Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
http://nemesis.marxists.org

ZWEITER TEIL

XXII

An einem Abend war der Pfarrer zu den Kranken gekommen und hörte einige, die nicht aufstehen konnten, flüsternd ab.
»Sie beichten doch auch?« fragte die Schwester den Jaschinski, und als er zusagte, um die Schwester nicht zu verärgern, schrieb sie in die untere Ecke seiner Tafel ein kleines »b«. Das bedeutete für den Pfarrer, dass Jaschinski beichten wollte.
Brauneisen lehnte es ab. Er musste während des Abhörens der anderen das Zimmer verlassen.
Im Korridor näherte sich die Schwester dem Brauneisen. Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Sagen Sie mal, Brauneisen, warum wollen Sie nicht beichten?« fragte sie.
»Wat soll eck denn? Eck hew keene Sünden!« erwiderte Brauneisen.
»Sie lästern!« sagte die Schwester erzürnt.
»Seggen Se dem Pfarrer, he soll de Dicken abhören, de hebben 'n ganzen Sack voll Gemeinheiten binnen!« sagte Brauneisen grob und setzte seinen Spaziergang fort.
Jaschinski war von der Beichte nicht befriedigt. Er hätte es dem Pfarrer gern so erzählt, wie er es gewöhnt war, dem Brauneisen zu erzählen, zumal ihn seine Frau mit der Nachricht, dass man die Küche fortgeholt, noch mehr niedergeschmettert hatte. Er antwortete dem Pfarrer auf die ihm gestellten Fragen das, was er seit dreißig Jahren so einem Geistlichen her geflüstert hatte.
Brauneisen, den er wegen seines Spotts fürchtete, ließ Jaschinski in Ruhe. Jaschinski hatte aber das Bedürfnis, sich vor dem älteren Kumpel, der über alles so genau Bescheid wusste, zu entschuldigen. »Mensch«, sagte er, »ich bin so froh, dass die Geschichte vorbei ist. Ich wusste nicht, was ich dem Pfarrer sagen sollte!«
»Sollst ehm gesagt hebben, dat he im Pütt anfangen soll. Dann löt he uns schon in Ruh!«
Jaschinski nickte mit unsicherem Lächeln. »Das hätt ich ihm sagen sollen!«
»Man sucht uns nach Sünden ab, wie man früher im Schützengraben een Hemd nach Läusen abgesucht hat!« meinte Brauneisen, so dass es alle im Zimmer hören konnten, auch die Schwester, die hereinkam. »Dat se uns halb krepierte Proleten danach absuchen, dat is mehr wie Sünde!«
Die Schwester hörte es voll Entsetzen. Sie rief den Jaschinski heraus. »Jaschinski, ich bitte Sie, unterhalten Sie sich nicht mehr mit dem Mann!« bat sie. »Tun Sie mir den Gefallen, alles, was er sagt, ist gottlos und Frevel!«
Jaschinski versprach es ihr, sich mit Brauneisen nicht mehr in ein Gespräch einzulassen. Als die Schwester fort war, wurde er wütend. Er kam sich vor wie in einem Karussell. Nicht ein einziges Mal behauptete er eine eigene Meinung. Die anderen hatten ihre Meinung, verteidigten sie mit aller Entschiedenheit, zerrten an ihm herum - und er stand da, entschuldigte sich vor jedem, musste sich allen unterordnen, denn er besaß ja keine eigene Meinung. Nun durfte er nicht mit dem Kumpel sprechen, den er seinen einzigen Freund nannte. Brauneisen hatte bisher das beste Verständnis für seine Not gezeigt. Jaschinski fühlte sich recht unglücklich.
Er lag auf seinem Bett und döste vor sich hin. Brauneisen kam und setzte sich auf einen Stuhl neben ihm. Er sprach ihn an. Jaschinski erschrak und schämte sich.
»Was ist mit dir los, Fritz?« fragte Brauneisen.
Jaschinski hätte es ihm um nichts in der Welt sagen können, dass er mit ihm nicht sprechen durfte.
Brauneisen sah ihn besorgt an. »Fühlst dich nicht gut?« »Ich möcht hier gern raus!« seufzte Jaschinski. »Mann, im Pütt geht's wieder ran, auf Deuwel komm raus!« sagte Brauneisen.
»Ich möcht hier aber trotzdem raus!« sagte Jaschinski niedergedrückt.
»Du bist 'n Kerl!« sagte Brauneisen. »Es geht dir wie einem Hasen, der nicht ein noch aus weiß.« »So ist es!« nickte Jaschinski.
»Mann, so fang doch endlich an, härter zu werden!« Brauneisen wurde ärgerlich. »Du kommst mir wie ein Klumpen Lehm vor, den jeder nach Belieben drückt und knetet!«
Jaschinski richtete sich auf. »So ist es. Seit Jahren schon. Die Menschen machen mit mir, was sie wollen!«
»Gottverdammich, dann wehr dich doch!« brauste Brauneisen auf. »Wenn du dich nicht wehrst, wirst du aufgefressen! Denkst du denn überhaupt nicht?«
»Ich denke wohl, aber ich kann nicht mit, wenn die anderen mit ihren Redensarten kommen. Der Dränger hat recht, die Schwester will recht haben, du hast recht - ich weiß wirklich nicht!« Jaschinski machte eine Gebärde der Hilfslosigkeit und vergrub wieder seinen Kopf in dem Bett.
»Organisier dich, so bist du nicht allein. Allein macht man dich zu einem Hund!« sprach Brauneisen eindringlich.
Jaschinski atmete schwer und wagte nicht aufzuschauen. »Ich möcht hier fort!« sagte er dumpf.
»Wohin?« fragte Brauneisen.
Das wusste Jaschinski nicht. Das war das Hindernis, gegen das er immer anrannte, bis er nicht mehr konnte.
Einige Tage später kam der Chefarzt. Er musterte die Insassen des Zimmers, ließ die Genesenden die Hemden ausziehen, horchte auf der Brust, klopfte auf dem Rücken und gab der Schwester Notizen. Zu einigen Kranken sagte er: »Na, ich glaube, es wird schon wieder gehen, nicht wahr?«
Das sagte er auch zu Jaschinski, den er ebenso untersuchte.
Jaschinski sah ihn ängstlich an, er hatte nicht recht verstanden.
»Ich meine, Sie können noch einige Tage zu Hause feiern, und dann wird's wohl wieder gehen!« wiederholte der Chefarzt.
»Ja« nickte Jaschinski, von dem freundlichen Ton des Arztes beeinflusst. Es war ihm eingefallen, dass er zu Hause mehr Krankengeld bekam. Die Hälfte des ihm zuständigen Geldes hatte bisher die Krankenanstalt für seine Pflege eingezogen.
Als der Chefarzt fort war, meinte Brauneisen zu Jaschinski: »Weißt du, das tun sie wegen der Überfüllung. Sie wissen nicht mehr, wo sie mit den verkröppten Kumpels hin sollen. Die Förderung macht sich!«

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur