und dröhnenden Staubhölle und wünschte sich, er wäre im Krankenhaus krepiert. Er verfluchte den Arzt, der ihn für die rasende Schufterei gesund geschrieben hatte. Das half ihm jedoch alles nichts, die Rutsche wälzte Steine herunter, und er musste, wie ein Hund mit hängender Zunge, schippen, schippen und nochmals schippen.
Er nahm immer weniger Steine auf die Schaufel; denn sie wurde für ihn schwerer und schwerer. Der Lärm der Rutsche machte ihn verrückt. Hielt die Rutsche, rauschte und schrillte es in seinem Schädel weiter fort.
Die zweite Schicht war zu Ende. Als Jaschinski aus der Rutsche herausgekrochen kam, waren die Kumpels schon vorausgegangen. Er zog sich an und stolperte hinter ihnen her. Beim Laufen ergriff ihn ein Schwindel. Er musste sich hinsetzen.
Am Blindschacht sah er die Lampen der Kumpels in den Fahrten verschwinden.
»He, Kumpels, wartet doch!« rief er.
Sie hörten ihn noch und riefen zurück. »Komm, beeil dich!«
Jaschinski begab sich auf die Fahrten. Die Knie knickten unter der Last seines Körpers ein.
In seinem Kopf strudelte es. Er klammerte sich erschreckt an die Sprossen. Die Schwärze vor seinen Augen wurde
Feuer. Beim Tieferklettern empfand er, als ob sich die Sprossen unter seinen Füßen fortbewegten.
»He! Kumpels!« begann er zu schreien.
Die Kumpels waren schon unten auf der neunten Sohle. Dumpf und undeutlich vernahm er ihre Stimmen. Er kletterte vorsichtig weiter. Auf der vierten Fährte versagten ihm die Knie. Er hing, die Brust von Angst zusammengeschnürt. Alles begann um ihn zu kreisen. Oben erschienen einige Lichter, Kumpels eines anderen Kohlenbetriebes, Jaschinski hörte sie, wollte nachpacken - griff mit den Händen neben die Sprossen, überschlug sich und sauste hinunter. Er schlug auf eine Eisenbühne auf.

Der Arzt hatte bei der Untersuchung der Leiche Herzschlag festgestellt. Die Ursache dazu wäre Herzfehler älteren Ursprungs gewesen, meinte er.
Frau Jaschinski hatte den Arzt verächtlich angesehen. »Ihr seid alle gleich!« sagte sie.
Die folgenden Tage waren wie Steine, die hart auf sie herab schlugen. Aber sie weinte nicht. Hart und grob wurden ihre Worte. Sie begab sich zu Böß hin. Der wurde sehr unruhig, als sie sein Büro betrat.
»Was wünschen Sie?« fragte er.
»Sie haben meinen Mann in den Tod getrieben. Sie sind ein Mörder!« rief sie. »Das wollte ich Ihnen sagen!«
Böß sprang empört auf. »Verlassen Sie sofort das Büro!« »Ich bin ohne Brot!« kreischte sie.
»Sie bekommen Rente. Gehen Sie, ich habe keine Zeit!« entgegnete Böß.
Frau Jaschinski schrie: »Das weiß ich, für uns habt ihr keine Zeit mehr, wenn ihr unsere Männer zugrunde gerichtet habt!«
Böß fasste sie am Arm und schob sie zur Türe hin. Da verkrallten sich ihre Hände in seinen Hals und würgten ihn. Er riss sich gewaltsam los und stieß sie zur Tür hinaus.
Jetzt saß sie jeden Tag an ihrem Fenster, wenn die Männer von der Schicht kamen. Wenn sie Böß sah, zitterte sie vor Hass. Sie überlegte, wie sie ihn am empfindlichsten kränken oder verletzen könnte. Sie hatte schon daran gedacht, einem seiner Kinder, die unweit vor ihrem Hause spielten, ein Leid zuzufügen, es zu erwürgen oder ihm sonst etwas anzutun. So tief wurzelte in ihr der Hass gegen diesen Mann.

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